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Fallpräsentation: Surgically Facilitated Orthodontics
Dr. med. dent. Barbara Jaeger Fachzahnärztin für Kieferorthopädie Zürich
Abb. 1
Ziel jeder kieferorthopädischen Behandlung ist das Erreichen eines kaufunktionellen Optimums. Kiefergelenke, Kaumuskulatur, Okklusion und Parodont bilden zusammen eine Einheit und sollten in einem Gleichgewicht stehen. Gleichzeitig ist gewünscht, dass mit der Behandlung eine optimale Aesthetik erreicht wird. Letztendlich muss aber die Behandlung in einem langfristig stabilen Resultat enden.
Bei kieferorthopädischen Behandlungen von Erwachsenen begegnen wir immer wieder biologischen Grenzen, die eine Behandlung erschweren oder sogar als unmöglich erscheinen lassen. Das Alveolarfach beherbergt die Zahnwurzel und gibt v.a. in der UKFront eine klare Begrenzung. Aus anatomischen Gründen kann der Alveolarfortsatz unterschiedlich geformt sein. Insbesondere schmale Kieferknochenspangen mit dünner bukkaler Knochenbedeckung und dünner gingivaler Schleimhautbedeckung schränken die Möglichkeiten der Zahnbewegung ein. Nicht selten stellen sich erwachsene Patient*innen bereits mit einzelnen oder generalisierten Rezessionen vor. Werden solchen anatomischen und strukturellen Begebenheiten zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, kann eine KOBehandlung weitere Rezessionen provozieren – das Behandlungsresultat endet dann in einer biologisch schlechteren Situation. Wie ist es möglich, einen Behandlungswunsch bei einer parodontal komplexen Ausgangslage zu erfüllen, ohne das Parodont (weiter) zu kompromittieren? Diese Frage hat mich immer mehr interessiert. Schon vor vielen Jahren wurde von den Gebrüder Wilcko (ein Parodontologe und ein Kieferorthopäde) ein Verfahren zur Beschleunigung der Zahnbewegung entwickelt, dieses wurde in der Folge «WilckoDontics» genannt. Diese Methode ist sehr invasiv. Es werden grosszügige Lappen bukkal und oral bis apikal der Zahnwurzeln präpariert und der Alveolarfortsatz mit Rosenbohrern perforiert. Der Knochen wird mit BioOss überdeckt, der Lappen adaptiert und zugenäht. Nicht selten kommt es bei dieser Methode zu postoperativen Blutungen, Hämatomen, Sensibilitätsstörungen oder sogar Nekrosen. Vor einigen Jahren habe ich an einem KOParoKongress in Amerika erstmals von der «Piezocision» gehört und war total fasziniert. Es liess mir in der Folge keine Ruhe, bis ich zusammen mit meinem parodontal und prothetisch tätigen Kollegen Dr. Michael Kyburz diese Technik in Boston genauer kennenlernen konnte. Mittlerweile haben wir ausgiebig eigene Erfahrungen gesammelt und die Methode für uns weiterentwickelt.
Ausgangslage (Abb. 1-5) Diese knapp 40jährige Patientin hat einen deutlichen Engstand in beiden Kiefern (OK 5mm, UK 6mm) mit vielen Rotationen; die
Abb. 2



parodontalen Verhältnisse müssen für eine kieferorthopädische Behandlung als kritisch beurteilt werden; die Gingiva ist sehr dünn, an vielen Stellen hat es beginnende Rezessionen. Insbesondere bei 11/21, 23 und 43/42 sind bereits deutliche Rezessionen vorhanden. Die Rotation von Zähnen wie hier 23/32, die bereits eine Rezession aufweisen ist extrem heikel. Die Gefahr, dass der Zahn zwar besser steht, die Rezession aber grösser wird, ist recht hoch. Planungstechnisch muss diese Problematik zwingend ohne Extraktionen im Oberkiefer gelöst werden, da sonst das äusserst hübsche Profil durch die Zahnbogenverkürzung abgeflacht und negativ beeinträchtigt würde. Nach der Erarbeitung des kieferorthopädischen Konzeptes wird der Fall interdisziplinär angegangen. Das DVT gibt uns genügend gute Informationen über die bukkale Knochenbedeckung, um festlegen zu können, wo in Berücksichtigung der gewünschten Zahnbewegung die CorticalisCuts gelegt werden müssen. Während des Eingriffs können die Rezessionen mit Bindegewebsgrafts gedeckt werden. Genauso kann auch die knöcherne Ausgangslage mit ossärer Augmentation optimiert werden, sofern die Planung vorsieht, dass die Zähne weiter nach bukkal geschoben werden müssen.

