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The Tower of Babel

Ein Projekt des Klangforum Wien 2023; Initiiert durch das Klangforum Wien und das Wiener Konzerthaus, koproduziert mit AFF Projects

VON PETER PAUL KAINRATH · Intendant des Klangforum Wien

Riesige Schatten liegen auf den vielen Szenen Neuer Musik des postsowjetischen Territoriums, das aktuell einmal mehr Schauplatz gewalttätiger Auseinandersetzungen ist.

Das Fluidum eines als vollkommen natürlich empfundenen Dialogs maßgeblicher Komponist:innen und Interpret:innen zwischen Tbilisi und Minsk, Eriwan und Moskau, Taschkent und Kyiv ist zum Stillstand, das Gespräch zum Erliegen gekommen. Musik läuft wieder einmal Gefahr, auf nationale Selbstbehauptung und zum Propagandaschild vermeintlicher Überlegenheit reduziert zu werden. Widerstand ist gegen eine solche Instrumentalisierung angesagt. Das Klangforum Wien will mit seinem mehrteiligen Projekt »The Tower of Babel – der Turm zu Babel« einen Beitrag dazu leisten.

Bereits in den späten 1970er-Jahren formierte sich eine kulturelle Auflehnung gegen den sowjetischen Kolonialismus, vor allem in den damaligen Szenen Neuer Musik. Musik, als die abstrakteste der Künste, war von den jeweiligen Regimes am wenigsten vereinnahmbar und Hort des unabhängigen wie freien Denkens. Man erinnere sich nur an die verborgene, aber um nichts weniger wirksame Arbeit der sogenannten »Kyiv avant-garde«, oft auch »illegitime Kinder Weberns« genannt, oder an Gija Kantscheli, der als Komponist im georgischen Tbilisi einen damals vollkommen verpönten Schönheitsbegriff in die Musik brachte, oder den ebenfalls aus Georgien stammenden Mikheil Shugliashvili, der »Xenakis’sche« Blöcke aus der archetypischen Musiktradition seines Landes herausgebrochen hatte. Unzählige Positionen auf der Strecke vom Baltikum nach Usbekistan, von Armenien nach Weißrussland und selbstverständlich auch im russischen Epizentrum Moskau waren im gegenseitigen Austausch und geeint darin, das Freie in der Musik von niemandem und nichts beschneiden zu lassen.

Radikale Selbstbefragung der Künstler:innenschaft und Auflehnung gegen die Kastration künstlerischer Freiheit sind in diesem kulturellen Großraum von besonders ausgeprägter Tradition und reichen weit zurück. Dies wird 1909 im bahnbrechenden Buch »Vechi« (als »Wegzeichen. Zur Krise der russischen Intelligenz« 1990 im Eichborn Greno Verlag in deutscher Sprache wieder aufgelegt) ebenso unerbittlich wie faszinierend auf den Punkt gebracht wie 65 Jahre später durch russische Exilant:innen in einem in Paris erschienenen Essayband mit dem vieldeutigen Titel »Из-под глыб« (wörtlich »Von unter den Felsbrocken«, in deutscher Übersetzung »Stimmen aus dem Untergrund«) – der Widerstand liegt im Verborgenen, kann aber von keinem Felsen erdrückt werden.

(c) Alexander Kutishchev

Thomas Hirschhorn, »Abschlag«, Installation auf der Manifesta 10 im General Staff Building der Eremitage in St. Petersburg

Disparat, bruchstückhaft und von glühend subkutaner Energie war und ist das Avant-la-garde-Sein in diesem Teil der Erde. Viel davon ist im Orkus der Geschichte verschwunden. Diesem Verschwinden und gleichzeitigem Dasein hat der Schweizer Künstler Thomas Hirschhorn mit seinem »Abschlag« für die Kunstbiennale Manifesta 10 in der Eremitage von St. Petersburg 2014 ein Denkmal gesetzt. Monumental und dramatisch kommt diese Arbeit daher. Sie kündet von Wahrhaftigkeit und von nicht eingelösten Versprechungen, von Dystopie und Utopie und vor allem von jener schöpferischen Kraft, die ästhetische Spitzfindigkeiten und politische Dogmen hinter sich lässt.

Vor diesem Hintergrund und vor den Koordinaten eingeschlagener Avantgarde-Pflöcke entwirft das Klangforum Wien gemeinsam mit seinem Partner Wiener Konzerthaus eine Landkarte des Neuen in der Musik im heutigen postsowjetischen Raum, die in gebotener Selbstverständlichkeit künstlerisch kompromisslose Positionen aus Estland, Armenien, Kasachstan, Georgien, Lettland, Russland und der Ukraine aufzeigt. Wie ein »Turm zu Babel« soll das Projekt aus dieser aktuell so geschundenen Kulturlandschaft hervorragen, vielstimmig, nach wie vor utopisch, und als Zufluchtsort wie Aussichtspunkt gleichermaßen strahlen.

»Eine Landkarte des Neuen in der Musik im heutigen postsowjetischen Raum«

So, 18/06/23, 19.30 Uhr · Großer Saal

Klangforum Wien · Cantando Admont · Björn Wilker, Schlagwerk · Bas Wiegers, Dirigent

»The Tower of Babel«

Age Veeroos: » Ich sehe Federn wachsen im Sand der Wüsten«; Valery Voronov: Gigantomania; Alexey Sysoev: Col Pugno; Jamilia Jazylbekova: Les illusions de l’âme; Alexander Khubeev: The Codex of Thought crimes (UA der revidierten Fassung)

Ticketbezug: https://konzerthaus.at/konzert/eventid/61025

Mo, 19/06/23, 19.30 Uhr · Mozart-Saal

Klangforum Wien · Markus Deuter, Oboe · Michele Marelli, Bassklarinette · Anders Nyqvist, Trompete · Krassimir Sterev, Akkordeon · Dariya Maminova, Stimme · Vitali Alekseenok, Dirigent

»The Tower of Babel«

Dariya Maminova: i don’t know whether the Earth is spinning or not …; Mikheil Shugliashvili: Sextett für zwei Klaviere und Streichquartett; Anna Korsun: UCHT; Asia Ahmetjanova: Beth; Aram Hovhannisyan: Strophes – Segments

Ticketbezug: https://konzerthaus.at/konzert/eventid/61026

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