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by George Tatge No
SCHWEIZ
Losone
Im 6. Jahrhundert breitete sich das Christentum mit Unterstützung der Bischöfe von Mailand und Como im Tessin aus. Die Tessiner Bergregionen lebten nach dem Jahr 1000 dank des wärmeren Klimas und der florierenden Landwirtschaft auf, sodass viele Kirchen und Pfarreien errichtet wurden, die auch heute noch das Landschaftsbild prägen.
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Im Tessin ist das Pergolasystem häufig anzutreffen. Die Trauben wachsen an Gestellen und bilden «grüne Dächer».
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Die Walliser mögen es mir verzeihen, aber das Tessin ist der Sonnenkanton der Schweiz – auch im übertragenen Sinn. Denn kaum lässt man von Norden kommend das Gotthardmassiv hinter sich, befällt einen eine unkontrollierte Leichtigkeit und Lockerheit, die ich mir immer mit der Nähe zu Italien zu erklären versuche. Und beim Gedanken an Italien sind Begriffe wie «Sonne», «Meer», «Dolce far niente», «Spaghetti al pomodoro», «Firenze», «Kultur» und natürlich «Vino» an erster Stelle – vor allem für Reisende aus dem germanischen Norden.
Doch bevor man die Grenze nach Italien überquert, geht die Reise durch das Tessin, das für den Schweizer Weinbau ein echtes Bijou ist. Dank dem sonnigen mediterranen Klima ist man schnell in Ferienstimmung und der Besuch einer der zahlreichen Weinkellereien unterstützt dies natürlich.
Das Tessin ist eine der sechs offiziellen Weinbauregionen und auf rund 1000 Hektaren Reben wird primär die MerlotTraube kultiviert. Was hier in die Flasche kommt, offenbart auf erstaunliche Art und Weise, wie breit der aromatische und stilistische Fächer dieser Sorte sein kann, die die meisten von uns primär als Bordeaux-BlendRebe kennen. Eine Tatsache, die dem Tessin auch gerne einmal den Übernamen «das Bordeaux der Schweiz» verliehen hat, wobei dies, wie gesagt, nur ein Teil der Wahrheit ist.
Familie Delea – Tessiner Interpretation des Merlots
Keine andere Region der Schweiz ist so bekannt für Merlot wie das Tessin. Hier wird daraus nicht nur köstlicher Rotwein vinifiziert, sondern auch Rosé, Weiss- und Schaumwein. Ganz zu schweigen vom Grappa di Merlot.
Im Tessin werden weisse, pinke, hellrote bis dunkelrote, schäumende und auch hochprozentige Merlots vinifiziert beziehungsweise destilliert. Die einen reifen im Stahltank, andere in der Barrique oder im Beton und wieder andere im grossen Holzfass oder in der Terracotta-Amphore. Persönlich bin ich immer wieder fasziniert, wie unterschiedlich dieselbe Traube schmecken kann und wie sie sich den Bodentypen, Jahrgängen und Interpretationen der Winzer anpasst.
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Angelo und seine zwei Söhne David und Cesare, die bereits aktiv im Betrieb mitwirken.
Das Weingut Delea ist wohl noch jung, hat aber bei der Kreation seiner wichtigsten Weine immer Bordeaux als Vorbild gesehen.
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Merlot, Merlot und nochmals Merlot –das ist die Signatur des Tessins.
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Für diesen Report haben wir die Familie Delea in Losone besucht, deren Weine mir seit vielen Jahren vertraut sind, zumal ein Ritual meiner zahlreichen früheren Besuche des Filmfestivals von Locarno ein Dinner im DeleaFischrestaurant in der Altstadt Die Idee geht auf den Tessiner Gastrojournalisten Alberto Dell’Acqua zurück. Er hatte das Ziel, einen limitierten Premiumwein zu kreieren und einen Teil des Erlöses gemeinnützigen Organisationen zukommen zu lassen. Es gelang
Gegründet hat es der charmante Angelo Delea 1983 und mit viel Einsatz und Qualitätsdenken, zu einem der wichtigsten Betriebe des Tessins aufgebaut.
