CHRISTIAN RAAFLAUB
Die Stadt im Walde
GURNIGELBAD
Seit jeher fasziniert von der Legende des Gurnigelbads, hat Christian Raaflaub dem einstigen Grandhotel bei Riggisberg BE nach fast 40 Jahren akribischer Recherche ein Buch gewidmet: Erstmals ist die Geschichte des prunkvollen Heilbads in Wort und Bild gefasst. Zur Blütezeit trafen sich 700 Gäste aus 40 verschiedenen Ländern im p alastartigen Gebäude auf dem Hügel im Wald. «Gurnigelbad – Die Stadt im Walde» d okumentiert die glanzvolle Zeit und den dramatischen Untergang des K urhotels. Das Buch umfasst mehr als 300 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, Erläuterungen zu medizinischen Erfolgen der Heilquellen, Anekdoten und alte Briefe – zum Beispiel des Schriftstellers Jeremias Gotthelf.
GURNIGELBAD
«Der Verfasser beglückt uns mit einer hochinteressanten und amüsanten Darstellung des mondänen Lebens im Kurhotel (…). Die reichhaltigen Dokumente und Bilder sind so gut beschrieben, dass man sich ‹die Stadt in den Bergen› lebhaft vorstellen kann.» Auszug aus der Laudatio zur Preisverleihung der Stiftung Kreatives Alter Zürich, 2020
ISBN 978-3-03818-186-6
Werd & Weber Verlag AG CH-3645 Thun / Gwatt www.weberverlag.ch www.werdverlag.ch
CHRISTIAN RAAFLAUB
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GURNIGELBAD DIE STADT IM WALDE
Christian Raaflaub
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Impressum Alle Rechte vorbehalten, einschliesslich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe. © 2018 Werd & Weber Verlag AG, CH-3645 Thun / Gwatt 3. Auflage 2021 Autor: Christian Raaflaub Werd & Weber Verlag AG Gestaltung Umschlag: Sonja Berger Satz: Susanne Mani Lektorat: Madeleine Hadorn Korrektorat: Lisa Inauen ISBN: 978-3-03818-186-6 www.werdverlag.ch www.weberverlag.ch
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INHALTSVERZEICHNIS Liebe Leserin, lieber Leser, dieses Buch …
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Es war einmal … Schwefelwasser und Suppe
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Essen und Trinken im Gurnigelbad
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Musik und Geselligkeit
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Massenlager für Minderbemittelte
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Entdeckung der dritten Quelle
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Wie entstehen die h eilsamen Wasser?
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Medizinische Erfolge der «heilsamen Wässer»
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Besitzer, Quellen, Ärzte und «Werbung»
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Die Epoche Hauser ab 1861
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«Zeugnis» 136 Gottesdienste im Gurnigelbad
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Das Bellevue
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Hausers letzte Jahre
156
Der Gurnigel-Waldpark
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Wie kam man ins Gurnigelbad?
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Das Postkartensujet
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Ein Hotelbrand erschüttert die Schweiz
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Wie ein Phönix aus der Asche
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Die Engländer und der Wintersport
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Wo Filzbälle fliegen lernten
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Mit Vollgas den Berg hinauf
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Konkurs und neue Blüte
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Die Armee übernimmt
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Die neue Bescheidenheit
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Chronologie der Ereignisse
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Dank
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Sponsoring 321 Quellen
