Kurzvorschau – Das Unsichtbare sichtbar machen

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Impressum

Für die grosszügige Unterstützung geht unser Dank an die Burgergemeinde der Stadt Bern.

Alle Angaben in diesem Buch wurden vom Autor nach bestem Wissen und Gewissen erstellt und von ihm und dem Verlag mit Sorgfalt geprüft. Inhaltliche Fehler sind dennoch nicht auszuschliessen. Daher erfolgen alle Angaben ohne Gewähr. Weder Autor noch Verlag übernehmen Verantwortung für etwaige Unstimmigkeiten.

Alle Rechte vorbehalten, einschliesslich derjenigen des auszugsweisen Ab drucks und der elektronischen Wiedergabe.

Alle Personen, Institutionen und Ereignisse, auch die Örtlichkeiten, sind er funden und jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen, realen Institutionen und Orten zufällig.

© 2022 Weber Verlag AG, 3645 Thun/Gwatt

Texte: Rolf Adler

Weber Verlag AG

Gestaltung Cover: Sonja Berger

Satz: Celine Lanz

Lektorat: Alain Diezig

Korrektorat: David Heinen

Der Weber Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

ISBN 978-3-03818-406-5

www.weberverlag.ch

neutral Drucksache No.
– www.myclimate.org © myclimate – The Climate Protection Partnership
01-12-409142

Inhalt

Vorwort ....................................................................................................... 6 Gegen den Versuch, das Arzttum zu zerstören ......................................... 8 Zum Tod von Bernard Lown (1921–2021) ............................................... 15

Ist Medizin Kunst und /oder Wissenschaft? ............................................. 17 Ist der Patient Patient oder Kunde? .......................................................... 23

Im Schmerz gefangen: wer, wie und warum ........................................... 29

Diagnoselisten: ihre Fragwürdigkeit aus wissenschaftlicher, praktischer und finanzieller Sicht ............................................................ 37 Diagnoselisten: komplexes Problem einfach gelöst ................................ 43

Die Aufgaben des Arztes im Zeitalter intelligenter Computer 45 Derselbe Patient mit Schmerz – aus der Sicht des IV-Gutachters und des Hausarztes 53 Lang anhaltende Schmerzen umfassend verstehen –was ist daran so schwierig? ...................................................................... 60

Weitere Gedanken zum Artikel ............................................................... 66 Mach keine Notizen, während du mit dem Patienten sprichst ................ 72 Arzt delegiert Patientenvisite an Pflegefachfrau: gut gemeint, ungenügend bedacht ................................................................................. 78 Stören die fliegenden deutschen Störgutachter (FDSG)? Ja, sie stören!.... 80 Die Geste der Hilflosigkeit in der Arzt-Patient-Beziehung ..................... 87 Bundesrat Alain Bersets 20-Minuten-Entscheid, oder: der Königsweg zur Diagnose .................................................................. 92 Second opinion: zur Zweitmeinung ......................................................... 96 Nicht jedes Leiden braucht eine Diagnose 99 Der Arzt, das Baby und das Kuscheltuch 104 Auf der Chefvisite: ein wütender junger Mann 114 Lehrblätz für die Arzt-Patient-Beziehung .............................................. 116 «Berlin Wall» in der Homöopathie: Gruss aus der Steinzeit ................. 120 Eine merkwürdigeHusten-Allergie ........................................................ 123 Ds Nüüni-Tram oder: Werbung in der Medizin oder: Glaubwürdigkeit schafft nur das Urteil anderer .................................... 126 Selbstkoloskopie in Chäsitz: Telemedizin ahoi ..................................... 130 Autor........................................................................................................ 132

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Vorwort

DieAbsicht dieses kleinen Buches besteht darin, den Arzt ob all der technischen Fortschritte der Medizin dafür hellhörig zu machen, dass nicht nur die Krankheit, sondern der Mensch mit seiner Krankheit, und nicht nur diese beiden, sondern der Mensch mit seiner Krankheit in seiner Umwelt zu erfassen ist (Harvey Cushing). Diese Absicht haben im 20. Jahrhundert in Europa unter anderen Viktor von Weizsäcker und Thure von Uexküll und in den englischsprachigen Ländern William Osler, Harvey Cushing, Francis W. Peabody, George L. Engel und Bernard Lown besonders gefördert. Die begrüssenswerte Entwicklung der technischen Medizin (physikalisch-chemisch-mathematisch) hat den allmähli chen Paradigmenwechsel* von einer Biomedizin zu einer biopsychosozialen, integrierenden Medizin immer wieder aus dem Blickfeld gedrängt. Es ist heute durch viele kontrollierte Studien eindeutig klar, dass das Gleichgewicht zwischen Gesundheit und Krankheit auch durch psychische und soziale Faktoren mitbeeinflusst werden kann, und dies betrifft die Wahrscheinlichkeit, krank zu werden, zu bleiben oder zu gesunden.

Die Notwendigkeit, den Paradigmenwechsel zu vollziehen, besteht fort. Das Thema ist in mir wach geworden und geblie ben, seit ich in Rochester, NY, mit George Engel ab 1967 und in Ulm mit Thure von Uexküll ab 1971 über 25 Jahre lang zusammenarbeiten durfte. Diese Erfahrung hat zu einem ersten kleinen Buch geführt, das etwa 20 Artikel umfasste.

* Paradigma: Eine Gruppe von Theorien, die erklärt, wie ein bestimmtes Thema zu einer bestimmten Zeit verstanden wird.

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Diese entstanden von meiner Emeritierung im Jahre 2001 bis zum Jahr 2016. Seit dem Erscheinen des ersten Buches sind wiederum etwa gleich viele Artikel zum Thema Integration der biologischen, psychischen und sozialen Aspekte der Medizin in das neue Paradigma entstanden. Obwohl zum Teil publiziert, will ich sie wieder in einem Buch zusammenfassen, denn die Artikel sind in verschiedenen Journals erschie nen und somit einem Leser des einen oder andern Journals entgangen. Zudem wage ich einen Vergleich: Der einzelne Artikel entspricht einer Muskelfaser, alle Artikel zu einem Buch zusammengestellt einem Muskel. Klar, dass die ein zelne Faser weniger Kraft hat als die Zusammenfassung der Fasern zu einem Muskel.

In den 20 Jahren seit meiner Emeritierung setzte ich den Unterricht von Medizinstudenten im dritten Jahr am Kran kenbett, die Supervision von zwei Ärztegruppen und die Arbeit in der Praxis ohne Unterbruch fort als Schulung im Er lernen der Integration somatischer, psychischer und sozialer Faktoren. Diese Tätigkeiten haben zu Anregungen geführt, die sich in diesem Buch niedergeschlagen haben. So kann ich dankbar sein, dass Salomo in meinem Fall nicht recht hat, wenn er nach Wilhelm Busch ausruft: «Vergebens predigt Salomo. Die Leute machen’s doch nicht so!»

