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Sondereinheit Unterkulm

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Erlaubte Notlüge

Erlaubte Notlüge

Im Folgenden geht es um einen Einsatzbericht aus den Anfängen meiner aktiven Krankentransportzeit im aargauischen Wynental. Ich hatte frei, und es war vorgesehen, dass ich an diesem Sommertag mit Papsli (so nannten wir unseren Vater liebevoll) Transportdienst machen sollte. Der Haupttransportbegleiter hatte an diesem Tag eine andere Verpflichtung und konnte deshalb nicht eingesetzt werden. Schon am Vorabend bekamen wir den Transportauftrag: Wir sollten morgen einen Patienten zu Hause abholen für einen Spitaleintritt um 10 Uhr morgens, weil er heute einen Schlaganfall erlitten hatte. Solche Transporte gab es zu dieser Zeit nicht selten. Wenn ich mit heute vergleiche, ist das beinahe wie Tag und Nacht. Das Ziel ist, spätestens vier Stunden nach den ersten Anzeichen eines Schlaganfalles (heute neurologisches Ereignis genannt) in einem Zentrumsspital zu sein. Im Berner Oberland ist dafür das Inselspital zuständig. In einem kleineren Spital kann vorab eine Stroke Unit (Schlaganfallstation) angeboten werden. Dort macht man rasch eine CT (Computertomographie), um bei Bedarf schon vor der Verlegung ins Inselspital medikamentös eine Thrombolyse zu beginnen (Auflösen der Blutgerinnsel, die die Verstopfung verursachen). Diese CT-Bilder können auch schnell vom Neurologen in Bern beurteilt werden. Es versteht sich von selbst, dass bei einem neurologischen Ereignis irgendwo in den abgelegenen Tälern im Berner Oberland rasch gehandelt werden muss – und dass es trotz raschem Handeln äusserst sportlich wird, dieses vierstündige Zeitfenster einzuhalten. Die Menschen aus dem Oberland wollen oft nicht allzu schnell zum Arzt gehen. Pünktlich brachten mein Vater und ich an diesem Morgen den halbseitig gelähmten Mann ins Spital. Damals musste Vater die Angehörigen darauf hinweisen, einen Frankenbetrag als Depot für das Spital mitzugeben oder bald zu bringen. Heute wohl undenkbar. Kurz nach dem Mittag rief uns die Spitaloberschwester an, dass es in Unterkulm zu einem Verkehrsunfall gekommen war und wir sofort dahin fahren müssten. Als Information konnte sie uns sagen, dass es sich um einen Töfflisturz handelte. Ich holte rasch den Krankenwagen, der in der Nachbarschaft in einer Garage stand, fuhr nach wie vor ohne Fahrausweis zu unserem Haus und setzte mich auf den Beifahrersitz. Eine begonnene Arbeit musste Vater noch fertig machen, und schon ging die Blaulichtfahrt los. Am Unfallort angekommen, lag das Töffli am Boden und ein unruhiger, schimpfender Mann lief auf und ab. Mit blutver-

schmiertem Gesicht beschimpfte er uns, wir sollten ihn in Ruhe lassen. Von einer solchen Situation war ich überfordert und Vater hatte alle Mühe, den Mann etwas zu besänftigen. Laut Zeugenaussagen war er ohne Fremdverschulden gestürzt und wahrscheinlich mit dem Kopf am Trottoirrand aufgeschlagen. Anfänglich sei er eine Zeit lang regungslos gewesen, bevor er begonnen habe, alle zu beschimpfen: «Ich will jetzt nach Hause und nicht ins Spital!» Er müsse unbedingt einen Schlüssel zu Hause abgeben. Nach einem verbalen Hin und Her hatte Vater ihn so weit, dass er einen Kompromiss einging. Wir würden ihn bei der Fahrt ins Spital vorher noch zu seinem Daheim bringen, zur Schlüsselabgabe. Gesagt, getan; so machten wir uns gemeinsam auf den Weg. Es war kein grosser Umweg zum Bauernhaus, in dem er angeblich wohnte. Er ging ins Haus, um den besagten Schlüssel zu deponieren. Kaum im Haus verschwunden, erschien der Mann mit einem Gewehr bewaffnet und fuchtelte damit wild in unsere Richtung. Blitzschnell rannten wir zum Krankenwagen und fuhren ein Stück weg. Es gab noch kein Handy und eine funktionierende Funkanlage ebenfalls nicht. Vater steuerte den Krankenwagen zu einem benachbarten Haus, ging zur Haustüre und klingelte. Eine Bewohnerin öffnete und er fragte sie, ob sie ein Telefon hätten, welches er benutzen dürfe. Längst nicht alle Haushalte verfügten damals über einen Telefonanschluss. Vater informierte die Polizei über das Geschehene und diese sagte schnelle Unterstützung zu. Es dauerte nicht lange, kam ein Polizeiauto herangebraust. Die beiden Polizisten informierten uns, dass bereits eine Sondereinheit der Kantonspolizei aufgeboten worden war und in etwa 20 Minuten vor Ort sein werde. Nach deren Ankunft fuhren wir gemeinsam mit den Fahrzeugen zum Aufenthaltsort des gestürzten Mannes. Die Sondereinheit verschaffte sich schnell einen Überblick und da der Mann sich nicht zeigte, plante sie einen raschen Zugriff zum Haus. Kaum im Innern, haben die bewaffneten Polizisten nach uns gerufen, dass der Mann bewusstlos im Korridor lag. Vater und ich haben den Mann auf die Bahre gelegt, fixiert und zum Krankenwagen getragen. Medizinische Massnahmen haben wir vor Ort noch nicht vorgenommen. Der zügige Transport ins Spital stand im Vordergrund. Die Anwesenheit der Polizei verschaffte uns die Möglichkeit, dass wir im Kantonsspital angemeldet und erwartet wurden. Etwas mulmig war uns nach diesem Einsatz schon, und der Gedanke, dass wir unter Beschuss hätten geraten können, beschäftigte uns schon ein wenig. Gewalt an Einsatzorten hat es immer gegeben, doch hat diese in letzter Zeit insbesondere in städtischen Gebieten sehr stark zugenommen. Für das Berner Oberland trifft dies glücklicherweise weniger zu.

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