von Locarno war, genauso wie ein Apéro mit ihrem HausSchaumwein Charme. Damals war das Weinhaus noch jung. Gegründet wurde es 1983 vom charmanten Angelo Delea, der es mit viel Einsatz und Qualitätsdenken zu einem der wichtigsten Betriebe des Tessins aufgebaut hat – auch angesichts seiner betrieblichen Grösse. Die Familie beschäftigt rund 50 Mitarbeiter und inzwischen sind auch Deleas Söhne David und Cesare mit im Betrieb. Verarbeitet werden die Trauben von über 300 Weinbauern und 20 Hektaren Reben, aus denen rund 600000 Flaschen pro Jahr vinifiziert werden. Das führt zu einer engen Beziehung zur Region und auch zu einer Verantwortung, aus den Trauben den bestmöglichen Wein zu produzieren. So etwa den Icon-Tessiner Quattromani. ihm, für dieses Projekt vier der wichtigsten Produzentenfamilien des Tessins zu gewinnen: Guido Brivio, Feliciano Gialdi, Claudio Tamborini und Angelo Delea. Jahr für Jahr wählen sie einen Teil ihrer besten Merlot-Trauben aus und kreieren damit den Quattromani (it. «vier Hände»). Erster Jahrgang war 2000. Für Angelo Delea ist der Merlot ein Glücksfall für die Region. So erklärt er: «Merlot passt sehr gut zu unserem Klima, das sich einerseits aus viel Regen, aber auch einer mediterranen Zone zusammensetzt. Es gelingt uns jedes Jahr, dass die Traube
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Die Familie Delea im Weinmuseum der Weinkellerei, das die Geschichte des Weinbaus erzählt.
perfekt ausreifen kann. Natürlich ist es ein Vorteil, dass wir nicht nur einen Merlot vinifizieren, sondern ganz unterschiedliche Weine, die jeder für sich ein eigenes Aromaprofil präsentieren. Persönlich haben mich MerlotWeine aus dem Pomerol immer stark beeindruckt und sicherlich auch geprägt. Das ist eine Liga für sich – und diese findet man nirgends anders.» Bordeaux hat Delea nicht nur geschmacklich geprägt, sondern auch architektonisch, denn er hat sich einen imposanten, barriquegefüllten Weinkeller errichtet, den man erstens nicht erwarten würde, wenn man die optisch funktionale Kellerei in Losone erreicht, und den man zweitens eher in Bordeaux als im Tessin vermuten würde. Man erreicht ihn mit einem geräumigen Industrieaufzug, der das technische Erdgeschoss der Kellerei mit dem stimmigen Untergeschoss verbindet. Kaum öffnen sich seine Türen, beginnt der Besucher zu staunen. Ein Labyrinth an Fässern erfreut das Auge und die Grösse des Gewölbekellers macht schnell klar, dass es hier viel zu sehen und entdecken gibt und vor allem, dass hier viel Wein und auch Grappa lagert. In der Mitte des Kellers, sozusagen als Herz oder Seele, befindet sich das Weinmuseum – eingerichtet in einem Glashaus, das wie ein Aquarium dasteht. Seine Ausstellung erzählt nicht nur die Geschichte der Deleas, sondern enthält zahlreiche Artefakte des Tessiner Weinbaus. «Das Museum ist uns sehr wichtig, da es an die Herkunft des Weinbaus erinnern soll. Wir dürfen nie vergessen, woher wir kommen», betont David, Angelos Sohn, und erinnert dabei auch daran, dass sich hier der Weinbau in zahlreichen hart zu kultivierenden gebirgigen Lagen abspielt. Wie in der ganzen Schweiz hat der Weinbau auch im Tessin eine lange Geschichte, die über 2000 Jahre alt ist. 1906 wurde sozusagen die Basis für den neuen Tessiner Weinbau gelegt, denn damals wurden erste Versuche mit Merlot-Reben aus Bordeaux gemacht, nachdem die Reblausplage auch im Tessin ihre Spuren hinterlassen hatte. 1897 tauchte sie erstmals im Tessin auf und legte sozusagen den ganzen Weinbau lahm. Mit dem Wiederaufbau der Weinindustrie wurde ein junger Naturwissenschaftler namens Alderige Fantuzzi beauftragt, der mit dem Aufpfropfen von Merlot auf reblausresistente amerikanische Unterlagsreben begann. Die Neupflanzungen waren so erfolgreich, dass diese rote Traube auch heute noch die Hauptsorte des Kantons ist.