Die einzelnen Beiträge bringen praktische Beispiele und den theoretischen Hintergrund dazu. Guter Wille und Freund lichkeit genügen für diese Art Medizin nicht. Es braucht Wissen und praktisches Können. Denn ohne Theorie ist der Arzt blind und ohne praktisches Können lahm.

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Gegen den Versuch, das Arzttum zu zerstören

Kürzlich stosse ich auf ein Verwaltungsgerichtsurteil in einem Rückforderungsprozess. (Mir geht es hier nicht um die Frage der ärztlichen Fähigkeiten und die Handlungen des Beklagten.)

Das Urteil hält fest: Es gehört bei der Behandlung psychosomatischer Patienten nicht zu den von einem Arzt zu erbringenden Leistungen (der Einfachheit halber bezeichne ich jede dieser Feststellungen mit den Buchstaben a bis e): a) Alltagssorgen zu besprechen; b) Anteilnahme auszusprechen; c) Patienten auf deren Wunsch hin zu beraten und zu bedauern; d) ansonsten nicht erhältliche Zuwendung zu spenden; e) Lebensberatung zu gewähren. Zum Begriff «Psychosomatik»: Er ist von Heinroth (1773–1843) eingeführt worden – und ist schon jahrzehntelang obsolet, denn er beruht auf der zu einfachen Vorstellung: psychische Ursache – somatische Folgen. Schon seit den 1940er-Jahren dachten und handelten wir als Forscher und Kliniker im biopsychosozialen Konzept. Es ist Engels Verdienst, dieses Modell 1977 im Journal «Science» eindrück lich dargestellt zu haben.1 Ein Individuum ist hierarchisch aufgebaut. Die Ebenen reichen vom Molekularen bis ins So ziale. Somatische, psychische und soziale Faktoren wirken ineinander. Dabei geht es um Koppelungen und Entkoppe lungen der Faktoren auf den verschiedenen Ebenen und zwischen diesen, mit der Frage, ob Gesundheit erhalten bleibt

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oder Krankheit entsteh.2, 3 Die Aufgabe des Arztes besteht darin, die somatischen, psychischen und sozialen Faktoren in ihren Zusammenhängen zu erfassen, zu gewichten und dar aus Handlungsanweisungen für das ärztliche Tun abzuleiten. Schon der Neurochirurg Harvey Cushing (1869–1939), der übrigens bei Theodor Kocher in Bern gearbeitet hat, hielt fest, dass der Arzt nicht nur die Krankheit, sondern den Menschen mit seiner Krankheit, und nicht nur diese beiden, sondern den Menschen mit seiner Krankheit in seiner Umwelt zu erfassen hat. Die Verfasser des Gerichtsurteils hinken also um mehr als 100 Jahre heutigen Erkenntnissen nach.

Zu den Bemerkungen a) bis e): Zu a) und b): Letztes Jahr ruft mich ein Kollege an. Einer seiner Freunde, 68-jährig, hat seine 69 Jahre alte Frau drei Monate nach der Diagnose Pankreaskarzinom verloren. Mein Freund möchte wissen, welches Medikament er dem Trau ernden anlässlich der kurz bevorstehenden Beerdigung geben solle, da dieser befürchte, während der Abdankung von Gefühlen überwältigt zu werden und in Ohnmacht zu fallen. Ich antworte, dass Verordnungen per Telefon Gefahren ber gen4 , die auch schon zum Tode geführt haben, und dass der Arzt nur Menschen Empfehlungen am Telefon geben dürfe, die er als seine Patienten genau kennt. Ich bitte ihn, seinem Freund zu raten, mich so bald wie möglich anzurufen, um für den nächsten Tag einen Termin zu vereinbaren. Am nächsten Morgen kommt der Betroffene in meine internistische Sprechstunde. Das Gespräch umfasst seine Befürchtungen, seine Gefühle, seine intensive Trauer. Wir besprechen zu sammen, dass die Stärke der Trauer der Stärke der Liebe zu seiner Frau entspreche und dass ich in meinem Nachttisch

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ein Zettelchen aufbewahre, auf dem steht, dass Gefühle Tat sachen sind, auch wenn sie «nur» Gefühle sind, wie Friedrich Glauser (1896–1938) einst im Roman «Wachtmeister Studer» geschrieben hat.5 Als Arzt habe ich damit Psychisches in meine Tätigkeit eingeschlossen. Ich erfahre, dass er einen Sohn und eine Tochter hat, wie seine Beziehungen zu ihnen sind, dass er mit Freunden häufig Bergtouren unternehme, und dass sie zur Beerdigung kämen. Einbezug des Sozialen. Er kommt auf den Gedanken, bei der Abdankung eng bei sei nen Kindern und seinen Freunden zu sein. Er verzichtet auf ein Medikament. Ich bin auch dafür, denn ich habe mich nach seinem Verhalten anlässlich früherer Verluste erkundigt, die er gut gemeistert hat (psychische Entwicklung).

Ich bitte ihn, mir in den nächsten Tagen zu berichten. Es erfolgt seine Mitteilung, es sei gut gegangen, und einige Wo chen später schreibt er mir, dass er mit seinen Freunden wieder zu Berge gehe. Ich mache ihn darauf aufmerksam, dass Trauern ein Prozess mit Auf und Ab sei und dass er mich bei Bedarf ruhig anrufen solle.6

Ich bin stolz und glücklich, noch ein Arzt zu sein, der biopsychosozial denken und handeln darf. Dabei erinnere ich mich an ein Geschehnis aus dem Jahre 1934, das Engel erwähnt7:

Im Zoo von Philadelphia ist ein Lama-Hengst wild gewor den und hat sein Gehege durchbrochen. Er kann nicht eingefangen werden und wird erschossen. Charly und Josephine, die zwei Lamas, lebten 15 Jahre lang in enger Partnerschaft. Josephine eilte sofort zum Lebenskameraden, stand zuerst unbeweglich da, näherte sich ihm langsam, liess sich auf die Knie nieder und legte ihren Kopf auf dessen blutende Brust. Versuche, ihr aufzuhelfen, gelangen nicht. Sie starb innerhalb der nächsten 15 Minuten.

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Heute kennen wir solche Abläufe auch beim Menschen, bei spielsweise beim sogenannten Takotsubo-Syndrom, bei dem akuter Stress zur Schädigung der Funktion von Herzmus kelzellen und zum Versagen der Herzpumpfunktion führt.8 Es ist zudem bekannt, dass Verwitwete nach Partnerverlust während zweier Jahre eine um 40 Prozent erhöhte Mortalität aufweisen.9 Mit diesen Ausführungen halte ich Punkt b) auch für geklärt.

