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Russische Klaviermusik

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Flamenco Nuevo

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Drei Klavierabende geben Einblicke in das reichhaltige russische Repertoire für Klavier

VON CHRISTOPH FLAMM

Die Zentren der Klaviermusik lagen bis zum frühen 19. Jahrhundert in London und vor allem Wien. Dann schwenkte die Kompassnadel auf Paris und blieb dort lange stehen. Ihr anderer Pol aber zeigte auf Russland, das im Fin de siècle und dann über das gesamte 20. Jahrhundert zu einem Eldorado für Liebhaber:innen von Klaviermusik wurde. Dabei waren die Anfänge der Klaviermusik in Russland alles andere als spektakulär gewesen: Nach der kulturellen Öffnung durch Peter den Großen lag Russlands musikalischer Fokus lange auf Oper und Vokalmusik, nicht also auf Konzert- oder instrumentaler Kammermusik. Um 1800 florierten Volksliedbearbeitungen mit Klavierbegleitung, die auch als reiner Klaviersatz funktionierten. Das Klavierlied, das sich im 19. Jahrhundert allmählich vom volkstümlichen Gesang zur Salonromanze entwickelte, erhielt in Russland lange wesentlich mehr Aufmerksamkeit als das freie Klavierstück, das sich von der Idee des Liedes emanzipieren musste und dies anfangs meist als Variationensatz über Liedthemen versuchte.

Inspirationsschübe für neue poetische Formen ebenso wie für zeitgemäßes pianistisches Vokabular kamen durch Konzertauftritte etwa von Franz Liszt und Clara Schumann, dauerhafter indessen durch Immigranten wie bereits John Field oder später Adolph von Henselt, die als Pädagogen, Interpreten und Komponisten tiefe Spuren in der russischen Klavierwelt hinterließen. Von Fields Schüler Alexander Villoing, der als Immigrantensohn bereits in Petersburg geboren wurde, führt eine direkte Linie zu Anton Rubinstein und damit wohl ins Herz der russischen Klaviermusik vor 1900. Rubinstein orientierte sich stark an Mendelssohn, versah dessen Tonsprache aber mit der großen Geste des Hypervirtuosen, so dass seine Sonaten, Etüden und Konzerte bei aller Bewahrung ästhetischer Schlichtheit einen Zug ins Gewaltige erhielten. Die Klavierwerke seines Schülers Tschaikowsky lehnen sich eng daran an und reichen von der gefälligen Petitesse bis zur monumental auftrumpfenden Grande Sonate, weiterhin in den Bahnen einer kosmopolitisch verstandenen Tonsprache.

Einen eigenen Tonfall suchte zeitgleich das »Mächtige Häuflein«, die Verweigerer akademischer Normen und Beschwörer nationaler Eigenständigkeit, von denen aber die meisten das Klavier eher als Nebensache behandelten. Deutlich heraus ragen aber doch Borodins »Kleine Suite«, Mussorgskis »Bilder einer Ausstellung« und Balakirews orientalische Fantasie »Islamey«, Werke, die auch das Interesse von Franz Liszt erregten und die mit kirchenmusikalischen, orientalischen oder kaukasischen Klängen charakteristische neue Farben abseits des europäischen Mainstreams brachten.

Die ästhetische Opposition zwischen dieser jungrussischen Schule und den Westlern vom Konservatorium ist einerseits evident, andererseits meist überstrapaziert worden: Zu deutlich ist die gemeinsame Schnittmenge (wie etwa Schumann), zu stark das beiderseitige Interesse auch an Lokalkolorit und an der Auseinandersetzung mit gesamteuropäischen Traditionen, wovon Tschaikowskys späte »Dumka« ebenso zeugt wie Balakirews zahllose chopineske Miniaturen oder seine große Sonate in b-moll. Klavierkomponisten wie Felix Blumenfeld, dessen Schaffen mittlerweile eine bemerkenswerte und überfällige Renaissance erlebt, repräsentieren ohnehin die Synthese von West und Ost.

ALEXANDER SKRJABIN

Porträt von Alexander Golowin, 1915

»Ich bin ein Nichts, ein Spiel, bin Freiheit, bin das Leben. Ich bin eine Grenze, ein Gipfel. Ich bin Gott.«

Um 1900 schließlich explodiert das russische Klavieruniversum, fast ohne Vorwarnung. Nicht nur die schiere Menge an Klaviermusik, sondern ihre unglaubliche Intensität, ihre poetische Erfindungskraft und ihr pianistischer Reichtum haben zu dieser Zeit kaum eine Entsprechung an anderen Orten, möglicherweise abgesehen von Paris.