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Angelo Delea liebt die schönen Dinge des Lebens. Dank ihm hat das Tessin einen der imposantesten Weinkeller der Region.
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Neben Wein wird auch Grappa produziert. Denn ausserhalb Italiens darf nur das Tessin den Begriff verwenden und auf den Flaschen notieren.
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Geografisch wird das Tessin durch den Monte Ceneri in zwei grosse Weinbauregionen unterteilt: das nördliche Sopraceneri und das südliche Sottoceneri. Heute kultivieren die über 3600 Winzer mit viel Passion und Engagement kleine Landparzellen, die sich nicht selten in steilen Hängen befinden, die ursprünglich für den Waldbau bestimmt waren. Gerne werden solche Zonen als «heroische Weinbauterroirs» bezeichnet, zumal sie vom Weinbauern enorme Anstrengungen abverlangen, und das Jahr für Jahr – erbarmungslos. Wie das Tessin gehören auch andere Zonen der italienischen Alpengebiete in diese Kategorie – so etwa das Veltlin, Südtirol oder das Valle d’Aosta, wo die Bewohner mit enormer Anstrengung auf den kargen Bergböden Wein anbauen. Auch wenn die Deleas den genüsslichen Seiten des Lebens nicht abgeneigt und ihre Weine inzwischen global zu finden sind, sind sie sehr geerdet und mit ihrem Herkunftsterroir verbunden. David kennt den Betrieb bis in die letzte Ecke und packt überall mit an, wenn er nicht gerade die Deleas im Ausland repräsentiert.
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Im Keller der Deleas ruhen auch ältere Jahrgänge, die nach wie vor erworben werden können.
Der Familie war und ist der Bezug zur Gastronomie auch immer sehr wichtig und so betreibt sie heute unter anderem in Locarno das Restaurant Bottega del Vino (www.bottegavino.ch) – eine Muss-Adresse, um die kulinarischen Klassiker der Region kennenzulernen, also Kastanien, Polenta und Kartoffeln, Risotto, Pilze, Kaninchen, Capretto und Luganighe, ganz zu schweigen vom Alpkäse. Vater und Söhne treffen sich gerne in der Bottega, unterhalten sich mit Gästen und sind so perfekte Botschafter ihres Tuns und ihrer Weine. Für Angelo ist eines jedoch ganz wichtig: nie zu vergessen, wo das Herz des Betriebs schlägt – und das ist beim Wein. Die DNAAbfüllung der Kellerei trägt den wertigen Namen Carato. Es ist der Signaturwein der Deleas. Der Familie war und ist der Bezug zur Gastronomie auch immer sehr wichtig und so betreiben sie heute unter anderem in Locarno das Restaurant Bottega del Vino.
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Er wird aus speziell selektionierten Merlot-Trauben aus älteren Reben vinifiziert, wobei der Wein jeweils 16 Monate in Alliers- und Nevers-Barriques reift. Eine Stufe höher ist der Diamante, der 2011 erstmals vinifiziert worden ist und der seit ein paar Jahren auch ein weisses Pendant hat. Sehr wichtig sind auch die Crus aus speziellen Regionen, die den TerroirCharakter in sich tragen, also Gudo, Lavertezzo, Saleggi oder San Carlo. Und dann natürlich die diversen Schaumweine – etwa den Charme, den es auch als Rosé zu entdecken gibt, und den Fragolino, den ich besonders gerne erwähne. Er wird aus der kleinbeerigen Sorte Americano vinifiziert, der gerne der Übername «Chatzenseicherli» verpasst wird und die im Gaumen eine unvergessliche Erinnerung hinterlässt. Sie schmeckt nach Bergamotte, Walderdbeeren und Rosenblättern. Haargenau so kommt jetzt auch der moussierende Wein daher.