Zu c): Das Problem Beratung muss hier besprochen wer den, beispielsweise beim Gespräch über den Sinn der Impfung der Kinder von Müttern, die vor dem Impfen Ängste haben, die sie zur Ablehnung des Impfens ihrer Kinder führen. Diese Ängste müssen berücksichtigt und thematisiert werden.10 Die Masernimpfung auszulassen, kann zu tödlichen Meningoenzephalitiden, zu hospitalisationsbedürftigen Pneumonien und zu Otitiden führen.

Zu d): Patienten nach Herzinfarkt, die depressiv sind, wei sen ein erhöhtes Risiko auf, einen neuen Infarkt zu erleiden und früher zu sterben.11 Wer ausser dem Arzt vermag eine Depression, die behandlungsbedürftig ist, in einer solchen Situation zu entdecken und korrekt zu behandeln?

Zu e): Aus dem Text des Verwaltungsgerichts geht hervor, dass die verfassenden Juristen nicht wissen, was ärztliche Be ratung wirklich bedeutet. Die Patienten sind intelligent genug, um zu wissen, welchem eigenen Rat sie zu folgen hätten. Sie sind aber oft dazu nicht imstande, denn Gefühle wie Angst, Schuld, Scham, Wut, Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit usw., die auftauchen, wenn die Patienten an die Durchführung des eigenen Ratschlags gehen, hindern sie daran. Bei der Beratung muss der Arzt auf diese Gefühle eingehen, denn unbesprochen und nicht mit dem Arzt geteilt bieten sie dem

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Befolgen der eigenen Überlegungen Widerstand. Greenson, renommierter Psychoanalytiker, hat das Problem des Ratschlägegebens in «Practice and Theory of Psychoanalysis» gewürdigt.12

Dann: Überlegungen zur Qualitätsbeurteilung, die ja im erwähnten Urteil eine entscheidende Rolle spielt.

Qualität kann leicht beurteilt werden, wenn das zu beur teilende Produkt so einfach gestaltet ist wie etwa eine CocaCola-Flasche.13 Ein Mensch ist aber viel komplexer. Vom Arzt verwendete Zeit und eingesetzte Tests wie Labor-, Röntgenund weitere Untersuchungen lassen die Qualität nicht beur teilen. Die Beurteilung gelingt nur einigermassen, wenn ein Arzt seine Tätigkeit durch einen erfahrenen Kollegen prüfen lässt. Dies findet statt: wenn der Assistenzarzt den beim Spitaleintritt untersuchten Patienten seinem Oberarzt oder Chef arzt vorstellt; wenn er am Morgen nach seinem Nachtdienst den versammelten Kollegen über seinen Nachtdienst berich tet; wenn er beim gemeinsamen Röntgenrapport die Bilder seines Patienten vorstellt; wenn er auf der Oberarzt- und Chefvisite den von ihm betreuten Kranken bespricht; wenn er seinen Austrittsbericht an den Hausarzt vor dem Absenden seinem Oberarzt oder Chef vorlegt. Nach abgeschlossener Aus- und Weiterbildung ist er genötigt, als Fortbildung an Be sprechungen mit Kollegen teilzunehmen und Fortbildungsveranstaltungen zu besuchen und dies zu belegen. Er erhält dafür Punkte. Ende Jahr muss er eine bestimmte Punktzahl vorlegen. Frage: Unterziehen sich Juristen, Gesundheitsöko nomen, Krankenkassenleiter, Politiker und Spitaladministratoren solch rigorosen Qualitätssicherungen? Würden sie, das kann mit Fug und Recht bedacht werden, sich zum Beispiel einem Brückenbauingenieur gegenüber erlauben, dessen Sta-

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bilitätsabklärungen und Berechnungen infrage zu stellen? Genau dieser Übergriff wird gegenüber der medizinischen Profession ausgeführt – eine Anmassung. Qualitätsbeurtei lung durch Nichtmediziner ist für die ärztliche Tätigkeit ein Unwort.

Die so oft gehörte Behauptung, Ärzte würden unnötige Untersuchungen veranlassen, um zu verdienen, trifft viel leicht auf einige schwarze Schafe der Profession zu, wie sie in allen Berufsgruppen vorkommen. Es gibt aber nicht Herden von schwarzen Schafen, wie es uns Gesundheitsökonomen, Politiker und Krankenkassen weiszumachen belieben. Es ist für uns Ärzte ein erhabenes und uns schon als Studenten vorgelebtes Anliegen, mit möglichst wenig Aufwand Patienten abzuklären und zu behandeln. Unsicherheit und Angst oder Übermittlungspannen von Daten mögen hie und da zu Ab klärungen führen, die im Rückblick fragwürdig bis überflüssig erscheinen. Im Rückblick ist man immer gescheiter.

Also, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wehren Sie sich mit mir zusammen gegen die ungerechtfertigten Einmi schungen in die Medizin, die zuletzt unsere Patienten auszulöffeln haben. Halten Sie sich an Major Cavaluzzi in Carl Spittelers (1845–1924) Gedicht «Die jodelnden Schildwachen»: «Komm her beim Styx! Stoss an beim Eid! / Wer da nicht mitmöggt, tut mir leid.»

Publiziert in: SAEZ 2018(32): 1036–1038.

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Referenzen

1. Engel GL. The need for a new medical model: a challenge for biome dicine. Science 1977; 196: 129–136.

2. Von Uexküll Th. Psychosomatische Medizin. Urban und Fischer, München und Jena, 7. Aufl. 2010, 1. Kap.

3. Adler RH. Engels biopsychosoziales Konzept ist auch heute noch be deutsam. In: Herausforderung für die Biomedizin: Das biopsychoso ziale Konzept. EMH, Schweiz. Aerzteverlag 2017; S. 9–18. Erstpubl. in J Psychosom Res 2009; 607–611.

4. Adler RH. TelMed: gefährlich, unwirtschaftlich und entbehrlich. Schweiz Med Forum 2012; 12: 679–680.

5. Friedrich Glauser. Wachtmeister Studer (1935).

6. Engel GL. Is grief a disease? A challenge for medical research. Psy chosom Med 1961; 23: 18–22.

7. Engel GL. Sudden and rapid death during psychological stress. Folklore or folkwisdom? Ann Intern Med 1971; 74: 771–782.

8. Sato H, Tateishi H, Ushida T et al. Myocardial stun ning due to simultaneous multiple vessel coronary spasms. J Cardiol 1991; 21: 203–214.

9. Parker CM, Benjamin B, Fitzgerald GL. Broken heart: a statistical analysis of increased mortality among widowers. BMJ 1969; 740–743.

