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BULLINGER Eine Familiensaga

Bullinger Eine Familiensaga

Jérôme Sutter

weberverlag.ch

J érôme S utter

BULLINGER Eine Familiensaga

Impressum

Alle Angaben in diesem Buch wurden vom Autor nach bestem Wissen und Gewissen erstellt und von ihm und vom Verlag mit Sorgfalt geprüft. Inhaltliche Fehler sind dennoch nicht auszuschliessen. Daher erfolgen alle Angaben ohne Gewähr. Weder Autor noch Verlag übernehmen Verantwortung für etwaige Unstimmigkeiten.

Alle Rechte vorbehalten, einschliesslich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.

© 2024 Weber Verlag AG, 3645 Thun / Gwatt

Weber Verlag AG

Verlagsleitung: Annette Weber-Hadorn

Projektleitung: Madeleine Hadorn

Idee und Texte : Jérôme Sutter

Bildbearbeitung: Adrian Aellig

Gestaltung Cover: Sonja Berger

Gestaltung / Satz: Daniela Vacas

Lektorat: David Heinen

Korrektorat: Blanca Bürgisser

Der Weber Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2025 unterstützt.

ISBN 978-3-03818-591-8

www.weberverlag.ch

Für meine Ehefrau Kathrin und meine Kinder Barbara, Danielle und Kaspar, die mein Manuskript wohlwollend-kritisch durchgesehen haben.

Für meine Enkelkinder Tim, Anne, Mia, Noah, Lisa, Oliver, Raphael und Lorenz.

Nach dem Tod meines Vaters entdeckten wir bei der Räumung seines Haushalts das gezeichnete Porträt eines ernst dreinblickenden Herrn mit steifem, weissem Kragen. Auf der Rückseite stand der Vermerk: «Bullinger, Pfarrer, Brunnadern, Ur-Ur-Grossvater von Frieda Fischbacher.» Frieda Fischbacher war meine Grossmutter väterlicherseits.

Ich fand das Porträt interessant, dachte mir aber nichts weiter dabei. Erst nachdem ich einen Zeitungsartikel über den Zürcher Reformator Heinrich Bullinger, den Nachfolger Ulrich Zwinglis, gelesen hatte, wurde mein Interesse an der Geschichte der Familie Bullinger geweckt. Im Verlauf der Jahre entdeckte ich, dass es sich bei meinem oben erwähnten Ur-Ur-Ur-Ur-Grossvater um Hans Balthasar Bullinger III. (19.11.1746–17.11.1831) handelte, einen Nachkommen von Heinrich Bullinger senior, Dekan, dem Vater des gleichnamigen Reformators Heinrich Bullinger junior, Antistes. Tönt kompliziert und ist es wohl auch. Darum habe ich am Schluss des Buches als Anhang einen Stammbaum der Bullinger-Familie in der Zeit der Reformation angefügt (Anhang 3), wobei aus Gründen der Übersichtlichkeit nur die in diesem Buch vorkommenden Familienangehörigen aufgeführt sind.

Im Verlauf der folgenden Jahre habe ich an verschiedenen Orten, speziell in Zürich und in Bremgarten, Nachforschungen zu meinen Ahnen getätigt. Das vorliegende Buch ist das Resultat meiner entsprechenden Arbeiten. Es handelt sich um eine Familiensaga der Bullinger bzw. zweier spannender und historisch interessanter Generationen dieser Familie. Die darin geschilderten Vorkommnisse entsprechen der historischen Realität in der Schweizerischen Eidgenossenschaft zwischen 1493 und 1531, also dem Zeitabschnitt vor und während der Reformation. Die hier vorkommenden Personen haben zum allergrössten Teil nachweislich in jener Zeit gelebt und gewirkt. Auch ihre Erlebnisse und Biografien entsprechen zum grossen Teil den historischen Fakten, wie sie in vielen Dokumenten belegt sind. Ein detailliertes Personenverzeichnis (Anhang 1) soll helfen, den Überblick über die wichtigsten Protagonisten zu wahren.

Hans Balthasar Bullinger, 1746–1831.