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Aus der Maische werden die zahlreichen Grappas destilliert.
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Sehr parfümiert und zartschäumend fliesst er den Hals hinunter und hinterlässt eine exotische Fruchtmischung, mit süssen Himbeeraromen im Finale. Für mich der ideale Apéro der anderen Art. Schon seine rosa Erscheinung ist eine Abwechslung fürs Auge und dank dem geringen Alkoholgehalt von neun Volumenprozent kann der Fragolino-Apéro problemlos um ein Glas verlängert werden.
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Bei unserem Besuch bei den Deleas ist gerade Hochbetrieb, da die Trauben des Jahrgangs 2021 angeliefert werden. Es ist das zweite Corona-Jahr und man ist glücklich, zusammen zu sein und die Ernte willkommen zu heissen, auch wenn das Weinjahr 2021 klimatisch bedingt bekanntlich nicht nur in der Schweiz kein einfaches Jahr war. «Ich habe jetzt schon bald 40 Ernten hinter mir und jedes Mal ist es ein hochemotionaler Moment, wenn die Trauben angeliefert werden», betont Angelo. Als wir etwas später wieder im Keller sind und diverse Weine verkosten, erklärt er mir weiter, was für ihn ein grosser Wein ist. «Man beginnt mit seiner Planung im Rebberg und weiss genau, was aus den Trauben werden soll und kann. Ein grosser Wein muss klar als junger Wein gefallen und im Alter grosse Emotionen auslösen.
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Angelo und sein Sohn David – zwei Generationen, die mit gleicher Passion die Güte des Tessiner Weinbaus vertreten.
Ich habe mich früh in Merlotweine verliebt, zumal aus dieser Traube die grössten Weine der Welt vinifiziert werden. Man kann aus dem Merlot ganz delikate Weine mit einem langen Lagerpotenzial herstellen und solche Weine zählen zu den besten der Welt.»
DELEA.CH
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GENUSS VON
MERLOT
Spannend und vielfältig sind auch die kulinarischen Kombinationsmöglichkeiten von Merlot. Bei dieser Traube handelt es sich um eine echte Passepartout-Sorte, die meist sehr gut ankommt und die die meisten Gäste auch schon kennen. Man kann den Wein sowohl zu Gerichten mit Fleisch (vom Rind, Kalb, Schwein) als auch zu Geflügel und vegetarischen Gerichten servieren. Risotto mit Pilzen, Polenta mit Käse oder Rösti mit Speck passen genauso gut zu einem Glas Merlot wie ein Gitzi, ein Entrecote oder Coq au vin. Idealerweise serviert man einen Merlot auch aus einem etwas grösseren Glas, damit der Wein schön «atmen» kann. Dekantieren ist auch nicht schlecht. Von der Temperatur her sollte er nicht zu warm serviert werden, also bei rund 17 bis 18 Grad. Die einfachste Methode, um ein Glas Merlot von einem Glas Cabernet Sauvignon zu unterscheiden, ist das Erkennen der unterschiedlichen Tanninstruktur. Denn wenn man zuerst einen Schluck Merlot und dann einen Schluck Cabernet trinkt, präsentiert sich der Merlot in der Regel runder und mit weniger trockenen Tanninen als der Cabernet. Auch hat ein Cabernet Sauvignon deutlich mehr Cassisaromen. Interessant ist weiter, dass das Tessin eine der wenigen Regionen der Welt ist, in denen aus Merlot ein Weisswein vinifiziert wird. Dass ein Weisswein aus einer Rotweintraube produziert werden kann, hängt damit zusammen, dass die Weinfarbe aus der Schale und nicht dem Fruchtfleisch stammt. Am besten schneidet man zu Hause einmal eine rote Weintraube entzwei. Dann erkennt man, wie hell das Fruchtfleisch ist.
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Während meines Besuches haben wir nicht nur rote Merlots verkostet, sondern auch weisse – eine absolute Tessiner Spezialität.
Frisch gelesene Kerner-Trauben auf dem Weg in die Traubenpressen.