10. Peters N. Impfung in der Praxis. Prim Hosp Care 2018; 18: 118–121.

11. Ziegelstein RC. Depression in patients recovering from myocardial infarction. JAMA 2011; 286: 1621–1627.

12. Greenson RR. The technique and practice of psychoanalysis I. Int Univ Press, New York 1967.

13. Adler RH. Qualitätssicherung und Vernetzung Praxis 2012; 101: 781–785.

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Zum Tod von Bernard Lown (1921–2021)

Bernard Lown ist am 10. Februar 2021 zu Hause, in der Nähe von Boston (USA), im 100. Lebensjahr gestorben. Mit 14 Jahren verliess seine Familie Litauen. Der Vater war Schuhmacher. Beide Grossväter waren Rabbiner. Für Juden war die Bedrohung durch den zunehmenden Antisemitismus zu stark geworden. Deshalb wanderte die Familie in die USA aus. Bernard wurde Kardiologe. Er entwickelte 1962 den ersten brauchbaren Herz-Defibrillator und war Mitbegründer der Gruppe «Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges», die 1985 den Friedensnobelpreis erhielt. Ich lernte ihn bei einem Abendessen in kleinem Kreis kennen.

Ich möchte aus einem Nachruf des Arztes Rich Joseph in der «New York Times» vom 20. 2. 2021 zitieren, der Lown, als er 96 Jahre alt war, wegen einer Pneumonie im Spital betreut hatte und drei Jahre lang die Verbindung zu seinem Pa tienten aufrecht hielt. So lernte er Lowns Gedanken kennen, die für die weitere Entwicklung der heutigen Medizin bedeut sam sind. Ich halte die Überlegungen Lowns für besonders wichtig, weil sie nicht von einem Arzt aus dem Gebiet der Psychologie und Psychiatrie stammen, sondern von einem bedeutenden somatischen Kliniker, Forscher und Patienten.

Ich bringe hier auszugsweise Inhalte aus Josephs Nachruf zu den Gedanken und Aussagen Lowns:

«We agreed that the health care system needed to change. To do that, Dr. Lown said, ‹doctors of conscience› have to

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‹resist the industrialization of their profession.› This begins with our own training. Certainly doctors must understand disease, but medical education is overly skewed toward the biomedical sciences and minutiae about esoteric and rare disease processes. Doctors also need time to engage with the humanities, because they are the gateway to the human experience.

To restore balance between the art and the science of medicine, we should curtail initial coursework in topics like genetics, developmental biology and biochemistry, making room for training in communication, interpersonal dynamics and leadership.

[…]

Finally, hospitals should be a last resort, not the hallmark of the health care system. The bulk of health care resources should go instead into homes and communities. After all, a large majority of health problems are shaped by nonmedical factors like pollution and limited access to healthy food.»

Ich möchte meinen Nachruf auf einen Nachruf nicht ohne eine Mahnung Thure von Uexkülls schliessen (1985), die er im Vorwort zu unserem Buch «Praxis und Theorie der Anamnese» geschrieben hat: «Dieses ‹Mehr an Arzt›, das unsere moderne, technisch so perfektionierte Medizin erfordert um effizient und human zu sein, setzt Ausbildung und Schulung voraus. Das Wis sen um die biopsychosozialen Zusammenhänge und die Kompetenz, damit umzugehen, sind nicht durch guten Willen und Freundlichkeit zu ersetzen. Das Wissen bedarf einer Ausbildung und die Kompetenz, damit umzugehen, einer Schulung.»

Publiziert in: Schweiz. Ärztezeitung 2021; S. 426.

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Ist Medizin Kunst und / oder Wissenschaft?

Bernard Lowns Buch «The Lost Art of Healing», zu Deutsch «Die verlorene Kunst des Heilens»1, stösst auf einen grossen Leserkreis von Ärztinnen und Ärzten. Zu Recht. Denn die Technisierung der Medizin droht den Men schen aus den Augen zu verlieren. Der Aufruf zur Berücksichtigung des Patienten geht von einem Kardiologen aus. Es sei daran erinnert, dass Lown den Defibrillator mit direktem Strom eingeführt hat, Herzrhythmusstörungen seinen Na men tragen und er sich gegen die lange Liegezeit für Herzinfarktpatienten durchgesetzt hat. Für mich ist bedeutsam, dass sein Anliegen Patient von einem Somatiker ausgegangen ist. Ist die Kunst in der Heilkunde tatsächlich verloren gegan gen, wie es der Titel von Lowns Buch nahelegt? Denn schon Anfang des 20. Jahrhunderts haben hervorragende Ärzte auf die Vernachlässigung des Patienten hingewiesen und die «Kunst» in der Betreuung der Patienten vermisst. William Osler (1849–1919): Der gute Arzt behandelt die Krankheit, der grosse Arzt den Patienten mit seiner Krankheit; Harvey Cushing (1869–1939): Der Arzt hat nicht nur die Krankheit zu beachten, sondern den Patienten mit seiner Krankheit, und nicht nur diese beiden, sondern den Patienten mit seiner Krankheit in seiner Umwelt. Dass schon im 19. Jahrhundert der Patient keine Rolle mehr spielen sollte, geht aus Bemerkungen zweier eminenter medizinischer Forscher hervor, nämlich Ernst Wilhelm von Brücke (1819–1892) und Emil du Bois-Reymond (1818–1896), die sich auf ihre Fahne geschrie -

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ben hatten: «Wir wollen nicht eher ruhen, als bis der Mensch physikalisch-chemisch erklärt ist. Deshalb dürfen wir fragen, ob die Kunst in der Medizin in der Epoche von Descartes an (17. Jh.) überhaupt eine Rolle spielte.» Damit ist selbstverständlich nicht gesagt, dass es in vergangen Zeiten nicht Ärzte gegeben hat, für die die Patient-Mensch-Beziehung bedeutsam war.

Die Frage «Medizin: Kunst oder Wissenschaft» hat Engel aufgeworfen in «The Care of the Patient: Art or Science?».2 Die Frage «Was ist die Wissenschaft in der Medizin?» ist leichter zu beantworten als die nach der Kunst. Wissenschaft in der Medizin ist das genaue Beobachten, die Formulierung eines theoretischen Konzepts, erneutes Beobachten und Prü fen, ob die Theorie diesen neuen Beobachtungen gerecht wird. Bedeutsam ist, dass die Auswahl der unendlich vielen Gegebenheiten, die beobachtet werden können, vom inneren Zustand des Beobachters abhängt. Der Beobachtende konst ruiert also seine Umwelt (Konstruktivismus). Aber jetzt zur zweiten Frage: Was ist der Anteil der Kunst in der Medizin? Geht sie über das Handwerkliche hinaus? Ist sie additiv zur wissenschaftlichen Medizin? Überlappen sich beide? Sind sie zwei Aspekte des Gleichen?