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Bildnachweis
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Literaturnachweis 331 Über den Autor
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LIEBE LESERIN, LIEBER LESER, DIESES BUCH …
… verdankt seine Entstehung einem ungläubigen Staunen. 1969 konnte ich in Riggisberg ein Haus erwerben, gegenüber dem Gurnigel. Ich habe den Berg seit fast 50 Jahren täglich vor Augen. In der Dorfdruckerei liess ich 1970 meine Geschäftsdrucksachen herstellen und sah dort ein Plakat mit dem Gurnigelbad-Hotel in Farbe, wie es nun als Carte postale im Buch Seite 247 abgebildet ist. Auf meine Frage, wo sich denn dieses wunderschöne, schlossähnliche und gigantische Hotel im Gurnigel befinde, lachte der Drucker und erklärte mir, dass es 1946 / 47 und restlich 1955 von unserer Armee gesprengt worden sei. Ich konnte es kaum glauben! Mein Interesse an diesem Palastbau und seiner Geschichte war sofort geweckt. Durch meinen damaligen Beruf hatte ich Zugang zu Geschäften, die alte Ansichtskarten und Cartes postales verkauften. Später konnte ich solche auf Auktionen in verschiedenen Ländern Europas erwerben, auch Stiche, Aquatintae sowie Lithografien kamen dazu. Nach meiner Pensionierung 2003 begann ich unermüdlich, wieder nach Ansichtskarten oder Cartes postales zu suchen. Immer mehr tauchte ich in die Entstehungsgeschichte des Gurnigelbades ein. Auf Auktionen konnte ich Broschüren von ehemaligen Kurärzten erwerben, ebenso Beschreibungen des Bades früherer Gelehrter. Ich traf auf Gleichgesinnte, die sich ebenfalls und auch seit langer Zeit für das Gurnigelbad interessierten. «Man muss ein bisschen verrückt sein, sich damit zu befassen», meinte einer dieser ebenfalls «Verrückten». Zug um Zug wurde mir nun Material zur Verfügung gestellt – Dokumente, mir noch nicht bekannte Ansichtskarten, Abbildungen der früheren Gurnigelbad gebäude und vieles mehr. In der Schweiz existieren mehrere Museen, die Unterlagen zur Geschichte des Gurnigelbades in vielfältiger Form tief in ihren Archiven hüten, die nie jemand zu Gesicht bekommt. Ich versuchte, an möglichst viele Bilder, Dokumente und Unterlagen jeder Art zu gelangen. Und mit grosser Ehrfurcht hielt ich die drei Originalbriefe von Albert Bitzius alias Jeremias Gotthelf, geschrieben an seine Ehefrau aus dem Gurnigelbad, in den Händen.
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In der Schweiz hat jede Ruine, jedes Schloss oder jedes schlossähnliche Gebäude seine Geschichte, und in vielen Fällen ist ebenso die Geschichte seiner Erbauer und Bewohner bekannt. Ich hoffe, damit dem sogar zweimal erbauten Grandhotel Gurnigelbad, seiner Geschichte und seinen über Jahrhunderte tätigen Erbauern, Erweiterern, Betreibern und Gästen eine bleibende Erinnerung zu schaffen. Eine Chronologie der Ereignisse finden Sie auf Seite 317. Es ist damit ein Buch wider das Vergessen dieser Vergangenheit, wider das Vergessen, wie viel Gutes ein Mann wie Johann Jakob Hauser und seine Familie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus für diesen Teil des Kantons Bern geleistet haben. Ich lade Sie als Leserin/Leser herzlich ein, sich in mein Buch zu vertiefen und sich inspirieren zu lassen von der damaligen Stimmung in zwei ganz besonderen Grandhotels – den grössten, die je in der Schweiz erbaut wurden. Ihre Geschichte begann 1561, brach 1902 in einem Feuersturm ein, stieg 1905 buchstäblich wieder wie Phönix aus der Asche, um 1946 nicht in Schönheit zu sterben. Ich bin weder Historiker noch Altertumsforscher. Alle Jahreszahlen und weiteren Daten, Orte und Personen habe ich zur Verifizierung mit verschiedenen Quellen abgeglichen. Aber auch diese könnten unter Umständen schon nicht ganz exakt sein. Für etwaige Ungenauigkeiten oder Fehler entschuldige ich mich deshalb in aller Form. Sollte jemand noch erwähnenswerte Unterlagen/Gegenstände/Bilder besitzen, ich bin Abnehmer! Und vielleicht kann alles einmal in natura für das Publikum sichtbar gemacht werden, wer weiss? Christian Raaflaub, Riggisberg, vis-à-vis Gurnigel, im September 2018
