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Orchester & Kammermusik: Marschierende Riesen

Marschierende Riesen

Johannes Brahms und die Tradition

VON KLAUS ARINGER
Ich werde nie eine Symphonie komponieren! Du hast keinen Begriff davon, wie es unse reinem zu Mute ist, wenn er immer so einen Riesen (Beethoven) hinter sich marschieren hört.

JOHANNES BRAHMS zu dem Dirigenten Hermann Levi 1870

Sommer 1876: Während Brahms seine 1. Symphonie fertigstellte, an der er mit Unterbrechungen annähernd 14 Jahre gearbeitet hatte, probte man zur Eröffnung des Bayreuther Festspielhauses die »Ring«-Tetralogie. Wagner befand sich auf dem Zenit seiner öffentlichen Wirkung, als sich am 13. August 1876 der Vorhang zum »Kunstwerk der Zukunft« hob.

Die Uraufführung von Brahms’ Symphonie c-moll am 4. November desselben Jahres in Karlsruhe musste dazu wie ein öffentlicher Widerspruch wirken: ein Protest in Tönen gegen das Verdikt Wagners und Liszts, die Symphonie habe als Gattung ausgedient und sei von Musikdrama und Symphonischer Dichtung abgelöst worden.

Endlich hatte sich Brahms vom enormen öffentlichen Erwartungsdruck befreit und das eingelöst, was Robert Schumann 1853 prophezeit hatte: Der Zwanzigjährige sollte sein Nachfolger und Symphoniker der Zukunft werden.

Aus Brahms’ symphonischem Erstling spricht nicht nur das Selbstbewusstsein eines künstlerisch erwachsen gewordenen Schöpfers, sondern auch der trotzige Behauptungswillen der Gattung Symphonie. Die Urteile über die Novität fielen, wie nicht anders zu erwarten, zwiespältig aus: Von den einen wurde sie emphatisch als Erneuerung des symphonischen Geistes Beethoven’scher Prägung gefeiert, von den anderen als blasses Epigonentum abgetan.

Brahms stellte sich den immensen Herausforderungen bewusst und mehrfach abgesichert. Seine Musik bezog sich ebenso deutlich auf klassische Vorbilder wie sie sich durch individuellneuartige Elemente davon abhob. Die Aktualisierung der überkommenen Sonatenform und des Satzzyklus von innen heraus führte konsequent zu einer veränderten Dialektik der symphonischen Prozesse.

Brahms’ 4. Symphonie von 1885 zeugt hiervon am deutlichsten: Ihre »hybride kammermusikalische Monumentalität« (Giselher Schubert) verweigert sich dem Geschmack des großen Publikums und wendet sich an ein exklusives Auditorium von Kenner:innen, das eher im intimeren Bereich der Kammermusik vorausgesetzt werden konnte als im großen Konzertsaal.

Brahms’ Symphonien sind die tönende Realisierung dessen, was er 1858 gegenüber dem Geiger Carl Bargheer mit der Formulierung, Symphonien nach Beethoven »müssten … ganz anders aussehen« mit Worten umriss. Sein Anlauf zur Krone der Instrumentalmusik war langwierig und krisenhaft verlaufen; zwischenzeitlich schien er gar allen Mut verloren zu haben. 1870 äußerte er gegenüber dem Dirigenten Hermann Levi verzweifelt: »Ich werde nie eine Symphonie komponieren! Du hast keinen Begriff davon, wie es unsereinem zu Mute ist, wenn er immer so einen Riesen (Beethoven) hinter sich marschieren hört.«

Fast scheint es, als habe Brahms diesen Worten im Interieur seiner zum Jahreswechsel 1871/72 bezogenen Wiener Wohnung in der Karlsgasse Ausdruck verleihen wollen. Wenn er dort am Klavier saß, hatte er den verehrten Meister tatsächlich im Rücken: Beethoven schaute in Gestalt einer monumentalen Büste auf ihn herab.

