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Polytrauma
In den Anfangsjahren der Kranken- und Unfalltransporte meines Vaters gab es in meiner Heimat immer wieder schwere Unfälle mit zum Teil mehreren Verletzten. Medizinische Hilfe gab es nicht. An oberster Stelle standen eine sorgfältige Bergung am Unfallplatz und ein rascher Transport ins Spital. Ich durfte ab dem neunten Schuljahr dringliche Fahrten begleiten und kam dadurch früh mit Schwerstverletzten in Berührung. Während einer meiner ersten Nächte, in der ich mit Vater Dienst machen durfte, wurden wir zu einem Verkehrsunfall auf der langen Gerade neben dem Flugplatz im luzernischen Beromünster gerufen. Ein in der Region bekannter Motorradfahrer war mit hoher Geschwindigkeit frontal mit einem Auto kollidiert. Der Aufprall war so heftig gewesen, dass beide Beine sich oberhalb der Frontscheibe in das Dach eingedrückt hatten. Der Kopf, zum Glück mit einem Helm geschützt, hatte eine Delle in das Autodach gedrückt. Ohne Helm hätte der junge Mann wahrscheinlich nicht überlebt. Er war bei Bewusstsein und hatte sehr starke Schmerzen, insbesondere an beiden zertrümmerten Beinen. Wir konnten damals nicht mehr machen, als den Unglücklichen einfach auf die Bahre zu legen und anzuschnallen. Ausser der Bahre und einer Decke war nichts vorhanden. Das schmerzverzerrte Gesicht sehe ich heute noch ab und zu vor mir. Wir transportierten den Mann ins Kantonsspital Luzern, wo wir ihn abgeben wollten. Das konnten wir erst tun, nachdem Vater an der Pforte geklingelt und uns der Nachtpförtner Einlass gewährt hatte. Ohne Voranmeldung, ohne erwartet zu werden, ohne Schockraum samt zugehörigem Personal wurden wir von einer Krankenschwester in ein Zimmer geführt, wo wir unseren Patienten auf eine Liege umbetten konnten. Wir sagten der Schwester, was wir wussten und wie viel Zeit seit dem Unfall bereits vergangen war. Ein medizinischer schriftlicher Rapport über unsere Handlungen war noch nicht möglich. Erst jetzt wurden intern zusätzliches Personal und ein Arzt mobilisiert. Einige Monate später erfuhren wir durch Angehörige, dass sich der Motorradfahrer nach langer Zeit gut erholt hatte und wieder einigermassen laufen konnte. Ein ähnlicher Unfall ereignete sich bei der Grastrocknungsanlage zwischen Menziken und Beromünster. Diese kurvige und zum Schnellfahren verleitende Strecke bescherte uns des Öfteren schwere Kollisionen, meistens nachts. Bei einer diesen Frontalkollisionen waren mehrere junge Menschen beteiligt. Teilweise wurden sie beim Aufprall schwer verletzt und eingeklemmt. Eine Bergung eingeklemmter Menschen war nur mit sehr grosser Verzögerung möglich, da Spezialgeräte nicht so schnell verfügbar
waren und aus der nächstgelegenen Kantonshauptstadt angefordert werden mussten. Handy und Funkgeräte standen uns nicht zur Verfügung. Die Überlebenden, die wir befreien konnten, wurden einzeln ins Bezirksspital Menziken transportiert, dort im Untergeschoss auf einen vorhandenen Röntgentisch gelegt und einer Krankenschwester übergeben. Diese hat den Patienten übernommen und Personal von zu Hause aufgeboten. Drei junge Menschen verloren bei diesem Unfall ihr Leben. Beide Autos hatten sich nach einem Besuch einer Disco auf dem Heimweg befunden. Solche Unfälle, damals wie heute, bedeuten stets eine sehr grosse psychische Belastung für alle am Einsatz beteiligten Retter. Wir hatten ein schönes Zuhause und konnten über vieles gemeinsam reden. Vater hat immer versucht, mit uns über solche Erlebnisse offen zu sprechen. Diese gemeinsamen Besprechungen habe ich in all den Jahren stets beibehalten, lange bevor CareTeams ins Leben gerufen wurden. Der Krankenwagen meines Vaters war auch für das