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ES WAR EINMAL… S CHWEFELWASSER UND SUPPE
1560 durchstreiften eine frohgemute Patrizierschar und einige wohlhabende Bürger auf der Jagd die riesigen Gurnigelwälder. Beute war dank treibenden Hunden gewiss. Eine Gruppe Jäger gelangte beim Erkunden des unergründlichen Waldes in ein seichtes und übelriechendes Gebiet. Hühnereier, die zu spät gefunden und aufgeschlagen wurden, stanken genau wie dieses Sumpf gebiet. Wie sich bei Nachforschungen ergab, war es das Quellgebiet des «Stink-» oder «Stockbrünnelis», das offen Schwefel, kohlensauren Kalk, Kohlensäure, Magnesium und Natriumchlorid enthielt. In verschiedenen Dokumenten ist zu lesen, dass das ganze Gurnigel- und Gantrischgebiet von Bären, Wildschweinen, Wölfen, Hirschen, Luchsen, Rehen, Hasen und Federvieh besiedelt war. Dieser immense Bergwald war für die damaligen Patrizier und die wohlhabenden Bürger ein wunderbares Jagdgebiet. Flurnamen wie Bärenvorsass, Bäreloch, Bärenwartsstöck, Hirschhorn, Hirschmatt, Wolfsbödeli, Wolfsschlucht, Wolfegrabe und Wolfsegg erinnern noch heute an die hier längst ausgestorbenen oder durch die Jagd ausgerotteten Tiere. Der letzte Bär in der Region wurde am 17. Mai 1819 in der Bäuert Riedern, Gemeinde Diemtigen, also auf der hinteren Seite des Gantrischgebietes, erlegt. Das Schussgeld für den Jäger: 50 Franken, mehr als ein damaliger Monatslohn! Die riesigen Waldungen des Gurnigelberges sind durchzogen von Bächen, Rinnsalen, weiten Sumpfgebieten und Gräben aller Art, in denen nach der Schneeschmelze bis in den Herbst immer mehr oder weniger Wasser fliesst. Meist entwässert sich heute ein Sumpfgebiet in eines dieser Rinnsale. Dieses Wasser ist farblos. Es verfärbt sich aber, kaum mit Sauerstoff in Berührung gekommen, grau-trüb, und der Geruch nach verfaulten Eiern, also Schwefelwasserstoff, sticht in die Nase. In einer verschlossenen Flasche bleibt dieser unangenehme Geruch sogar monatelang erhalten.
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1561 wird diese heilsame Quelle erstmals schriftlich erwähnt. Sie wurde zum «Stockbrünneli», weil sie aus einem hohlen Stock, also einem vermoderten Baumstamm, der ihr als natürliche Öffnung diente, geflossen sein soll. Aus «Gesellschaft zum Schwarzen Garten 1821»: «Sehr merkwürdig und allerdings hieher gehörend ist aber eine Entdeckung, die man erst vor ein paar Jahren (1815) ganz unerwartet nahe bei dem Stockbrunnen zu machen Gelegenheit hatte, dass, vielleicht vor mehr als 300 Jahren (denn nicht nur wusste von dem jetzt lebenden Geschlechte niemand etwas davon, sondern auch die ältesten noch vorhandenen Schriften und Titel von dem Gurnigel schweigen hierüber) dass nämlich von der Quelle weg ein bergmännisch g ebauter Stollen, dessen Länge, soviel sie bis in den letztjährigen Sommer b ekannt war, 227 Fuss (1 Fuss entspricht 20 cm, Anm. d. Verf.) beträgt. Hin und wieder war freylich der Stollen durch die Länge der Zeit zerfallen, und der B oden mit einem zähen Schlamm bedeckt, der nach der erfolgten Z erlegung Herrn Pagenstechers (Johann Samuel Friedrich Pagenstecher (1783–1856), Apotheker an der Kramgasse in Bern, publizierte viele seiner Untersuchungen in Fachzeitschriften, Anm. d. Verf.) in Bern volle 66 % reinen Schwefels enthält, was einen ansehnlichen Schwefelgehalt des Wassers ziemlich überzeugend darthut.» Zitat aus dem Schwarzenburger Altjahrsblatt 1993: «Einige Altertumsforscher waren der Meinung, der alte Stollen sei schon zur Römerzeit angelegt worden. Den Römern waren auch andere Heilbäder bekannt. Römische Münzfunde von 1770 – in einem Tontopf 50 Silber- und 2 Goldmünzen aus römischer Kaiserzeit – hier in der Gegend von Holzfällern in den Wurzeln einer Tanne entdeckt, sowie ebensolche Ruinen im Muri bei Riggisberg deuten darauf hin, dass die Heilkraft der Quelle schon damals bekannt und benutzt wurde.»