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Hermann Hesse und Wein
Spricht man vom Tessin, schweifen meine Gedanken gerne auch zu Hermann Hesse, der hier nicht nur die letzten 43 Jahre seines Lebens verbracht, sondern auch zahlreiche seiner wichtigsten Werke verfasst hat, darunter «Siddhartha», das dieses Jahr seinen 100. Geburtstag feiert. Wein spielte in Hesses Leben auch eine Rolle, was in der Ausstellung «Rilke, Hesse, Dürrenmatt – und der Wein» thematisiert wird: eine Zusammenarbeit der Fondazione Hermann Hesse Montagnola, des Centre Dürrenmatt Neuchâtel und der Fondation Rilke (Sierre) mit Leihgaben des Schweizerischen Literaturarchivs in Bern, der Fondazione Ursula & Gunter Böhmer Collina d’Oro sowie von Barbara Hugi-Schertenleib und Karin Widmer. Die Ausstellung wurde bereits in der Fondazione Hermann Hesse in Montagnola gezeigt und wechselt jetzt ins Wallis ins Musée du Vin in Sierre. 1931 beziehen Hermann Hesse und seine Frau Ninon in Montagnola die Casa Rossa, zu der ein grosses Grundstück mit Weinberg gehört. Mit der Arbeit in Garten und Weinberg erfüllt sich der Nobelpreisträger den Wunsch, im Einklang mit der Natur am Ablauf der Jahreszeiten teilzunehmen und mit den Jahren ein wenig heimatliche Verwurzelung zu erfahren. So schrieb er 1954 in «Dank ans Tessin»: «Hier im Tessin aber finde ich manche Dinge, die nicht nur schön und wohlig anzusehen, sondern auch voll tausendjähriger Tradition und Kultur sind. Der nackte steinerne Tisch bei der steinernen Bank unterm Kirschlorbeer oder Buchsbaum, der Krug und die tönerne Schale voll Rotwein im Kastanienschatten, das Brot und der Ziegenkäse dazu – das alles ist zur Zeit des Horaz auch nicht anders gewesen als heute.»
«Hesse, Rilke, Dürrenmatt – und der Wein»:
de.hessemontagnola.ch
Grappa—
Hochprozentige Verführung
Die Erfolgsgeschichte des modernen Grappa ist noch jung – vor allem dann, wenn man an den Ursprung dieses Destillates denkt. Wobei über den Ursprung des Grappas immer noch etwas gerätselt wird. Es gibt Theorien, die ihn im 5. Jahrhundert sehen und ihn mit den Burgundern in Verbindung bringen, während andere auf das 9. Jahrhundert tippen, als Sizilien von den Arabern besetzt war und Aufzeichnungen über die Technik der Destillation von Wein hinterliessen. Auch stammt das Wort Alkohol vom arabischen «Al Khôl». Wie dem auch sei – Grappa ist eines der ältesten Destillate und wurde schon im 15. Jahrhundert schriftlich erwähnt. In einem Dokument aus dem Jahre 1451 spielt Grappa eine wichtige Rolle. Ein piemontesischer Notar vermacht darin seinen Nachkommen unter anderem einen Keller mit einer Destillationsanlage und grösseren Mengen an Aquavit beziehungsweise Grape. Im Laufe der Jahrhunderte verwandelte sich das Wort in Grappa, wobei es übrigens von «Grappolo» (der Traube) abstammt. Grappa wird wie der Marc aus Frankreich oder der Tresterbrand aus Deutschland durch direkte Destillation der Schalen ausgepresster Weintrauben gewonnen. Exklusiv ist nur der Name, denn ausserhalb Italiens darf die Bezeichnung «Grappa» nicht verwendet werden – mit einer kleinen Ausnahme: der Schweiz. Ein aus dem Tessin stammender Tresterbrand darf sich auch Grappa nennen. Eine weitere Eigenheit des Grappas ist wie bereits erwähnt sein Image: Lange galt Grappa als «Arme-Leute-Schnaps» oder «Bauerngetränk». Wie die italienische Küche, deren Traditionen auf den Grundweisheiten der «Cucina Povera» ruhen, hat auch der Grappa tiefe Wurzeln in der Geschichte Italiens. Cucina Povera ist eine einfache italienische Küche mit wenigen Zutaten, die vielfältig variiert werden. Cucina Povera steht zugleich für uralte Tradition und eine kulinarische Umwertung der Werte. Nichts wird weggeworfen und alles wird verwertet. Vieles an der italienischen Küche ist «arm» im Sinne von «nicht elaboriert» (das pure Gegenteil der Molekularküche) und suggeriert deswegen gerade heute frische und gesunde Produkte. Der Ausspruch Facciamo noi (das machen wir selber) ist ebenfalls charakteristisch. Denn gekauft wird fast nichts. Das bäuerliche Misstrauen gegen fremde Nahrung führte dazu, dass in der echten Cucina Povera auch heute noch alles hausgemacht ist. Und so war es den Bauern über die Jahrhunderte erlaubt, ihren eigenen Hausschnaps für den Eigenbedarf zu brennen. Brenntraditionen und Rezepte wurden von Generation zu Generation übergeben, wobei erst in den 70er- und 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts eine wirkliche Kultur- und Qualitätsrevolution stattfand, die auch mit der italienischen Weinwelt Hand in Hand ging.