Nach interdentaler Schmelzreduktion und Einsetzen der Apparaturen (Abb.6-8) Vor dem Eingriff werden die festsitzenden Apparaturen eingesetzt und die approximale Schmelzreduktion, wo anatomisch korrekt möglich, wird durchgeführt. Man kann gut erkennen, wie die Prämolaren im OK in der Breite reduziert worden sind, um Platz für die Zahnbewegung zu generieren. Im Oberkiefer wünscht die Patientin eine unsichtbare palatinalseitige Spange (Lingualtechnik). Wegen Platzmangel können die beiden Brackets für 12 und 23 noch nicht platziert werden. Zahn 42 hat kein Bracket, da er während des PiezoEingriffs gemäss der Planung entfernt wird. Während des Eingriffes wird die bukkale Corticalis mit einem piezoelektrischen Gerät ca. 3mm tief geritzt, wodurch eine von einem Antibiotikum begleitete sterile Entzündung ausgelöst wird. Diese provozierte «Verletzung» führt in der Folge zu einem physiologischen Heilungsprozess, mit grossen Umbauprozessen im Knochen. Die Knochendichte sinkt, die Zähne werden stark beweglich und lassen sich sehr rasch in die gewünschte Position bewegen. Bis zur Remineralisation des Knochens hat man ein Zeitfenster von 4max. 6 Monaten lang Zeit, um die Zähne maximal zu bewegen.
Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6
Abb. 7

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Abb. 9
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11 Wochen postoperativ (Abb. 12-14) 11 Wochen nach dem Eingriff sind bis auf 12 (zu diesem Zeitpunkt kann das Bracket korrekt platziert werden) praktisch alle Rotationen auskorrigiert, die Lücke in der UKFront schliesst sich. Die kieferorthopädische Behandlung läuft gemäss Planung, wie bei jedem anderen konventionell gelösten Fall – ausser, dass die Patientin alle 2 Wochen für den Bogenwechsel in die Praxis kommen muss, um das Zeitfenster der erhöhten Zahnbeweglichkeit maximal nützen zu können.
Abb. 12
1 Woche postoperativ (Abb. 9-11) Zusätzlich zur interdentalen Piezocision zwischen 14 distal bis 24 distal und im Unterkiefer zwischen 34 distal und 44 distal hat Zahn 21 ein Bindegewebsgraft erhalten, in der UKFront wurde knochenaugmentiert, beides unter Sicht mit Lappenbildung. Anstelle des extrahierten 42 wurde eine Facette an den Nachbarzahn geklebt, damit die Lücke optisch weniger auffällt. Bis zur Fadenentfernung nach ca. 10 Tagen wird die Mundhygiene mit einer Chlorhexidinspülung unterstützt. Die Heilung verläuft problemlos, die Patientin hat kaum Schmerzen.
Abb. 13
Abb. 14


Dokumentation bei Spangenentfernung Abb 15-17) Nach 11 Monaten kann die aktive Behandlung abgeschlossen werden und standardmässig werden in der Oberkiefer und Unterkieferfront Retainer zur Sicherung des Endresultates eingesetzt. Als allererstes fallen in der Frontalansicht die doch sehr unschönen Black Triangles zwischen den unteren Frontzähnen auf. Im Falle von dreieckigen Zahnkronenformen fällt dies besonders auf. Bei erwachsenen Patienten mit einer Engstandsituation in der UKFront lässt sich dies kaum vermeiden, ausser man würde sehr viel interdentalen Schmelz zusätzlich reduzieren, was aber in diesem Fall nicht erwünscht bzw. vorgesehen war. Zum zweiten ist zu bemerken, dass die Rezessionsdeckung bei 21 ein voller Erfolg war. Die Gingiva zeigt sich insgesamt sehr stabil, es sind keine weiteren Rezessionen entstanden.

Abb. 18-20 Zu guter Letzt hat der Prothetiker in der UKFront Veneers eingesetzt, sodass die grossen Interdentaldreiecke cachiert werden.

Abb. 18
Abb. 19

Abb. 20 Abb. 16

Insgesamt bietet mir die minimalinvasive chirurgische Unterstützung in vielen Fällen einen grossen Vorteil zur Behandlung von komplexen kieferorthopädischen Ausgangslagen bei Erwachsenen. Nicht nur, dass Grenzfälle mit grosser Sicherheit beherrscht werden können, auch die deutlich kürzere Behandlungszeit, die durch die Erleichterung der Zahnbewegung ermöglicht wird, wird von den Patienten sehr geschätzt.
Abb. 17
Die Autorin
Dr. Barbara Jaeger 1984 Diplom DHSchule Zürich 1987 – 1992 Studium der Zahnmedizin Universität Zürich 1992 Staatsexamen Zahnmedizin Universität Zürich 1993 – 1999 Zahnarztassistentin an der DentalhygieneSchule Zürich 1999 – 2002 Postgraduateausbildung in Kieferorthopädie an der Klinik für Kieferorthopädie und Kinderzahnmedizin unter Prof. Dr. P. Stöckli 2002 – 2003 Oberassistentin an der Klinik für Kieferorthopädie und Kinderzahnmedizin der Universität Zürich Ab Okt. 2003 Praxisgemeinschaft mit Dr. P. Clavadetscher 2004 Facharzttitel «Fachzahnärztin für Kieferorthopädie CH» gemäss den Richtlinien der SGK/SSO 2004 – 2020 Beratende Tätigkeit in Kieferorthopädie für den schulzahnärztlichen Dienst der Stadt Zürich 2006 – Beratende Tätigkeit in Kieferorthopädie für Fürsorge und Sozialbehörden des Kantons Zürich 2009 – 2013 Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Kieferorthopädie SGK 2015 – Präsidentin der Swiss Lingual Orthodontic Association (SLOA), Schweizerische Gesellschaft für Lingualtechnik 2020 – Mitglied der Ethikkommission des Kantons Zürich
Korrespondenzadresse: Dr. Barbara Jaeger Fachzahnärztin für Kieferorthopädie Drahtzugstr. 18, 8008 Zürich www.fastteeth.ch