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Der kolorierte Stich um 1810 von Franz Hegi aus Zürich (1774–1850) zeigt das Stockbrünneli mit gedeckter Quelle im Charlottenbühl auf freier Weide.
Auf dieser Variante des Stichs von Franz Hegi um 1810 ist zu erkennen, wie sich ein Pferdewagen mit gefüllten Fässern für die Badebottiche auf den Weg hinunter zum damals bereits bestehenden Badhotel macht.
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Dieser Stich von Franz Hegi zeigt die Innenansicht des S tockbrünneli und das links davon stehende Häuschen für die Notdurft.
Da das Stockbrünneli inmitten einer Alpweide lag, wurde es zum Schutz gegen Zerstörung durch das Vieh eingezäunt. So konnten die Badegäste hier unter Dach, ungestört und vor Regen geschützt, ihre tägliche, vom Badearzt verschriebene Anzahl Gläser Kurwasser trinken. Der Wasserfuhrmann wurde «Wasserfritz» genannt. Aquatinta des S tockbrünneli, von Franz Hegi, ca. 1810.
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Für die Personen, welche die tägliche Trinkkur absolvierten, aber aus gesundheit lichen Gründen nicht mehr in der Lage waren, den täglichen Aufstieg zur gefassten Quelle unter die Füsse zu nehmen, waren die «Wassermäde» da. Es handelte sich dabei um Mägde, die für diese Tätigkeit angestellt wurden. Die «Wassermäde» trugen das für diese Kurgäste in Flaschen abgefüllte Wasser in Hutten ins Hotel. Das Kurwasser war gratis, wenn es aber in Flaschen gebracht werden musste, wurde ein geringer Betrag in Rechnung gestellt. Ende 1890 soll im Bahnhof Bern ein Werbespruch zu lesen gewesen sein: «Das Wasser am Gurnigel, das ist zu vielem nutz.» «Es wurde eine feste Laube über dem Brünnelin erbauet, erstellen tath man einen festen Pflästerweg durch die K uhtrittlinge und Güllenlöcher der Viehweide zum Tempel der Verjüngung.»
Diese undatierte Aquatinta von Franz Hegi zeigt ein gedecktes Gebäude (Stockhütte als frühestes Badhaus?) neben der ebenfalls gedeckten Fassung des Stockbrünneli um 1815 bis 1820 im Charlottenbühl. Aus den Kleidern der Gäste ist zu schliessen, dass nur «Gutbetuchte» sich eine Schwefelwassertrinkkur leisten konnten.
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Wenn man bedenkt, dass eine wirkliche Kur pro Tag zwei Becher beanspruchte und die Kurgäste damals hinaufstiegen und hinunterwanderten, dazu zum Frühstück die später erwähnte «Gurnigelsuppe» essen mussten sowie die gesunde Gurnigelkost genossen, wurden sie schon durch die Bewegung und das Gehen an der ozonreichen Luft gestählt. Viele Gäste wollten das Wasser auch daheim nicht missen. Um 1890 betrug der Preis der grossen Flasche, etwa zwei Liter fassend, 60 Rappen, Verpackung und Gebinde wurden ganz günstig berechnet. Bendicht Berger, (1857–1951), Meisterküher (Chef der Kuhhirten) des vielfältigen Landwirtschaftsbetriebs am Gurnigel, erzählte 1947 in einem Interview anlässlich seines 90. Geburtstags im Jahrbuch Guggisberg 1947 / 48, dass er in den 1880er Jahren zusätzlich oft Mitarbeiter abgeben musste zum Transport von Fässern und Flaschen an die Depots des Gurnigelwassers in Bern und im Blumensteinbad. Depots des Wassers in Flaschen waren ausserdem in mehreren Städten der Schweiz wie Thun, Burgdorf, Biel, Basel, Zürich, Neuenburg, Genf sowie in weiteren grösseren Ortschaften der Schweiz vorhanden. Berger