Als Fazit meiner Arbeiten bleibt für mich als wichtigste Erkenntnis, dass das Mittelalter zwar weit zurückliegt, gewisse allgemein-gesellschaftliche wie auch individuell-menschliche Verhaltensmuster aus jener Zeit aber bis heute nicht überwunden sind. Viele der bereits im 15. und 16. Jahrhundert sehr kontrovers diskutierten und oft mit Gewalt «gelösten» Streitfragen bleiben leider auch in der Welt des 21. Jahrhunderts von erschreckender Aktualität, desgleichen die nach wie vor sehr dogmatische, teilweise unmenschliche Ausrichtung gewisser Kirchen und ihrer irdischen Vertreter.

Bern, Oktober 2024

Jérôme Sutter

Inhaltsverzeichnis

Anhang 2: Karten

Anhang 3: Stammbaum der Familie Bullinger im 15. / 16. Jahrhundert 229

Quellennachweis Abbildungen

230

Der junge Heinrich Bullinger junior.

Die missglückte Wahl von Zwinglis Nachfolger

Das Grossmünster Zürich ist an diesem Samstag, dem 9. Dezember 1531, bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Vertreter sämtlicher Zünfte wie auch der Konstabeln1 im Grossen Rat sowie zahlreiche Zuschauer sind anwesend. Alle Augen sind auf den im Chor sitzenden Heinrich Bullinger junior gerichtet.

Soeben hat die Versammlung nahezu einstimmig den erst 27-jährigen

Heinrich Bullinger als Nachfolger des kürzlich in der Schlacht von Kappel umgekommenen Ulrich Zwingli zum Antistes, das heisst zum obersten Geistlichen von Zürich, gewählt. Die Wahl ist allerdings an die Bedingung geknüpft, dass sich Heinrich Bullinger und seine ihm untergebenen Geistlichen verpflichten, sich künftig strikte aus allen weltlichen Angelegenheiten, also aus der Politik, herauszuhalten. Zudem sollen die kirchlichen Organe in Zukunft keine Pfarrer mehr anstellen dürfen, deren Wahl nicht zuvor von der Obrigkeit der Stadt Zürich genehmigt worden ist.

Heinrich Bullinger hebt die Hand und winkt die beiden Bürgermeister Diethelm Röist und Heinrich Walder zu sich. Leise, fast flüsternd, aber in sehr dezidiertem Ton sagt er zu ihnen: «Die Wahl zum Antistes freut und ehrt mich zwar, aber ich kann und will diese nicht einfach so annehmen, nachdem mir der Rat die Freiheit der Predigt beschneiden will. Ich verlange einige Tage Bedenkzeit, während derer wir reformierte Pfarrer die Bedingungen unserer Tätigkeit als Zürcher Geistliche klären müssen. Ich werde die Wahl nur annehmen, wenn wir ohne Einfluss der weltlichen Behörden die Wahrheit Gottes gemäss der Heiligen Schrift von der Kanzel verkünden dürfen, auch in diesseitigen Fragen und auch wenn das euch irdischen Amtsträgern nicht passt.»

1 Stand der ehemaligen Adligen, 18 Vertreter im damaligen Grossen Rat der Stadt Zürich (von total 212 Mitgliedern).

Als Bürgermeister Röist die Versammlung darüber informiert, dass und warum sich Heinrich Bullinger einige Tage Bedenkzeit ausbedungen hat, erhebt sich ein rasch anschwellendes Stimmengewirr im Grossmünster. Die meisten Anwesenden sind offensichtlich verärgert. Schimpfworte von einzelnen Zünftern wie «Scheisspfaff» oder «Falschprediger» sind herauszuhören. Ein Vertreter aus der Zunft zur Meisen 2 meint gar, man hätte gleich beim alten Glauben bleiben können, wenn die Pfaffen beabsichtigten, weiterhin alle herumzukommandieren. Diethelm Röist gelingt es schliesslich, die Ruhe wieder einigermassen herzustellen, indem er mit lauter Stimme verkündet, dass das Wahlverfahren um vier Tage auf den 13. Dezember 1531 vertagt werde. So rasch wie sich das Grossmünster hierauf leert, füllen sich die umliegenden Gaststätten im Niederdorf.