Grappa gehört eigentlich zu Italien –mit einer Ausnahme, dem Tessin. Wie das stolze Asterix-Dorf behaupten sich die Schweizer gegen die spirituelle Übermacht aus Italien.
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Grappa heute
Heute ist Grappa mehr als nur salonfähig. Überall dort, wo in Italien Wein wächst, findet man auch Grappa-Produzenten – hauptsächlich jedoch im Norden Italiens. Grappa kann aus dem Trester einer oder mehrerer Sorten gewonnen werden, doch immer mehr kommt sortenreines Traubengut zur Verarbeitung, das bei sorgfältiger Erzeugung die typischen geschmacklichen Merkmale aufweist. Neben den traditionellen Weissweinsorten wird immer mehr Grappa aus roten Rebsorten hergestellt. Beliebt sind nach wie vor GrappaVarianten, die mit Kräutern und Essenzen aromatisiert werden. Die Angebotspalette von Grappa-Abfüllungen ist enorm. Gesprochen wird von mehreren Tausend. Entsprechend vielfältig ist das Aromenspektrum. Es reicht von blumig-delikat bis nussigkomplex, wobei die einzelnen Destillate farblich kristallklar bis bernsteinfarben leuchten. Im Unterschied zu anderen Tresterbränden darf Grappa nur durch direkte Destillation von Traubentrester, also den festen Rückständen bei der Weinherstellung (Kerne, Schalen, Kämme), erzeugt werden. Das Verarbeiten von Weinen aller Art ist strikt verboten. Werden Destillate aus ganzen Trauben produziert, nennt man sie Aquavite d’uva, obschon sie geschmacklich einem Grappa zum Verwechseln ähnlich sein können. Die Herstellung von Grappa ist aufwendiger als bei vielen anderen Schnäpsen und bedingt spezielle Apparate. Denn es ist schlicht einfacher, eine Flüssigkeit zu brennen als einen Feststoff – und eine Auslaugung des Tresters mit Wasser ist verboten. Traditionell wird in Italien Grappa nach dem sogenannten «kontinuierlichen Verfahren» hergestellt. Die Brennkessel werden grösstenteils direkt beheizt, was immer die Gefahr des «Anbrennens» in sich birgt. Moderne Betriebe haben auf Beheizung mit Dampf umgestellt, während man hochwertige WasserbadBrennereien äusserst selten findet. Durch das Erhitzen des Tresters wird der Alkohol herausgekocht und zum Verdampfen gebracht.