Mit Rachmaninoff erhält die Tradition von Rubinstein und Tschaikowsky eine bisweilen erschütternde emotionale Tiefe; Skrjabin führt Chopins lyrische Hypersensibilität in ekstatische Grenzbereiche und erweitert die Beethoven’sche Idee der Sonate als Prozess zu einem spiralförmigen kosmischen Streben; Medtner bindet psychologische Aufschwünge ebenso wie Abgründe an ein individualistisches und zutiefst philosophisches Sonatenkonzept. Allein diese drei Komponisten-Pianisten würden genügen, um die Bedeutung russischer Klaviermusik im frühen 20. Jahrhundert zu verstehen. Aber die Saat ging noch weiter auf – auch in sowjetischer Zeit. Sowohl Prokofjew als auch Schostakowitsch kamen vom Klavier und schufen fürs Klavier, wenn auch nicht so ausschließlich wie manche der älteren Kollegen. Dreiste Experimente und Provokationen wie Prokofjews »Sarkasmen« oder Schostakowitschs »Aphorismen« stehen neben so gebändigten Werken wie Prokofjews späten Sonaten oder Schostakowitschs Zyklus von Präludien und Fugen –beides gleichsam »wohltemperierte« Klaviermusik unter Stalin. Später wird Schtschedrin, ebenfalls eminenter Komponist-Pianist, manche dieser Linien weiterführen, die Freude an der strengen Polyphonie ebenso wie an entfesselter, ja pyrotechnischer Klaviervirtuosität.

Hinter diesen berühmten Namen öffnet sich indessen eine Schatzkammer weiterer Klaviermusik, die noch einer breiteren Entdeckung harrt: die himmelsstürmenden Kanons, Präludien und Sonaten von Stantschinsky, die apokalyptische Dramatik der Sonaten von Feinberg (der auch ein genialer Transkriptor war), die exzentrisch-aggressive Nachtschwärze von Mossolow, das skrjabineske Parfüm und die fragile Eleganz von Roslawetz, dann der große Sonatenkosmos von Mjaskowski wie auch von Alexandrow, die wuchtigen Partiten von Swiridow, schließlich die Nachkriegsavantgarde mit Volkonsky, ganz zu schweigen von den jüngeren wie Denisov oder Gubaidulina – und der Strom reißt nicht ab.

Das Klavier nimmt offensichtlich im Bewusstsein der russischen Komponist:innen einen Platz ein, den es anderswo nicht – oder selten – bekommen hat, und das seit nunmehr eineinhalb Jahrhunderten. Es ist Zeit, nicht nur die bekannten Werke immer neu zu hören, sondern sich auf die unbekannten einzulassen. Suchtgefahr inkludiert.

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Mi, 03/05/23, 19.30 Uhr · Großer Saal

Klavierabend: Daniil Trifonov · Sergei Babayan

Sergej Rachmaninoff: Suite Nr. 1 »Fantaisie-Tableaux« op. 5 für zwei Klaviere · Suite Nr. 2 op. 17 für zwei Klaviere · Symphonische Tänze op. 45 (Fassung für zwei Klaviere)

Ticketbezug: https://konzerthaus.at/konzert/eventid/60120

Sa, 06/05/23, 19.30 Uhr · Mozart-Saal

Klavierabend: Lahav Shani

Sergej Prokofjew: Sonate Nr. 4 c-moll op. 29 · Sonate Nr. 7 B-Dur op. 83 · Sonate Nr. 3 a-moll op. 28 · Sonate Nr. 6 A-Dur op. 82

Ticketbezug: https://konzerthaus.at/konzert/eventid/60132

Mi, 14/06/23, 19.30 Uhr · Großer Saal

Klavierabend: Arcadi Volodos

Federico Mompou: Scènes d’enfants »Kinderszene« Auswahl ( Música Callada); Alexander Skrjabin: Etude fis-moll op. 8/2 · Etude b-moll op. 8/11 · Prélude es-moll op. 11 /14 · Prélude H-Dur op. 22 / 3 · Prélude b-moll op. 37/1 · Deux poèmes op. 63 · Poème op. 71 /2 · Flammes sombres op. 73 /2 (Deux danses) · Sonate Nr. 10 op. 70 · Vers la flamme. Poème op. 72

Ticketbezug: https://konzerthaus.at/konzert/eventid/60190

Di, 09/05/23, 19.30 Uhr · Großer Saal

Filarmonica della Scala · Mao Fujita, Klavier · Riccardo Chailly, Dirigent

Igor Strawinski: Chant funèbre op. 5; Sergej Rachmaninoff: Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3 d-moll op. 30; Sergej Prokofjew: Symphonie Nr. 7 cis-moll op. 131

Ticketbezug: https://konzerthaus.at/konzert/eventid/60140

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