Ein Kriminalroman von Agathe Christie soll uns der Ant wort näherbringen: Miss Marple und ihr Freund der Bibliothekar verkaufen in einer kleinen Stadt Abzeichen für einen guten Zweck. Sie kommen zu Park und Tor des reichen Mr. Enderby. Das Tor zum Park ist offen, dasjenige zum Ent rée des Schlosses ebenfalls. Sie treten ein. Miss Marple ruft nach dem Schlossherrn. Dieser erscheint auf der Galerie, zu der ein breite Treppe hinaufführt. Er greift sich an die Brust, fällt zusammen und stürzt die Freitreppe hinunter vor die

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Füsse der beiden Besucher. Miss Marple beugt sich zu En derby hinunter und bemerkt zum Freund: «Er ist tot.» Bevor sie die Treppe erklimmt, hebt sie noch einen Klumpen Lehm vom Boden und lässt ihn in ihre Manteltasche gleiten. Sie begibt sich auf die Galerie. Aus einer halb offenen Tür er scheint eine garstige Katze, springt über ihre Schulter und verschwindet. Miss Marple denkt, dass jemand die Katze eingeschleust haben muss im Wissen um Enderbys Katzenphobie, um ihn zu Tode zu erschrecken. Wieder unten bei ihrem Begleiter spricht sie: «Mord!» Sie begeben sich aufs Polizeikommando und setzen sich. Der flotte Chef tritt ein, begrüsst die beiden freundlich und ruft aus: «Miss Marple, doch nicht schon wieder ein Mord? Enderby war herzkrank, das weiss das ganze Städtchen. Ich werde diesem Mordverdacht nicht nachgehen.» «Dann tue ich es», antwortet Miss Marple. Sie denkt an die vier geldgierigen Neffen Enderbys und begibt sich aufs Pferdelandgut der Neffen. Der Abdruck des Stiefels auf dem Lehmklumpen passt genau zur Stiefelsohle eines Neffen. Miss Marple scheint Kunst zu verkör pern, nämlich die Verknüpfung verschiedener Beobachtungen zu einem vereinigenden Konzept (Herzerkrankung = bio; Phobie = psycho; gierige Neffen = soz). Sie hat das Nichtsichtbare in Sichtbares verwandelt, nach Paul Klee ein Aspekt der Kunst. Dazu einige Beispiele: Ein Bündner Hausarzt empfiehlt einer alten Frau, wegen ih rer Bauchschmerzen ins Spital einzutreten. Die Frau: «Muss ich gehen? Verreisen?» Der Arzt erkennt das Unsichtbare, den Doppelsinn der Frage, und antwortet: «Ich hoffe, Sie im Dorf wiederzusehen.» Die Frau schildert ihm noch die letz

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ten Worte ihres Mannes, der wegen Krebs im Spital lag. Er habe gesagt: «Adieu, der Zug ist bereit, ich steige ein, ich verreise.»

Eine Hausärztin 3 erzählt mir in der Supervision von einer über längere Zeit betreuten Patientin, die sich nicht gesund fühlte. In einer der Konsultationen erzählte sie einen Traum. Dort begegnete ihr ein bildschöner, blondgelockter Jüngling, ein Prinz. Die Hausärztin kommentierte, ohne lange zu überlegen: oder eine Prinzessin. Einige Wochen später berichtete die Patientin, es gehe ihr jetzt sehr gut, sie habe sich in eine Frau verliebt, sei mit ihr zusammengezogen, die Beschwer den seien vergangen. Die Hausärztin hat im Sinn von Klee etwas Nichtsichtbares ins Sichtbare gehoben.

Damit wird deutlich, dass Kunst in der Medizin mit dem Unbewussten zu tun hat. Wie kommt der Arzt ihm nahe? Vermutlich durch Einfühlungsvermögen, Empathie. Das Verlorene in der Kunst des Heilens entspricht dem Verzichten auf Empathie, vielleicht sogar ihrem Verlernen während der Ausbildung zum Arzt. Die Abnahme des Mitfühlens und die Zunahme des Sarkasmus im Laufe des Medizinstudiums sind beobachtet worden.

Auf der Chefvisite trete ich in ein Viererzimmer ein. Auf dem ersten Bett sitzt ein junger, kräftig aussehender Mann. Er fährt mich an: «Gehen Sie weiter, ich verzichte auf die Chefvisite.» Er trägt ein T-Shirt, das auf der Brust einen gro ssen Kopf eines Schäferhundes zeigt. Bevor ich weitergehe, bemerke ich zu ihm: «Mich dünkt, dieser Schäferhund muss eine Bedeutung für Sie haben.» Der Patient: «Das war mein einziger Freund, er ist gestorben!» Jetzt lädt er mich ein, Platz zu nehmen, und wir sprechen über Liebe und Verlust und trennen uns am Ende des Gesprächs ruhig und respektvoll.

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Empathie muss mich geführt haben, denn vom Verstand her müsste ich mich zurückgezogen haben, da ich als Achtjähriger von einem Wach-Schäferhund eine tiefe Bisswunde im rechten Oberschenkel erlitten habe. Seither fürchte ich trotz meiner Liebe für Hunde und Katzen grosse und insbesondere Schäferhunde.

Engel, Professor für Innere Medizin und Psychoanaly tiker, mein Lehrer in Rochester, NY, wurde oft an andere Medical Schools eingeladen und begleitete die Ärzte auf ihren Visiten. Der Gastroenterologe trat an ein Bett und erklärte der Patientin, sie dürfe nach Hause zurückkehren, die Leberbiopsie sei normal. Engel beobachtete die Armbewegung der Frau, während der Chef seine Aussage machte. Sie hob den rechten Unterarm und die Hand mit der Handfläche nach oben und liess sie dann in Pronation auf die Bettdecke sinken (Geste der Hilflosigkeit). Engel erfühlte die Bewegung, trat zu ihr, wiederholte ihre Geste und sprach: «Sie dürfen nach Hause gehen?!» 4 Die Frau begann zu weinen und erklärte ihm, ihr Mann betrüge sie und habe sie ver lassen, sie befürchte, einsam zu Hause, mit dem Trinken wieder zu beginnen. Daraufhin wurde die Sozialfürsorgerin eingesetzt.

Empathie mag in bestimmten Situationen die Intuition lenken. Hier sei Jonas Salk (1914–1993, Polio-Impfstoff) zitiert: «Intuition will tell the thinking mind where to look next.»