Bis spät in die Nacht hinein wird die vermeintlich misslungene Wahl des Nachfolgers von Ulrich Zwingli in den Zürcher Wirtshäusern heiss und kontrovers debattiert. Aus dem Gasthaus Schwert bei der Rathausbrücke dringt schon bald lautes Geschrei und das Klirren von zerbrochenem Geschirr. Martin Bucher, ein Fischer aus der Zunft zur Schiffleuten, tut mit lauter Stimme seine Meinung kund: «Unter dem alten Glauben wäre so etwas wie der heutige trostlose Wahlversuch im Grossmünster nie passiert. Damals hat der gute Bischof von Konstanz befohlen, wer Priester wird, und man hat sich ohne Murren an seine Entscheide gehalten. Da hat noch Ordnung geherrscht.»

Das lässt sich der Steinmetz Samuel Krüger aus der Zunft zur Zimmerleuten3 , ein entschiedener Anhänger der Reformation, nicht gefallen: «Du bist gerade der Richtige, du mit deinen stinkenden, angefaulten Fischen. Von wegen Ordnung. Unter den Papisten herrschten nur die Ordnung und das Recht, die den Pfaffen und den Herrschenden passten. Wir hatten nichts davon ausser haltlosen Versprechen auf das Jenseits, die wir uns mit Ablässen teuer erkaufen mussten!»

Die Proteste von Martin Bucher gehen im Gegröle der betrunkenen Wirtshausbesucher unter. Die gezielte Beleidigung wegen seiner angeblich stinkenden Fische kann er selbstverständlich nicht auf sich sitzen lassen, sonst

2 Handwerkervereinigung der Weinhändler, Gastwirte, Sattler und Maler.

3 Die Zunft zur Zimmerleuten umfasste nebst den Zimmerleuten diverse andere Berufe, so auch die Steinmetzen.

würde er auf alle Zeiten in Zürich sein Gesicht verlieren. Er stürzt sich auf Samuel Krüger und packt ihn am Wams: «Das wirst du mir büssen, du gottloser Nichtsnutz von einem räudigen Steinhauer!» Schon balgen sich die beiden Kontrahenten auf dem Boden des Gasthauses, und ihre Zunftkollegen helfen bei der Prügelei wacker mit. Der Wirt verwirft verzweifelt die Hände, während die ersten Stühle und Tische in Brüche gehen und der Boden mit zersplittertem Trinkgeschirr bedeckt wird.

Zum Glück für den Wirt kommt nach kurzer Zeit eine Patrouille von Stadtknechten und Nachtwächtern vorbei, die den Kampf beendet und die beiden Kontrahenten für die Nacht zum Ausnüchtern im Gefängnis einsperrt. Bürgermeister Heinrich Walder hat nach der Versammlung im Grossmünster in kluger Voraussicht angeordnet, dass in dieser Nacht alle Stadtknechte und Nachtwächter bewaffnet Runden durch das Niederdorf machen, damit die zu erwartenden Schlägereien rasch beendet werden können.

Heinrich Bullinger junior scheint das von ihm ausgelöste Missfallen und das Ende der Versammlung gar nicht bemerkt zu haben. Er hat sich in seinem Chorstuhl zurückgelehnt. Sein Blick trifft seinen Vater Heinrich Bullinger senior, der ihm gegenüber unter der Kanzel einen Platz gefunden hat, von wo aus er den Wahlvorgang mit Freude und Stolz verfolgt hat. Er nickt seinem Sohn liebevoll und auch mit Bewunderung zu. Als ehemaliger katholischer Priester und nun reformierter Pfarrer versteht er ihn und stimmt ihm aus ganzem Herzen zu. Nach diesem kurzen, aber innigen Austausch der Blicke versinkt Vater Heinrich Bullinger in seinen Erinnerungen an Bremgarten im Aargau, seine Heimatstadt, vor bald vierzig Jahren.

Die Rückkehr nach Bremgarten

Heinrich Bullinger senior blickt an diesem Nachmittag des 3. März 1493 vom Mutschellenpass her auf das Städtchen Bremgarten im Aargau. Bremgarten ist ein schmuckes, gut befestigtes Städtchen mit knapp tausend Einwohnern, das von den Grafen von Habsburg an strategisch günstiger Stelle in eine Schleife der Reuss gebaut worden ist. Dank solchen befestigten Orten beherrschten die Habsburger im Mittelalter das ganze mittlere Reusstal mitsamt seinen wichtigen Handelswegen zwischen Zürich, Luzern und Bern, bis sie zu Beginn des 15. Jahrhunderts von den Eidgenossen aus dem Aargau vertrieben wurden.