hatte schon als kleiner Bub seinen Vater bei der Arbeit in der Gurnigel- Küherei begleitet. Hotelier Johann Jakob Hauser (1828–1891) entdeckte dessen Fähigkeiten und machte ihn bereits in jungen Jahren zum Meisterküher des vielfältigen Landwirtschaftsbetriebs am Gurnigel. Hauser selbst wiederum kaufte 1861 das Heilbad Gurnigel und baute es zum international bekannten Kurhotel aus. Zur Hoteldynastie Hauser gehörten unter anderem auch das Hotel Giessbach, das Hotel Schweizerhof in Bern, das Bad Weissenburg, das Hotel Rigi-Scheidegg und Häuser in Italien, Frankreich und Deutschland. Von 1875–91 war Hauser Berner Grossrat, 1881–91 Nationalrat, wo er die Mitte, später die Radikaldemokraten vertrat. Bedingt durch die Grösse des Hotelbetriebes waren ständig eigene Kutscher und Fuhrleute im Einsatz, etwa für das Zuführen der Lebensmittel, der Getränke und für die Ausflüge der Gäste. Bendicht Berger gibt uns auch einen Einblick in die Lohnverhältnisse um 1880: bester Arbeiter-Taglohn Fr. 1.70 bis 1.80, während der Heuernte plus 20 Rappen. Nach einigen Jahren erhöhte sich der Taglohn auf Fr. 2.– bis Fr. 2.50. Die Arbeitstage begannen bei der Morgendämmerung und dauerten bis zum Einbruch der Nacht. 11
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Ein Arbeiter hätte sich mit dem Lohn eines Tages nur drei bis vier Flaschen Kurwasser zu 60 Rappen leisten können. Als Berger nach drei (!) Jahren erstmals seinen Lohn beim Buchhalter abholte – er hatte sich mit den Trinkgeldern von Gästen und dem Zuschuss seines Bruders über Wasser gehalten –, war er erstaunt über die ausbezahlte Summe. Georg Brechbühl erzählte mir, dass der Lehrer Jakob «Jacques» Tschumi (1844–1912) aus Farnern BE zur Zeit des Hotelbesitzers Johann Jakob Hauser Buchhalter gewesen war. Brechbühl und seine Frau Ruth waren beide ab 1951 Lehrer in der Schule Rüti bei Riggisberg und besitzen viel unermüdlich gesammeltes Material zum Gurnigelbad, das sie für das vorliegende Buch zur Verfügung gestellt haben. Tschumi habe sich, so Brechbühl, während der Hotelsaison vom 1. Juni bis Mitte Oktober als Hauslehrer für die drei Kinder der Familie Hauser ein Zubrot verdient. Er forderte jeweils für seine Schule einen Lehrer- Praktikanten an und beauftragte diesen mit der noch oder wieder in die Hotelsaison fallenden Unterrichtszeit. So bezog er den Lohn als Lehrer und dazu den Lohn als Buchhalter im Hotel, und der Praktikant konnte mit einem Taschengeld entlöhnt werden. Über die Jahre machte Tschumi im Hotelbereich eine beispiellose Karriere: Er wurde als Buchhalter und «Vize» zur rechten Hand von Johann Jakob Hauser. Wie aus Notizen einsehbar, verbrachte Hauser wie Tschumi den Winter öfters in Cannes (möglicherweise im Hotel, das ebenfalls der Hauser-Familie gehörte?).
Jakob «Jacques» Tschumi (1844–1912), Gründer der Hotelfachschule Lausanne: Anlässlich der Abschlussfeier 1912 ehrte einer der diplomierten Schüler, L. Rolandais, zum obigen Bild gewandet, Tschumi mit folgenden Worten: «N’oublions pas les absents, Messieurs. L’Ecole, comme l’a si bien dit notre Président, a perdu, il y a quelques jours, son père. Celui qui l’avait enfantée en quelque sorte, son ‹papa›, a disparu. Qu’il reçoive lui aussi toute notre reconnaissance et que le nom ‹Tschumi soit à jamais inscrit dans nos cœurs comme un idéal, une devise!»
