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Vorwort
Mein fünf Jahre älterer Bruder Daniel musste in der Primarschule jeweils auf mich aufpassen, wenn wir zusammen mit dem Velo über die Höhe Beinwil zum Schwimmen im Hallwilersee radelten. Er sass aber die meiste Zeit auf dem Sprungturm mit Freunden oder spielte Fussball. Oft nannte er mich mit spöttischliebevollem Grinsen «Vogelscheuche», was er bestimmt nicht so meinte. Aus dem Augenwinkel schaute er ab und zu, ob ich nicht untergangen war, doch ich war schon früh eine sichere Schwimmerin. Jede Wette, er hätte es gespürt, falls seine Hilfe nötig geworden wäre. Mit medaillenwürdigem Crawl wäre er zu meiner Rettung geeilt. Er hatte das «Helfen-in-der-Not» schon immer im Blut. Wie oft schlichen wir in die Garage, wo der VW-Krankenwagenwagen unseres Vaters stand, um das nicht von der Zündung abhängige Blaulicht zu bewundern. Daniel ist ja, wie aus seinem ersten Buch «Leben retten. In der Luft. Am Boden. Seit 50 Jahren.» bestens bekannt, ein Blaulicht-Junkie genannt worden und das Martinshorn war damals seine schönste Musik. Das «Retten» war fester Bestandteil unserer Kindertage, da unsere Eltern den Ambulanzdienst im Wynental rund um die Uhr betreuten. Oft wurde ich zum benachbarten Schreiner geschickt, um noch einen starken Mann für die Besatzung des Notwagens zu holen. Deswegen habe ich später Notfallsituationen als Ärztin immer mit Holz- und Lackdüften verbunden. Daniel durfte schon früh mitfahren, als Sirenen-Techniker zum pausenlosen Aufziehen der Mechanik. Das war meistens der Fall, wenn die Fahrt mit einem Kopfverletzten in das Unispital Zürich ging. Es muss ganz wunderbar gewesen sein, ab der Autobahnausfahrt mit einer Motorrad-Polizeitruppe durch die Stadt und speziell über das damals schon stark befahrene Bellevue fahren zu können. Da rauschte noch mehr Geschwindigkeit durch Daniels Adern und blies jede Müdigkeit davon. So ist es all die Jahre geblieben. Nie war es ihm zu mühsam, mitten in der Nacht in das hinterste Tal zu fahren oder mit dem Helikopter unter misslichen und gefährlichen Bedingungen Menschenleben zu retten.
Bei jedem Wind und Wetter fuhr er mit dem frisierten Töffli zu seiner ersten Ausbildung als Psychiatriepfleger nach Königsfelden, welches immerhin 30 Kilometer von Reinach entfernt war. Wie man in seinem ersten Buch ausführlich nachlesen kann, überschlugen sich dann die Dinge förmlich und Daniel landete im Spital Interlaken, wo er sogleich Stationspfleger wurde und sich in die dort vor seiner Nase einfliegenden Helikopter verliebte. Schon bald hing in unserem Treppenhaus in Reinach ein Fotoposter, auf dem Daniel beim Abseilen auf dem oberen Grindelwaldgletscher mit einem Helikopter der Bohag (Berner Oberländer Helikopter AG) zu sehen war. Er erzählte nie viel, schon gar nicht von seinen Rettungserfolgen, aber wir sind sehr stolz auf unseren fliegenden Bruder. Neben der Rettungsmedizin interessierte ihn auch das Bergsteigen. Nicht um selber zu klettern, nein, das sichere Verhalten während der Rettungen im Gebirge faszinierte ihn. Die Basis der Bohag / Rega wurde ihm beinahe zu einem Teil seiner Familie. Die Arbeit im Team mit den verschiedenen Piloten und Mechanikern begeisterte ihn. Daniel ist der beste Teamworker, den ich kenne. Er kennt und schätzt die Wichtigkeit des kleinsten Kettengliedes und weiss auch unter Druck, feinfühlend mit allen Beteiligten umzugehen. Dafür hat er ein enormes «Gspüri». Ich erinnere mich an einen hektischen Tag auf der medizinischen Abteilung des Universitätsspitals Zürich, als die Meldung eines abgestürzten Rettungshelikopters im Berner Oberland hereinkam. Da war der Schreck riesig und die Erleichterung noch grösser, als ich erfahren durfte, dass Daniel an diesem Tag aus dem Dienst genommen worden war. Die ganze Besatzung ist bei diesem Einsatz zur Rettung eines Tieres zu Tode gekommen. So hatten wir immer etwas Angst, speziell unser Vater, der oft seinen eigenen Schutzengel ins Oberland schickte, um die Retter zu behüten. In dieser Zeit blieb er still betend sitzen und wartete, bis der Einsatz vorbei war. So hat er es auch gemacht, für jedes von uns fünf Kindern, wenn wir Prüfungen ablegen mussten oder Gefahren ausgesetzt waren. Am Mittagstisch und des Öfteren auch während Weihnachtsfeiern und Geburtstagen sind Mutter und Vater bei Alarm vom Tisch aufgesprungen und kamen sehr lange nicht zurück, weil ein Mensch im Tal ihre Hilfe und einen Krankentransport benötigte. Da haben wir für immer gelernt, dass es wichtigere Dinge gibt, als gemütlich an einem Tisch zu essen und nur für sich zu schauen. Ich glaube, aufgrund dieser vorgelebten Selbstverständlichkeit haben drei von fünf Kindern medizinische Berufe erlernt. Daniel war der Erste, ihm folgten unser Bruder Manfred als Gynäkologe und ich selber sieben Jahre später als Fachärztin für den Bewegungsapparat. Meine Brüder hatten dabei wesentlich weniger Mühe, bei jeder Tages- und Nachtzeit an die Front zu eilen, als ich. Dafür schrieb
ich die medizinischen Berichte am liebsten nach Mitternacht. Daniel kam auch gelegentlich notfallmässig von Meiringen nach Luzern in meine Praxis, immerhin eine gute Stunde über den Brünig, um eine sehr schwierige Infusion für ein wichtiges Medikament zu legen. Er hat mich und mein Team immer wieder in meinen Ausbildungsspitälern und später in der Praxis in Lebensrettung und moderner Reanimation weitergebildet. Wir haben immer sehr Wertvolles und ausnahmslos Praktisches von ihm gelernt. Dinge, die man vergisst, wenn man nicht täglich mit lebensbedrohlichen Notsituationen konfrontiert wird. Auch nach der Pensionierung arbeitet er in kleinem Pensum weiter, im Rettungsdienst Interlaken und in «seiner» Anästhesieabteilung. Genau 40 Jahre ist er der Anästhesie, 45 Jahre dem Spital Interlaken treu geblieben. Für ihn macht es den höchsten Sinn, für andere Menschen in Not da zu sein. Ende September 2022 wird er definitiv einen dicken Schlussstrich ziehen. Das vorliegende Buch erzählt weitere Episoden von vielen spannenden Einsätzen und ergänzt das erste Buch in sehr lebendiger Weise.
Claudia Harder Müller (Daniels «kleine» Schwester)