All das sollte nicht vergessen machen, dass die Bewunderung für große Werke der Musikgeschichte Brahms keineswegs verzagen ließ, sondern ihn im positiven Sinne produktiv stimulierte. Daher berührt das Verhältnis zur musikalischen Tradition bei kaum einem anderen Komponisten so sehr Grundfragen der künstlerischen Haltung wie bei ihm. Nicht musikhistorisches Wissen, sondern die Erfahrung unverwelkter künstlerischer Aktualität der Meisterwerke der Vergangenheit ließ ihn ein geschichtsphilosophisches Weltbild ablehnen, das in der damaligen Gegenwart den Höhepunkt aller Entwicklungen sah. Ein neues Werk in eine lange und reiche Traditionslinie einzureihen bedeutete, selbstkritisch hohe Ansprüche zu stellen und sich Vergleichen auszusetzen.

Brahms lebte in einer Epoche zunehmender Kanonisierung des Repertoires; der Kreis stets von Neuem aufgeführter Werke schloss sich (zuerst in der Kammermusik) zusehends. Für Komponisten wurde es schwieriger, ihre Novitäten unterzubringen. Vom Anspruch »dauerhafter Musik« wollte Brahms nicht abgehen, zumal auf seinem ureigensten Gebiet, dem der Kammermusik. Auch hier hatte er sich dem Zentrum in Gestalt des Streichquartetts schrittweise und über Umwege genähert. Mehr als zwanzig Quartette hat er vernichtet, bevor er 1873 sein Opus 51 in den Druck gab. Drei Jahre später folgte ein drittes Streichquartett, das sich unüberhörbar nicht mehr so sehr an Beethoven, sondern Haydn orientierte. Satztechnisch und im Weglassen »überflüssiger Noten« profitierte er auch auf diesem Gebiet von Vorerfahrungen, die er mit seinen Streichsextetten gemacht hatte.

Am Ende seines Lebens fürchtete Brahms, er müsse als Akademiker in die Musikgeschichte eingehen. Als die musikalische Praxis längst ihr Urteil gesprochen hatte, prägte Arnold Schönberg eine Sichtweise, die in Brahms neben dem Fortsetzer der Tradition zugleich einen Wegbereiter für die Moderne erblickte. Brahms selbst meinte bereits 1857 gegenüber Clara Schumann hellsichtig: »Wer kann jemals sagen, jetzt habe etwas sein Ende erreicht, was nie sein Ende hat. Die kleinen Leute haben ja hinter jedem Genie einen Schlusspunkt machen wollen … Nur ein schaffendes Genie kann in der Kunst überzeugen.«

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Mo, 06/05/24, 19.30 Uhr · Mozart-Saal

Belcea Quartet · Zimmermann · Queyras

Tabea Zimmermann, Viola

Jean-Guihen Queyras, Violoncello

Johannes Brahms: Streichsextett Nr. 1 B-Dur op. 18 · Streichsextett Nr. 2 G-Dur op. 36

Karten: https://konzerthaus.at/konzert/eventid/60954

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Mo, 13/05/24, 19.30 Uhr · Großer Saal

Budapest Festival Orchestra · Eberle · Isserlis · Fischer

Veronika Eberle, Violine

Steven Isserlis, Violoncello

Iván Fischer, Dirigent

Johannes Brahms: Ungarischer Tanz Nr. 21 e-moll (Bearbeitung für Orchester: Antonín Dvořák) · Konzert für Violine, Violoncello und Orchester a-moll op.  102 · Ungarischer Tanz Nr. 14 d-moll (Bearbeitung für Orchester: Albert Parlow) · Symphonie Nr. 4 e-moll op.  98

Karten: https://konzerthaus.at/konzert/eventid/60963

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Mo, 13/05/24, 19.30 Uhr · Mozart-Saal

Jerusalem Quartet

Felix Mendelssohn Bartholdy: Streichquartett Es-Dur op. 12 · Paul Ben-Haim: Streichquartett Nr. 1 op. 21 · Johannes Brahms: Streichquartett Nr. 3 B-Dur op. 67

Karten: https://konzerthaus.at/konzert/eventid/60962

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Do, 06/06/24, 19.30 Uhr · Großer Saal

Oslo Philharmonic · Lozakovich · Mäkelä

Daniel Lozakovich, Violine

Klaus Mäkelä, Violoncello, Dirigent

Johannes Brahms: Konzert für Violine, Violoncello und Orchester a-moll op. 102 · Symphonie Nr. 1 c-moll op. 68

Karten: https://konzerthaus.at/konzert/eventid/60996

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