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Tschumi kehrte zurück in die Schweiz, wo er am Genfersee als Hotelier und Direktor des Hotels Beau Rivage Palace in Ouchy 1893 in Lausanne die Ecole hôtelière de Lausanne gründete. Es handelt sich um die weltbeste und berühmte Hotelfachschule. Sie wird Jahr für Jahr durch die bekanntesten Hotel direktoren der Welt als Nummer eins prämiert. Tschumi war damit in anderer Form wieder in seinen früheren Lehrerberuf zurückgekehrt. 1728 wurde eine zweite Quelle entdeckt, das «Schwarzbrünneli». «Das Schwarzbrünnlein wird so genannt, weil es die Eigenschaft besitzt, Silber stücke in kurzer Zeit vollkommen schwarz zu färben. Die Quelle entspringt südöstlich des Stockbrünnleins am Rande des Waldes. Das Wasser schmeckt salzig, ist anfänglich klar, bedeckt sich bei Luftzutritt mit einem grauweissen Häutchen.» Diese Quelle galt als eine der stärksten Schwefelquellen der Schweiz. Am 10. September 1739 erklärten die Experten Doktor Christen und Doktor Wyttenbach aus Bern, … «sogleich bei der Destillation habe es sich gezeigt, dass das Wasser des Schwarzbrünnleins stärker und körperlicher als das bisher übliche Gurnigelwasser, hiermit glaublich in äusserlichen Schäden, Gliederschmerzen etc. zum Badgebrauch dienlicher sei. Nach vollbrachter Destillation habe das eint und andere dieser Wasser etliche Gran einer spiessigen weissen Erde einer tröcknenden Art hinterlassen, die, obwohl sie weder im Feuer etwas Schwefelgeruch merken lassen, noch im Wasser zergehen wollen, vermutlich doch noch etwas fixen Schwefels und Salzes in sich halten werde, deren eigentliche Art man aber wegen dero Wenigkeit nicht weiters u ntersuchen könne.» Diesen Bericht verfassten sie auf Weisung der bernischen Obrigkeit, die einen solchen einforderten, um über das Recht an der Nutzung entscheiden zu können. Professor Dr. hc. Heinrich Türler (1861–1933), Geschichtsforscher, stellt in einer Arbeit von 1910 klar, dass das Schwarzbrünnlein schon lange vor der «Entdeckung 1728» von den Bewohnern der ganzen Umgebung rege benutzt worden sei. In der Grube, in der es entsprang, sei es ganz kalt getrunken oder in mitgebrachten Pfannen an Ort und Stelle erwärmt worden. B esonders bei Kopfweh und Gliederschmerzen sei es mit Erfolg erprobt w orden. Das Landvolk goss sich erwärmtes Wasser über die entblössten Stellen des Körpers. Die Bauern hätten schöne, ja erstaunenswürdige Kuren an Mensch und Vieh erzielt.
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Die folgende Werbeschrift erschien 1762 im Kanton Bern. Sie schilderte die Heilkraft der zwei bereits benutzten Gurnigelquellen in den schönsten Farben, das Heilwasser sollte gegen vielerlei «nütz seÿn». Verfasst wurde sie vermutlich von Gottfried von Graffenried, zu jener Zeit Besitzer des Bades. So präsentierte sich das Gurnigelbad zur Zeit der «Werbeschrift» Gottfried von Graffenrieds.
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Sehr erstaunlich für diese Zeit sind die über dem Hotel angelegten Gemüsebeete. O ffenbar hatten die von der Ökonomischen Gemeinnützigen Gesellschaft des Kantons Bern, gegründet 1759, verbreiteten Ideen bei den gebildeten Menschen dieser Zeit Anklang gefunden.
Dieses Gemälde eines unbekannten Berner Kleinmeisters zeigt das Gurnigelbad vor 1779.
Das Gemälde auf der folgenden Seite macht den Unterschied zwischen der Landbevölkerung und der eleganten Welt der Stadt deutlich. Kurzberockt die Frauen in den im Kanton Bern üblichen Trachten, in den langen Roben die Damen aus der Stadt.
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Diese «Schäfer-Szene» lässt die Damen von Welt ohne ihre obligaten Schirme zum Schutz gegen die kräftige Gebirgssonne steif und geziert die erste Bekannt schaft mit den Wiesen machen. Der Schirm wird zusammengerollt als Stock benutzt. Der Herr aus der Stadt hat den Hut gezogen und stellt sich eben mit Namen vor, die Tochter wird von der Mutter schützend, mit der einen Fächer haltenden Hand, näher geschoben. Kuranwendung im Wald auf einem Stich des Malers Karl Ludwig Zehender (1751–1814) von 1794.