Wir können die Fähigkeit zur Empathie und die Intuition als einen Aspekt der Kunst in der Medizin auffassen. Die Kunst besteht also im Sichtbarmachen unsichtbarer Zusam menhänge des Patienten und in ihrer Integration in das biopsychosoziale Konzept der Medizin.

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Empathie ist nicht zu verwechseln mit Sympathie, die eine vollständige Identifikation mit dem andern bedeutet. Sie ist auch nicht mit Freundlichkeit und gutem Willen zu verwech seln und zu ersetzen. Empathie zu empfinden, muss begleitet sein von Wissen – etwa über die Entwicklung der Affekte und Denkweisen von der Säuglingszeit bis ins Erwachsenenalter sowie über die Merkwürdigkeiten des Unbewussten –und von einer Schulung in der Fähigkeit, ein Interview zu führen wie das semistrukturierte Interview.5

Publiziert in: SAEZ 2021; 1145–1146.

Referenzen

1. Lown B. The lost art of healing. 1999, Random House, US.

2. Engel GL. The care of the patient: art or science. John Hopkins J 1977; 196: 129–136.

3. Adler RH, Albrecht J. 2012; Hausarzt und Traum. Swiss Med. Forum 12: 420–421.

4. Adler RH. Die Geste der Hilflosigkeit in der Arzt-Patient-Beziehung. Praxis 2018; 107: 1127–1128.

5. Adler RH, Hemmeler W. Anamnese und Körperuntersuchung 1992, G. Fischer Verlag, Stuttgart, Jena, New York; 3. Aufl.

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Ist der Patient Patient oder Kunde?

Im Protokoll der SGAIM-Qualitätskommission vom 17. 12. 2017 wird der Patient zum Kunden. Darüber habe ich mich aufge halten und einen Leserbrief geschrieben.1 Der Präsident der Qualitäts-Kommission hat eine Replik verfasst, bei der mir unklar bleibt, warum er an der Ersetzung des Begriffs «Patient» durch «Kunde» festhält.2 «Kunde» wirkt harmlos, ver birgt aber einen tiefgreifenden Wandel in der heutigen Medizin, der dem ärztlichen Beruf und den Patienten schadet.

Zwei Geschichten

Ich versuche die Unterschiede zwischen Patient und Kunde anhand zweier selbsterlebter Geschehnisse zu klären. Im Sommer 2017 verbrachte unsere Familie einige Tage mit Freunden. Deren Tochter trug einen Kaftan, eine Art Über wurfkleid. Er gefiel meiner Frau. Nach unserer Rückkehr blätterte sie in einem Modekatalog, entdeckte einen Kaftan und bestellte ihn online.

Im Frühling 2016 liess ich das Stethoskop bei einem Haus besuch liegen. Zu Hause holte ich ein altes hervor. Um seine Qualität zu prüfen, setzte ich es bei mir selbst am Erb’schen Punkt auf. Zuerst staunte und dann erschrak ich: Ich hörte ein 5/6 lautes, hochfrequentes, holosystolisches Geräusch bis in die vordere Axillarlinie ausstrahlen. Gleichentags bestätigte meine Praxiskollegin meinen Verdacht auf eine Mitralklap peninsuffizienz und meldete mich bei einem Kardiologen an. Es stellte sich heraus, dass er und mein Sohn zusammen berg-

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steigen. Das gab mir ein gutes Gefühl. Dennoch beunruhigte mich der Bescheid einer schweren Klappeninsuffizienz mit leicht erweitertem linken Vorhof. Der Arzt erlaubte mir jede sportliche Betätigung und gab mir einen Kontrolltermin in sechs Monaten. Ich blieb symptomfrei und machte mit mei ner Familie einige Bergtouren. Bei einem Mittagessen mit meinem früheren internistischen Chef erzählte ich ihm von meinem kardialen Problem. Er riet mir von Anstrengungen ab. Die zwei Meinungen verunsicherten mich. Der Herzchi rurg nahm sich Zeit und bekräftigte die Beurteilung durch den Kardiologen. Einen Operationstermin festzulegen, hielt er für verfrüht. Es gebe Algorithmen für die Indikation, im Einzelfall hülfen sie aber nicht. In den Jahren 2000 und 2002 machte ich eine Pericarditis durch. Die Echokardiografien waren damals in Bezug auf die Klappen unauffällig.

Reaktionen von Kundin und

Patient

Meine Frau als Kundin: Gefallen am Kaftan – Vorfreude –anregende Suche – Finden eines Kaftans – freiwilliger Kauf ohne Kontakt zu einer Verkäuferin – Kaftan von Freundin gekürzt ohne nachteilige Folgen für das Kleidungsstück.

Ich als Patient: Diagnose einer schweren Mitralklappeninsuffizienz – Staunen, Schreck, Unsicherheit – gezwungen, Hausärztin beizuziehen – Einwilligen in die kardiologische Untersuchung – gespanntes Erwarten der Diagnose – weitge hendes Vertrauen in den Arzt – dennoch banges Warten auf das Konsilium beim Herzchirurgen – Unsicherheit, weil Zeitpunkt für eine Operation nicht gegeben werden kann – Vorschlag der Kontrolle in sechs Monaten – fast tägliches Prüfen der Regelmässigkeit des Pulses und ob sich beim Nordic Wal king auf vertrauten Wegen erschwertes Atmen einstellt.

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Vergleich zwischen Patient und Kundin

Die Kundin wählt den Zeitpunkt des Kaufs ohne Bedrängnis. Der Patient wird durch die Entgleisung seines psychischen und körperlichen Gleichgewichts zum Handeln gezwungen. Entzöge er sich dem Zwang, würde er sich selbst schädigen. Die Kundin fühlt Freude, der Patient Bedrohung, Angst, Unsicherheit. Die Kundin kann Ort und Zeit sowie den Gegen stand frei und unbeschwert wählen und auf eine Verkäuferin verzichten. Der Patient vermag Arzt und Zeitpunkt der Ab klärung nur ganz beschränkt mitzubestimmen. Er wird abhängig. Der Kaftan erleidet durch die Kürzung keinen Scha den. Der Patient muss Folgen einer Herzoperation in Kauf nehmen. Die Kundin bleibt seelisch im Gleichgewicht. Der Patient erlebt episodisch Angst, Unsicherheit, ja sogar den Gedanken, nach einem Eingriff invalid zu werden oder zu sterben.

Ursachen für die Bezeichnung des Patienten als Kunde Es gibt zwei Gründe für das Ersetzen von «Patient» durch «Kunde». Einmal die Einführung von Physik und Chemie als Basis in die Medizin. Als Beleg dafür steht die Aussage von zwei bedeutenden Forschern im 19. Jahrhundert: Von Brücke und du Bois-Reymond schrieben sich auf die Fahne, dass sie nicht eher ruhen wollen, als bis das lebende System Mensch vollständig physikalisch-chemisch erklärt ist. Damit wird der Patient zu einem Werkstück, das in der Reparaturwerkstätte geflickt wird.