Der Anblick seiner Heimatstadt rührt Heinrich Bullinger zu Tränen. Er ist lange weg gewesen, hat als Wanderstudent in Sachsen, Thüringen und Schwaben an verschiedenen Universitäten Theologie studiert. Nun kommt er als frisch geweihter Priester zurück. Er ahnt noch nicht, was ihn hier in den nächsten Jahren alles erwartet. Für ihn zählt im Moment nur das Glücksgefühl, das ihn in Anbetracht des bevorstehenden Wiedersehens mit seiner Familie ergreift. Heinrich wischt sich die Tränen aus dem Gesicht und gibt seinem Pferd die Sporen. Er mag keine Minute länger zuwarten.

Kurze Zeit später reitet er über den Stadtgraben auf das obere Stadttor zu. Der Torwächter senkt seinen Spiess und zwingt so Heinrich Bullinger zum Anhalten. «Halt, Fremder! Wer bist du und was willst du in unserer Stadt?»

Heinrich muss lachen: «Kennst du mich nicht mehr, Willi Horner? Ich bin Heinrich Bullinger, der Sohn von Hans und Gertrud Bullinger.»

Jetzt erkennt Willi Horner seinen früheren Spielkameraden wieder und strahlt über das ganze Gesicht: «Donnerwetter, Heinrich, du bist es tatsächlich. Du warst aber auch lange weg und hast dich sehr verändert. Ich

habe dich deshalb nicht sofort erkannt. Ich habe gehört, dass du nun Priester sein sollst. Stimmt das?»

Heinrich nickt: «Ja, Willi, ich habe in Deutschland Theologie studiert und wurde kürzlich in Konstanz vom Bischof Thomas Berlower zum Priester geweiht.4 Ich erzähle dir bei Gelegenheit die ganze Geschichte. Aber lass mich jetzt durch. Ich will so rasch wie möglich meine Mutter und meine Geschwister in die Arme schliessen.» Willi Horner hebt seinen Speer wieder an und gibt den Weg frei, voller Respekt für den frischgebackenen Priester.

Nachdem er das Stadttor passiert hat, erreicht Heinrich Bullinger nach kurzer Strecke sein Elternhaus, das Haus zum «Wilden Mann» an der Marktgasse 5, wo er auf seine Mutter trifft, die vor der Haustür steht und in ein Gespräch mit einer Nachbarin verwickelt ist. Heinrich springt vom Pferd und eilt auf seine Mutter zu.

Die Wiedersehensfreude ist beidseits riesig. Gertrud Bullinger drückt ihren ältesten Sohn fest an sich und lässt ihren Freudentränen freien Lauf:

«Mein liebster Heinrich. Ich kann gar nicht sagen, wie glücklich ich heute bin. Endlich, endlich bist du wieder da, und ich hoffe, dass du nun als Priester hier in Bremgarten leben und arbeiten wirst. Schade, dass dein Vater diesen Moment nicht mehr erleben darf. Er wäre so stolz auf dich!»

Heinrich ist vom Empfang seiner Mutter sichtlich gerührt. Er löst sich aus ihren Armen und betrachtet sie lange: «Meine liebe Mutter, du siehst immer noch so jung und so gut aus mit deinen 53 Jahren. Wie machst du das nur?» Gertrud lächelt verlegen:

«Du bist offenbar auch als Priester der alte Schmeichler geblieben. Ich weiss, dass ich keine junge Frau mehr bin, aber deine Worte tun mir trotzdem gut. Komm schnell herein. Das Abendbrot steht auf dem Tisch. Deine Schwestern Anna und Maria sind bereits da und dein Bruder Hans Jakob sollte jeden Moment von seiner Arbeit als Sattlerlehrling zurück sein. Wie du weisst, weilt dein Bruder Hans Michael seit drei Jahren an der Uni-

4 Bremgarten gehörte damals als Dekanat (=kirchlicher Verwaltungsbezirk) mit ca. 30 Pfarreien zur Diözese (=Bistum) Konstanz. Bis 1815 gehörte ein Grossteil der katholischen Deutschschweiz zur Diözese Konstanz.

5 Siehe Stadtplan von Bremgarten in Anhang 2.

Bremgarten im 15. Jh. vom Mutschellen aus.

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