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Ganz links im Bild auf Seite 19 ist eine Kuranwendung gleich im Wald zu sehen. Die Einheimischen gossen sich das erwärmte Wasser über den nackten Körper. Dies wurde von den Stadt- und Standespersonen belächelt. Rechts in der Mitte verkaufen zwei Bäuerinnen Beeren. Auch auf diesem und vor allem auf dem Gemälde auf der nächsten Seite ist ein «Deuchel» zu sehen, eine Rohrleitung, mit einem «Deuchelbohrer» in eine kerzengerade gewachsene Tanne gebohrt. So wurde das Wasser von der Quelle zum Brünneli geführt. Noch in den 1950er Jahren wurden im Berner Oberland auf den Alpen Leitungen für das Wasser von Brunnen mit solchen ausgebohrten Baumstämmen verlegt. Das Holz war vorhanden, die langen Deuchelbohrer waren seit Generationen im Besitz, Zeit und Musse auf den Alpen da und die eisernen Leitungen viel zu teuer. Die Quellfassung ist noch nicht überdacht. Im Vordergrund des Stichs von Jakob Samuel Weibel kommt den Gästen ein Mann mit einem Rückentragkorb, einer sogenannten Hutte, entgegen, die mit Flaschen gefüllt ist. Offenbar war nicht nur eine «Wassermäde» im Einsatz, sondern auch ein «Wassermann».
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Der kolorierte Stich von Jakob Samuel Weibel (1771–1846) ist um 1800 entstanden, da über der Quelle noch kein Dach zu sehen ist.
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Wasser trinken und Wasser holen beim Schwarzbrünneli. Die Aquatinta von Franz Hegi um etwa 1810 zeigt das Leben beim nun gefassten und einfach überdachten Schwarzbrünneli in einem, so hielt es der damalige Gurnigelbad-Besitzer Gottfried von Graffenried 1772 in seiner Werbeschrift (siehe Seite 16) fest, «finsteren, morastigen Wald».
Die Kurgäste mussten den Aufstieg zum Schwarzbrünneli ebenfalls selbst unter die Füsse nehmen. Es wurde ihnen immer wieder erklärt, dass sie sich nach dem Trinken nicht zu heftig bewegen sollten. In jeder aus dieser Zeit stammenden Beschreibung beider Quellen wird gerühmt, dass die Wege in der Nähe der Quellen mit Steinplatten ausgeführt sind. Man müsse also nicht mehr durch «sumpfigen, stickigen Morast» steigen.
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Und nach einigen Jahren ist auch das Schwarzbrünneli vollständig überdacht und mit einem Schrägzaun gegen das weidende Vieh geschützt. So konnten die Gäste hier bei Regenwetter «am Schärme» ihre Becher leeren.
Nun wird gebaut: Auf diesem Stich eines unbekannten Berner Kleinmeisters sehen wir ein Stück eines ausgebohrten Baumstammes, ein Stück «Deuchel».
Da es sich bei den auf dem Stich auf der folgenden Seite von 1810 abgebildeten Personen um ähnliche Figuren handelt – sitzende Gruppe rechts oberhalb der Trinkhalle und Mann mit Fass –, könnte dieser ebenfalls von Franz Hegi stammen. Oder aber er wurde kopiert, denn die Ausführung ist unsorgfältiger, als man dies bei Hegis Stichen gewöhnt ist.
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Ein Mann verlässt das Schwarzbrünneli mit einem Trag-Räf, einem Rückengestell, bis obenauf gefüllt mit Flaschen. Dieser kolorierte Stich eines unbekannten Malers muss ab 1820 datiert werden.
Auch der Maler dieses Gemäldes ist leider unbekannt. Sollte man unterwegs vom Regen überrascht werden, befanden sich Unterstände am Weg.
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ESSEN UND TRINKEN IM GURNIGELBAD Die berühmte Gurnigelsuppe wurde in einem Lied eines unbekannten Dichters besungen.