Dazu ein Beispiel: Die Auskultation des Herzens musste während meiner Assistentenzeit in der Inneren Medizin mit dem Stethoskop mühsam erlernt werden. Neuerdings gibt es ein Instrument, das man in der Herzgegend aufsetzt.

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Es überträgt die akustischen Phänomene besser, zeichnet sie auf, leitet sie weiter an ein Zentrum, wo die Diagnose gestellt und dem Arzt gemeldet wird. Im Gebiet der Medi zin gibt es eine Vielzahl ähnlicher technischer Fortschritte. Sie erlauben es dem Arzt, eine grosse Menge von Daten zu sammeln und aus ihnen Diagnosen und Therapien abzuleiten, ohne mit dem Kranken in echten Kontakt zu treten.

Die Gefahren solchen Vorgehens haben eminente Ärzte schon früh im 20. Jahrhundert erfasst. So mahnte Harvey Cushing, Neurochirurg, dass der Arzt nicht nur die Krankheit, sondern den Patienten mit der Krankheit, und nicht nur diese beiden, sondern Krankheit und Patient in seiner Umwelt zu erfassen hat, und Francis Peabody betonte, «the secret of the care of the patient is in caring for the patient».

Dazu ein Beispiel: Eine 50-jährige Frau ruft ihre Kran kenkasse an, weil sie gemäss Vertrag vorher keinen Arzt aufsuchen darf. Sie hat Druckgefühle auf der Brust. Sie fragt, ob sie zu ihrem Hausarzt gehen dürfe, der nebenan wohnt und praktiziert. Die Auskunftsperson besteht darauf, dass eine Ambulanz sie abholt und ins Bezirksspital bringt. Dort wird sie untersucht, EKG und Echokardiogramm so wie die Herzenzyme sind normal. Weil ihre Mutter etwa im gleichen Alter angeblich an einem Herzinfarkt verstorben ist, wird sie in die 50 Kilometer entfernte kardiologische Uni-Klinik transportiert. Die eingehende Untersuchung, eingeschlossen eine Koronarangiografie, schliesst eine Erkrankung des Herzens aus. Psychisch sei die Frau nicht auffällig. Der Hausarzt erfährt einige Tage später von der Patientin, dass sie seit drei Monaten sehr schlecht schlafe, weil sie seelisch belastet sei.

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Dann die zweite Komponente: Der Arzt beziehungsweise die vielen Ärzte, die beim einzelnen Patienten beigezogen werden, meinen, aus Zeitgründen keine fundierte Anamne se mehr aufnehmen zu können, denn das ärztliche Gespräch wird auf 20 Minuten beschränkt. So fehlt die Empathie, und die Entstehung eines Arbeitsbündnisses, der «working alliance» (R. Greenson), wird behindert. Der vermeintliche Vorteil für den Arzt besteht darin, dass er sich die Gefühle vom Leib halten kann, die ein gutes Arbeitsbündnis in ihm auslösen würden. Die unmögliche Formulierung der Qualitätskommission der SGAIM 2 bildet diese Situation ab: Der Arzt soll priorisierend, strukturiert und partizipativ die Entscheidungsfindung durchführen (sic); so ein Quatsch. In einem kürzlich publizierten Verwaltungsgerichtsurteil gegenüber einem Arzt, der Geld an die Krankenkasse zurück erstatten soll, wird festgehalten, er habe keine Alltagssorgen zu besprechen, keine Anteilnahme auszusprechen, Patienten auch auf deren Wunsch hin nicht zu beraten und zu bedauern, keine Zuwendung auszusprechen und keine Lebensberatung zu erteilen (damit sind wir beim Kunden).

Schlussfolgerungen

Der Patient ist kein Kunde, weder im Spital, beim Haus- noch beim Spezialarzt. Ihn als Kunden zu bezeichnen, schliesst das Psycho-Soziale aus, das wie das Biologische zur Natur des Menschen gehört, eingeschlossen die Beziehung zwischen Patient und Arzt.

Ein modernes Forschungsgebiet, die Epigenetik, lässt erkennen, wie psychische und soziale Faktoren im Menschen wirken, und zwar bis auf die Ebene der Gene. Ihre Aktivität oder Blockierung wird durch diese Faktoren moduliert.

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Es gilt also, die Ärzte schon in ihrer Studentenzeit in der Er fassung und der Integration biologischer, psychischer und sozialer Gegebenheiten auszubilden. Damit ist keineswegs ein eigenes Fachgebiet Psychosomatik gemeint, sondern die Notwendigkeit der Integration biologischer, psychischer und sozialer Faktoren in die Medizin. Die Weiterentwicklung der Technik in der Medizin darf nicht ein Weniger, sondern soll im Gegenteil ein Mehr an Berücksichtigung der psychosozialen Aspekte bringen.

Nachtrag: Eine praktische Antwort auf die eingangs gestellte Frage «Patient oder Kunde» haben Kranke einer psychiatrischen Poliklinik gegeben 3 : 77 Prozent verstanden sich als Patient und 23 Prozent als Klient.

Publiziert in: SAEZ 2018; 99(37): 1244–1245.

Referenzen

1. Adler R.H. Qualitätskontrolle zeugt von fehlendem Vertrauen. SAEZ 2018; 99: 882.

2. Brühwiler J. Replik auf den Leserbrief von Prof. Adler. SAEZ 2018; 882–883.

3. Editorial The Lancet 2000; 356, Nr. 9248.

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Im Schmerz gefangen: wer, wie und warum

EinSchmerzzustand, der mehr als sechs Monate dauert, wird als chronisch bezeichnet. Wir sollten statt «chro nisch» besser «anhaltend» verwenden1, denn so lassen wir offen, ob der Schmerz in Zukunft abklingen wird. Ärzte sol len nicht Prophet spielen. Erst wenn wir noch mehr vom Phänomen Schmerz verstehen, vermögen wir, zu vermuten, ob ein Schmerz bleiben oder sich zurückbilden wird. Anhand von vier Patientenbeispielen soll geklärt werden, bei welcher Symptomentstehung in der Lebensgeschichte ein Mensch anhaltend oder vorübergehend zum Gefangenen von Schmerz wird.

