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Erlaubte Notlüge
Folgender Rettungseinsatz ist mir ganz speziell in Erinnerung geblieben, nicht zuletzt aus Gründen des Ausrüstungsmangels. Immer und immer wieder hatten wir Einsätze zu bewältigen, bei denen mangelnde Ausrüstung massgeblich mitbeteiligt war. Zum Beispiel mangelhaftes Schuhwerk auf Bergwegen, was zu einem Misstritt oder gar zu einem Absturz führen konnte. So geschah es auf dem Hüttenweg zur Glecksteinhütte. Ein Bergwanderer war in einfachen Turnschuhen auf dem Rückweg von einer Wanderung, als er bei der Enge oberhalb der alten Bergstation des Wetterhornaufzuges ausrutschte und einige hundert Meter in die Tiefe stürzte. Wir konnten nur noch den leblosen Körper bergen und ins Tal fliegen. Wanderer sind häufig ohne Schutzausrüstung im Gebirge unterwegs und werden dabei von einem Wetterwechsel überrascht. Schlussendlich führt das zu Such- und Evakuationsflügen für erschöpfte und unterkühlte Bergwanderer. So wurden wir an einem heissen Juli-Sommertag zum Absturz eines Kindes gerufen. Ort und Lage war nicht genau klar, jedoch wussten wir, auf welchem Bergweg sich der Unfall ereignet hatte. Kaum im Gebiet angekommen, fiel uns eine Familie auf, die wild gestikulierte und in die Tiefe zeigte. Der Pilot flog eine Kurve und beim nächsten Anflug sahen wir einen kleinen Körper in einer unzugänglichen Geröllhalde liegen. Sofort war uns klar, dass wir eine Windenbergung machen mussten und es wahrscheinlich nicht so gut aussah. In der Nähe der Familie konnten wir landen und uns für die Windenaktion vorbereiten. Die Eltern des Kindes kamen zu uns und ihre erste Frage war, ob ich der Arzt sei. In dieser Situation brachte ich es nicht über die Lippen, den besorgten Eltern zu sagen, dass ich nicht Arzt, sondern «nur» Narkosepfleger war. Ihre Tochter sei acht Jahre alt und vorausgerannt, dann gestolpert oder ausgerutscht und in der Tiefe verschwunden. Ich konnte ihnen mitteilen, dass wir ihr Kind gesehen hatte und ich so rasch wie möglich mit der Helikopterwinde in seiner Nähe abgesetzt würde. Der Pilot liess die Maschine laufen, der Windenmann machte letzte Vorbereitungen und ich zog meinen Klettergurt an. Schon hob der Heli wieder vom Boden ab und wir näherten uns in einer langen Kurve dem Fundort. Der Pilot gab das Okay für das Ausfahren der Rettungswinde und so wurde ich mit 20 Metern Seillänge unweit des Mädchens abgesetzt. Der Helikopter flog rückwärts vom Couloir weg, damit ich nicht durch Steinschlag des Rotorwindes gefährdet wurde. In der Luft warteten meine Kollegen auf meine Situationseinschätzung. Nach kurzem felsigem Weg
erreichte ich die Stelle, wo das Mädchen liegen geblieben war. Leider musste ich feststellen, dass jede Hilfe zu spät kam. Die schweren Verletzungen hatten zum sofortigen Tod geführt, das Mädchen hatte keine Überlebenschance gehabt. Über Funk meldete ich meiner Crew den Status und dass sie mich wieder abholen sollten. Zurück bei den Eltern lag es an mir, ihnen die traurige Botschaft zu überbringen und sie über den Tod ihrer Tochter zu informieren. Das sind immer sehr schwere Momente für alle Retter, ob Mediziner oder Polizeiangehörige, die unvergessen bleiben. Meine Kollegen waren in der Zwischenzeit ins Tal geflogen, um einen Polizisten an den Unfallort zu bringen, damit dieser sich ein Bild über den Unfallhergang und die örtlichen Verhältnisse machen konnte. Solche Unfälle müssen abgeklärt werden, nicht zuletzt aus rechtlichen Gründen. Die Familie wurde ins Tal geflogen, um dort weiter betreut zu werden. Uns blieb die traurige Aufgabe, das Mädchen zu bergen und ebenfalls ins Tal zu bringen. Das Mädchen war nicht bergtauglich gekleidet, trug kurze Turnhosen, ein Trägershirt und abgelaufene Turnschuhe. Die Eltern hingegen verfügten über eine Topausrüstung mit schweren Bergschuhen. Die genaue Unfallursache konnte nicht geklärt werden, jedoch musste von einem Ausrutschen an einer ungünstigen Stelle ausgegangen werden. Wortlos flogen wir nach der Übergabe der sterblichen Überreste zurück nach Gsteigwiler. Das ganze Rega-Team hing seinen Gedanken nach und jeder versuchte, auf seine persönliche Weise mit dem Erlebten fertig zu werden – waren wir doch alle auch Familienväter.