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Gurnigelsuppe 1. Strophe Von des Stockhorns Felsenkuppe Bis zum feinsten Maulwurfsknoll Lebe Hoch Gurnigelsuppe! Bitte, noch ein Teller voll!
5. Strophe Und die Alten und die Jungen Fühlen warmes Blut im Lauf, Und von Suppe ganz durchdrungen Thauen alle Herzen auf.
2. Strophe Nach Frühtrunk von dem Stocke In der reinen Morgenluft Welche Wonne! Wenn die Glocke Zur Gurnigelsuppe ruft!
6. Strophe Fremd ist hier das falsche Glänzen Fern der Städte Ziererei; Mit des Frohsinns leichten Kränzen Ziehn die Stunden rasch vorbei.
3. Strophe Emsig reiht sich jede Gruppe Um der Schüsseln volle Fluth; Gleich bringt die Gurnigelsuppe Auf die Wange neue Glut.
7. Strophe Wie die helle Sternenschnuppe Fliegt der muntre Witz voran, das kann die Gurnigelsuppe! Thut nur selbst das Salz daran.
4. Strophe Und die Löffel klingen, klingen Bald sind alle Schüsseln leer Charles – lass er noch mehr bringen Mehr Gurnigelsuppe her.
8. Strophe Und der Bote trägt die Kunde Die den Lieben Hoffnung gibt Freude sei! Denn jede Stunde Sieht genesen, die ihr liebt.
Diese in vielen Publikationen erwähnte «Gurnigelsuppe wurde zum Frühstück gereicht, nachdem die Gäste die ihnen vom Kurarzt oder dem heimischen Arzt vorgeschriebene Anzahl Becher Kurwasser getrunken hatten. Am Abend sollte man ebenfalls nur Gurnigelsuppe und etwas gekochtes Gemüse zu sich nehmen. Es soll sich bei der viel gerühmten und besungenen Suppe um eine kräftige Brühe aus ausgekochten Rinder- und Kalbsknochen gehandelt haben, in der Gerste und/oder Hafer oder auch Dinkel (früher auch Spelz) und Zwiebeln weich gekocht wurden. Dann wurde Salz dazugegeben. In die fertige Suppe wurden stark in Butter geröstete Brotwürfel gestreut. Nachkochen!
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Am 29. Juli 1887 wurden Minestrone, Seezunge mit Crevetten und Champignons à la Normandie, Tafelspitz mit Meerrettich, geschmortes Lamm, Kohlrabi, gebratenes Huhn und Erdbeer kuchen serviert.
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Wie der damalige Meisterküher Bendicht Berger des Gurnigel-Anwesens in seinem Bericht im Jahrbuch Guggisberg 1947/48 erzählte, waren an gewissen Tagen bis zu 700 Gäste zu verpflegen. Es müssen Unmengen an Fleisch, Geflügel und Fisch auf den Gurnigel transportiert worden sein. Und wie aus dem Ereignis auf Seite 31 mit der kalten nächtlichen Dusche zu lesen sein wird, brachte Hotelier Johann Jakob Hauser in allen möglichen Räumen auch unangemeldete Gäste unter. Laut dem Bericht von Bendicht Berger waren nicht nur 700 Gäste zu verpflegen, sondern es übernachteten sogar bis zu deren 700 im Gurnigelbad. Was muss da schon nur für ein Gedränge mit all den Kutschen und Pferden geherrscht haben?
Der 90-jährige Bendicht Berger anlässlich eines Interviews 1947 mit dem Jubilar für das Jahrbuch Guggisberg 1947/48.
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Das Menu zwölf Jahre später, am 7. August 1899:
Abendmenü: Reiscremesuppe, gekochtes Rindfleisch, aufgeschnitten und kalt serviert, Kartoffeln nach Art des K üchenchefs, Kalbskopf mit Champignons, sautierte grüne Bohnen, gebratenes Auerhuhn, Apfelkuchen und Dessert. Die Desserts, hielt Pfarrer Rudolf Bachmann (siehe Seite 94) in seiner Schrift fest, seien in Form von verschiedenen T örtchen zu geniessen gewesen. Um den Magen nicht zu überladen, habe er diese meist weggelassen. Doch der Genuss des Weines sei der Kur durchaus zuträglich.
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