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Der Dampf läuft über mehrere Kolonnen und wird immer stärker rektifiziert, das bedeutet, dass der Alkoholgehalt von Kolonne zu Kolonne höher wird. Der Mindestalkoholgehalt des trinkfertigen Produktes muss bei 37,5 Vol.% liegen, wobei die meisten Grappas einen Alkoholwert zwischen 40 und 50 Vol.% aufweisen. Eine Faustregel besagt, dass je niedriger der Alkoholgehalt des fertigen Produktes ist, desto intensiver und komplexer sich das Destillat präsentiert. Auch wird gesagt, dass je frischer das Ausgangsmaterial ist, umso mehr die primären Fruchtaromen im fertigen Brand erhalten bleiben. Renommierte Erzeuger legen daher grossen Wert darauf, nur immer so viel Trester anliefern zu lassen, dass möglichst rasch nach dem Abpressen der Trauben gebrannt werden kann. Mehrheitlich wird allerdings das gekühlte, getrocknete Material über längere Zeit gelagert, bis es weiterverarbeitet werden kann. Grappa zeichnet sich auch durch einen sehr tiefen Zuckergehalt aus – er liegt bei 2%.
Lagerung von Grappa
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Das aussergewöhnlich vielfältige Aroma, mit dem der Grappa vom Augenblick seiner Entstehung an ausgestattet ist, führt dazu, dass ein grosser Teil dieses Destillats jung getrunken wird. Nach der Produktion muss der Grappa laut Gesetz sechs Monate reifen, ehe er verkauft werden darf. Ein Trend ist auch die Lagerung in Holzfässern für einen mehr oder weniger langen Zeitraum, bis das Destillat unverwechselbare aromatische und farbliche Eigenschaften angenommen hat. Nicht jeder Produzent ist allerdings davon überzeugt, dass die Verbindung von Grappa und Holz wirklich ideal ist. Daher wäre es falsch zu glauben, dass Top-Grappas immer eine gewisse Reifezeit im Holz verbracht haben (was beim Wein in der Regel der Fall ist). Ein hochwertig gebrannter heller Grappa kann ebenso einmalig sein. Ist das Destillat allerdings mindestens sechs Monate im Fass und anschliessend ein weiteres Jahr luftdicht abgeschlossen in Glasballons oder Edelstahltanks gelagert, darf auf dem Etikett «invecchiata», «stravecchia» oder «riserva» stehen.
Genuss von Grappa
In unseren Breitengraden wird Grappa primär als Digestif serviert zur Abrundung eines Essens. Grappa sollte nie eiskalt oder on the rocks serviert werden, da sonst seine Aromavielfalt nicht zum Vorschein kommt. Die ideale Temperatur eines klaren, jungen Grappas liegt bei 8 bis 10 °C – also ähnlich wie Weisswein. Ein alter Grappa darf ruhig ein bisschen wärmer serviert werden. Hier kann man schon an einen Rotwein denken, der bei rund 18 °C perfekt schmeckt. Sehr beliebt ist auch der Caffè Corretto – ein Espresso mit einem Schuss Grappa. So wie die Grappaaromen vielfältig sind, hat man auch bei der Glasauswahl verschiedene Möglichkeiten. Spezielle Grappagläser gibt es heute von verschiedenen Herstellern. Will man sich kein spezielles Glas zulegen, geht auch immer das Nosing- oder das Univers-Glas. Sympathisch sind auch antike, eventuell verzierte Gläser – Erb- oder Fundstücke vom Flohmarkt. Sherry-Gläser eignen sich übrigens sehr gut für jungen Grappa, während ein gereifterer perfekt aus einem Cognac-Glas schmeckt. Abschliessend noch ein kleiner Hinweis: Auch in der Küche ist Grappa bestens geeignet, vor allem, um den Geschmack vieler leckerer Süssspeisen abzurunden. Auch wenn Grappa im Grunde genommen aus dem «Abfall» der Weinherstellung gewonnen wird, ist Grappa ein hochwertiges Destillat, das pur genossen am besten schmeckt.