1. Die 74-jährige Mutter von sieben Kindern, deren Erstin terview verbatim publiziert worden ist 2 , litt zehn Jahre lang an dauernden, sehr intensiven Schmerzen im Ge sicht. Sie gingen vom rechten Unterkieferast aus, strahlten über den Nasenrücken in die linke Stirn, dann in die rechte und von dort in den behaarten Kopf, sodass sie sich wegen Schmerzverstärkung nicht mehr kämmen konnte. Die Schmerzen waren so stark, dass sie wiederholt daran dachte, sich das Leben zu nehmen. In den letzten Jahren war sie mehrmals mit modernen Mitteln abgeklärt worden. Keine Behandlung half. Es wurde an eine Trigeminusneuralgie gedacht. Sie erwähnte in meinem Erstinterview, dass einer ihrer Söhne vor zehn Jahren mit dem Auto in einen Baum geprallt und sofort tot gewesen sei. Ein Bruder des Verunglückten habe sie

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ersucht, den Toten nicht zu besuchen, sein Gesicht sei dermassen entstellt. Sein rechter Unterkiefer sei zerstört. Jetzt brach sie schluchzend zusammen und rief aus, dass drei Wochen danach ihr Schmerz begonnen habe. Die Symptombildung ist klar. Sie erfüllt die Kriterien der Konversion.3 Der Zeitpunkt der belastenden Situation und der Symptombeginn korrelieren sinnvoll. Die Lokalisa tion des Symptoms geht auf die Gesichtsverletzung des Sohnes zurück und stimmt mit ihr überein. Die Art des Symptoms entspricht den Schmerzen, die sie durch die Identifikation mit dem Sohn erlebt. Der primäre Gewinn besteht im Vermeiden des Trauerns.

2. Ein 56-jähriger Mann verbringt Ferien in den Bergen. Nach einer leichten Wanderung erfrischt er sich im Pool des Hotels. Kurz nach dem Eintauchen wird er panisch und hat Herzschmerzen. Seine Frau bringt ihn sofort zum Dorfarzt. Dieser findet keine Anhaltspunkte für einen Herzinfarkt. Seine Frau fügt an, ihr Mann sei in den letzten sechs Jahren jährlich zwei- bis dreimal als Herznotfall in ein Spital gebracht worden. Die Untersuchungen hätten keine Zeichen für Infarkte ergeben. Der feinfühlige Arzt fragt den Mann, ob er jemals mit Wasser unliebsame Erlebnisse gehabt habe. Jetzt erzählt er, er sei in einem Heim aufgewachsen. Ein Erzieher habe ihn immer wieder, wenn ihm sein Verhalten nicht ge passt habe, im Brunnen unter Wasser gezwungen und ihn erst wieder auftauchen lassen, wenn er in Todesangst war. Auf diese Aussagen hin wird der Patient ruhig, die Schmerzen vergehen. Anderthalb Jahre nach diesem Vorfall berichtet der Patient dem Dorfarzt, er habe nie wieder Herzschmerzen erlitten, sei nie mehr als Notfall einge -

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wiesen worden und sei jetzt besser fähig, Nein zu sagen. Hier handelt es sich um eine posttraumatische Panikstörung mit psychophysiologischen Schmerzen im Thorax bereich.

3. Eine 49-jährige Frau wird in unsere Supervisions-Gruppe zum Interview gebracht. Ich frage nur nach ihrem Namen, um unvoreingenommen zu sein. Notizen während des Gesprächs mache ich nie, um empathisch zu bleiben.4 Sie seufzt und lächelt zugleich merkwürdig. Sie sei völlig erschöpft, müsse liegen, habe schon als Kind fünf Nasenoperationen durchgemacht, leide an Asthma und Diskushernien. Dann liest sie von einem Blatt ihre zusätzlichen Krankheiten ab: Bauchkrämpfe, verschiede ne Allergien, Neurodermitis, Fibromyalgie, Immunstörung, mehrere Selbstmordversuche, Gallenblasenoperati on. Die Eltern hätten sich geschieden, als sie siebenjährig gewesen sei. Sie habe Missbrauch mit mehreren Verge waltigungen hinter sich. Ihr Ehemann schlage sie oft. Nach dem Interview besprechen wir das Vernommene und Gesehene. Wir vermögen keine präzise Diagnose zu stellen (nicht jedes Leiden braucht eine Diagnose5). Die in den letzten Jahren beobachteten, vom ZNS im Rückenmark absteigenden Bahnen, welche die afferenten, zentripeta len Schmerzimpulse hemmen, vermögen das Geschehen kaum zu erklären. Das eigenartige Lächeln beim Schil dern stärkster Beschwerden erinnert an eine «belle indifférence».6 Die diffuse Symptombeschreibung passt dazu. Das Blatt mit den Krankheiten ist das von William Osler als «maladie du petit papier» bezeichnete Syndrom7, 8 , das vordergründig dem Arzt zu helfen scheint, aber als Widerstand von den persönlichen Problemen ablenkt.

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Die schwere Kindheit und Jugend sowie das Krankheits verhalten als Erwachsene haben die Frau zur SchmerzGefangenen gemacht.9, 10 Ob bei unserer Patientin Kon versionen, Identifikation mit einem leidenden Elternteil und/oder Konditionierungen (Zuneigung der Eltern nur bei Krankheit, Unfall oder nach hartem Bestrafen) vorliegen, vermag das Erstinterview nicht zu beantworten. Einige Tage später bringt mir die Hausärztin die gesammelten Krankenunterlagen. Sie wiegen 9,5 kg! Unter an derem hat die Patientin auf einem Körperschema-Blatt zur Frage der Schmerzlokalisation alle Gelenke (sic) angekreuzt mit einer Schmerzintensität von 10 auf der Schmerzskala von 0 (kein Schmerz) bis 10 (unerträglicher Schmerz). Sie hat im Verlaufe ihrer Krankheit 34 Ärzte beigezogen.

4. Eine 60-jährige Frau wird vom Orthopäden überwiesen. Er sieht von einem Eingriff am Knie ab, denn die Schmer zen sind nicht einer eindeutigen Pathologie zuzuschreiben. Vor zehn Jahren hat sie sich beim Skifahren am Knie verletzt. Seither bestehen dauernd Schmerzen. Sie sind schwer zu beschreiben. Acht Eingriffe am Knie hat sie hinter sich. Die Schmerzen lassen sich durch keine Aktivität oder Stellungsveränderung steigern oder vermindern. Opioide, Analgetika, Antidepressiva, Tegretol, Neurostimulation, Lidocaininfusionen, Durchtrennung von Ästen des N. saphenus, Entfernung von Neuromen, Physio- und Ergotherapie blieben wirkungslos. Analgetika haben aber Migräneanfälle günstig beeinflusst. Sie ist das achte von elf Kindern. Der Vater war Alkoholiker, erbrach sich im Haus, die Familienmitglieder hatten das Erbrochene auf zuputzen. Von älteren Brüdern wurde sie gepeitscht, auf

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