aargauische Seetal zuständig. Die Zugstrecke zwischen Lenzburg und Luzern war dafür bekannt, dass sie die meisten ungesicherten Bahnüberquerungen besass. Entsprechend oft hat es immer wieder Unfälle mit der Seetalbahn gegeben. Vielen Verunglückten konnte geholfen werden, sie erreichten das Spital lebend. Einigen konnte ohne medizinische Hilfsmöglichkeiten vor Ort nicht geholfen werden. Dasselbe galt auch für die Wynentalbahn, die Menziken mit Aarau verbindet und damals zu einem grossen Streckenteil auf der normalen Hauptstrasse fuhr. Als Kind hatte ich ebenfalls unangenehmen Kontakt mit dieser Bahn, da ich mit meinem Velo mit dem Vorderrad in die im Boden eingelegten Schienen geriet und es dadurch zu einem Sturz kam. Das tat zwar weh, führte aber zu keinen grösseren Verletzungen. Bei dieser Strassenbahn waren Kollisionen mit Motorrädern nicht selten und führten ohne Helm zu schwersten Kopfverletzungen. Vater fuhr die Verletzten nach Zürich in das nächstgelegene neurochirurgische Zentrum. Solche Transporte durfte ich mit zwölf Jahren als sogenannter «Bediener der Sirene» begleiten. Das ist einer der Gründe, warum ich nun schon über 55 Jahre mit Rettungsmitteln unterwegs bin. Heute hat sich so vieles geändert, beruht jedoch immer auf gemachten Erfahrungen aus den Anfängen. Geschieht heute in der Region Interlaken ein schwerer Verkehrsunfall, sind die Alarmierungszeiten sehr kurz geworden, Rettungsdienste sind rund um die Uhr im Dienst und in kürzester Zeit abfahrbereit. Heute erlebe ich im Ambulanzdienst oft, dass die schweren Mittel der Feuerwehr schneller vor Ort sind als wir mit den Rettungswagen. So kann eingeklemmten Unfallopfern sehr schnell geholfen und dadurch Leben erhalten werden. Natürlich haben gesetzliche Grundlagen, Geschwindigkeitsbegrenzungen, Helmtragpflicht und der moderne Fahrzeugbau mit Airbags dazu beigetragen, dass es seltener zu schweren Unfällen kommt.
Die Professionalisierung sämtlicher Blaulicht- und Luftrettungsorganisationen optimiert das Ganze. Wichtig ist auch der Schritt der Medizin aus dem Spital hinaus an die Front. Die Ausbildung der Mitarbeiter im Rettungsdienst ist ausgebaut worden. Zuerst gab es die A-, B- und C-Kurse zum Erlangen des Diploms zum Rettungssanitäter, dann kam die einjährige Ausbildung, gefolgt von der zweijährigen bis hin zu der heute dreijährigen Ausbildung zum Rettungssanitäter HF. Heute besteht die Standardbesatzung in unseren Ambulanzen aus einem Zweierteam: einem ausgebildeten Rettungssanitäter und einem Transportsanitäter. In der Luftrettung braucht es neben dem Piloten einen erfahrenen Rettungssanitäter und einen Facharzt Anästhesiologie mit Notarztausbildung. Durch den Wegzug des Rettungsdienstes aus dem Spital Interlaken Ende 2021 in den neuen Stützpunkt Wilderswil ist leider die primäre Anästhesieunterstützung ganz verloren gegangen. Fast 40 Jahre lang hatte sich das System im Dreierteam bewährt und war vielen in Not geratenen Menschen zugutegekommen. Aus meiner Sicht ist das heutige Zweierteam ein grosser Verlust. Zwar können immer noch Anästhesiefachpersonen nachgefordert werden, aber dabei geht wertvolle Zeit verloren. Aus diesem Grund wird heute bei einem Einsatz oft bereits vorsorglich ein Helikopter mit Notärzten angefordert. Es hat sich vieles entwickelt: in der Medizin, der Ausbildung, der Organisation und dem Miteinander. So ist es möglich, ohne grossen Zeitverlust Hilfe zu in Not geratenen Menschen zu bringen. Aber nicht jeder Fortschritt bringt nur Positives mit sich. Die Aktivitäten meiner Eltern liessen mich schon früh an dieser grossen Entwicklung teilhaben.
Lange Wartezeit auf schwere Mittel, beide Insassen verstarben vor der Bergung unter unseren Händen.