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Die Cantina Sociale wurde 1949 von einer kleinen Gruppe Winzern gegründet, mit dem Ziel aus den «Früchten» ihrer Arbeit ein einzigartiges und ausgesuchtes Produkt herzustellen. Heute zählt die Cantina mehr als 200 Genossenschafter, als letzter Tessiner Winzer mit Genossenschaftsstatuten im Kanton. Schon die ersten Zeilen der Statuten machen klar, dass den Genossenschaftern zahlenmässig keine Grenze gesetzt ist, müssen sie jedoch aktive Winzer sein, damit Qualitätsweine produziert werden können, um so den wachsenden Ansprüchen eines immer interessierteren Publikums gerecht zu werden. 70 Jahre sind seit der ersten Weinlese vergangen und die Cantina ist immer noch einer der grössten Weinproduzenten im Kanton Tessin, dank dem Vertrieb der Tessiner Weine, die hauptsächlich aus Merlot Trauben hergestellt werden. Die Weinlese ist seit jeher der eigentliche Höhepunkt eines Weinjahrgangs und wird gebührend und gemeinsam gefeiert. In diesem Kontext zeichnet sich der Erfahrungsaustausch als unerlässlich, ja als grossartige Gelegenheit ab und gibt so die Basis für neue Anstösse, um sich jeden Tag aufs neue zu verbessern. Heute sind die Möglichkeiten der umweltverträglichen Anbaumethoden unter Einbezug der Landschaftspflege, vereint mit Leidenschaft und Hingabe während des gesamten Herstellungsprozesses, die Einzigartigkeit der Cantina im lokalen Umfeld. Drei genau und gut definierte Produktlinien erlauben es der Cantina Sociale Mendrisio sich sowohl im Bereich der Grossdistribution mit Private labels, wie auch in der Gastronomie mit grossem Optimismus zurecht zu finden, sich auch im In- und Ausland den Anforderungen der Märkte zu stellen und ihre Qualitätsprodukte den Konsumenten anzubieten. In den unterirdischen Kellern der Cantina, durch ein schmiedeeisernes Tor, gelangt man zur «barricaia», wo aus den Eichenfässern die wertvollen Riservas der Tenuta Montalbano und der Monticello Vini abgefüllt werden. Dort finden wir auch die «pupitres» für den «remuage» des Schaumweins Euforia, mit der klassischen Methode für die Marke Monticello hergestellt. Eine korrekte Auslese der Trauben von den Mitgliedern und die anschliessende professionelle Verarbeitung mit den neuesten Techniken der Kelterung, garantieren dem Markt grossartige Produkte. Die wohlstrukturierte Auswahl der Weine bietet allen Liebhabern den Genuss von Tessiner Rotund Weissweinen. Unter den bekannten Etiketten der Cantina Sociale finden wir den berühmten «Ticino Doc Merlot Viti», eine der ältesten Etiketten mit siebzig Jahren seit der ersten Lese. Und weiters sticht auch der “la Trosa” ins Auge, ein Wein gekeltert nur aus Trauben, die von Rebbergen des Mendrisiotto stammen, die mindestens 40 Jahre alt sind. Ein stolzes Produkt der Cantina.
PUNTO 202
Weisswein aus weissen Trauben wie Viognier, Kerner, Chardonnay und Merlot weiss gekeltert. Ein sattes Strohgelb mit grünlichen Spiegelungen. Fruchtiges Aroma, blumig und frischem Rasen. Passt ausgezeichnet zu frischen Pastagerichten, Risotti und Ravioli. Bestens auch zu Fisch und frischen Käsen aus Kuhmilch. Auch als Aperitif sehr geschätzt.
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CENTENARIO
Festwein zur Hundertjahrfeier des Merlot im Tessin im 2006. Schon im Rebberg ausgelesene Trauben geben dem Wein ein tiefes Rubinrot, reich am Gaumen mit angenehmen Noten roter Früchte. Ausgewogene Präsenz der Gerbstoffe. Passt bestens zu Schmor- und Eintopfgerichten, wie auch zu einem Züri Gschnetzlete mit Pilzen.
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LA TROSA
Die Trauben für diesen Wein kommen von mindestens 40-jährigen Rebstöcken der schönesten Hügel des Mendrisiotto. Während 8 Monaten in barriques gereift hat der Wein eine tief rubinrote Farbe mit granatroten Spiegelungen und intensiven Noten roter Früchte, Gewürzen und Vanille. Passt am besten zu Wildgerichten, Kitz, Lamm und rotem Fleisch, sowohl als Schmorgericht wie auch vom Grill, auch zu ausgereiften Käsen.