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Eine Passion für die Klaviermusik
VON ISABEL NEUDECKER
Rückblende: Aus den Memoiren eines Musikliebhabers
»Ich nehme mich beim Klavierspielen auf Band auf; zunächst geschah es aus Neugierde, mich hören zu können; doch bald höre ich mich nicht mehr; was ich höre ist irgendein Anschein von Prätention, dass gesagt werden kann, das Da-sein von Bach und Schumann, die reine Materialität der Musik; (...) wenn ich dagegen, eine paradoxe Tatsache, Richter und Horowitz höre, kommen mir tausend Adjektive in den Sinn: sie höre ich und nicht Bach oder Schumann.« (Roland Barthes: Über mich selbst. Matthes & Seitz, Berlin 2019)
Derjenige, der hier Klavier spielt und genau hinhören möchte, ist Roland Barthes: Ausgerechnet er, der sich jeglicher Zuschreibung entzog und kein Freund schmückender (sic!) Beiwörter war, merkt an, dass ihm »tausend Adjektive in den Sinn« kommen beim Hören der Jahrhundertpianisten Horowitz und Richter. Auch wenn sich Kulturwissenschaftler:innen bis heute nicht einig sind, ob Barthes Philosoph, Literaturkritiker, Semiotiker oder Poststrukturalist war, eines war er gewiss: ein Liebender. Er liebte die Sprache, die Vielfalt der Diskurse, das Denken, die schönen Künste, ja sogar schnelle Autos und die Musik, insbesondere die Gesangs- und Klavierkunst.
Zukunftstöne: Volles Programm für Musikliebhaber:innen
Wir tun es dem Musikliebhaber Roland Barthes gleich: Wir hören die großen Pianist:innen – etwa Argerich, Trifonov oder Babayan. Das Postulat der sogenannten »Werktreue«, das bei Barthes’ Notiz in weiterer Folge mitschwingt (im Sinne eines Subtextes von »Wir hören Schumann – authentisch.«) ist im Übrigen ein historisch relativ junger Begriff, der der Musikphilosophin Lydia Goehr zufolge erst mit Dirigentenpersönlichkeiten wie Mahler, Toscanini und Klemperer aufkam. Und nicht zuletzt Ivo Pogorelich zeigte bei seinem jüngsten Recital Ende Mai im Großen Saal, dass auch eine radikal empfundene Subjektivität ihren Platz im Konzertleben hat. Das Wiener Konzerthaus bietet nicht nur Klavierliteratur vom Barock bis in die Moderne – in unterschiedlichen Besetzungsvarianten –, sondern auch ein ebenso breites Spektrum an Ausdeutungen und Zugängen. Vor einigen Wochen wagte sich etwa Daniil Trifonov an Bachs »Kunst der Fuge«, bevor Beatrice Rana an zwei aufeinanderfolgenden Abenden die Klavierkonzerte des (späteren) Ehepaares Clara und Robert Schumann zu Gehör brachte. Im September und Oktober hören wir Martha Argerich, Sergei Babayan, Bruce Liu, »Great Talent« Anton Gerzenberg, Jan Lisiecki und erneut Beatrice Rana mit ihren ganz persönlichen Annäherungen an Zentralgestirne der Klaviermusik.
Martha Argerich
»Ich liebe Schumann«, so Martha Argerich in einem Interview: »Er berührt mich tief. Worte können es nicht beschreiben. Man kann Musik nicht erklären – oder nicht erklären, was man fühlt.« Das Unaussprechliche der Musik – Roland Barthes fallen »tausend Adjektive« ein, um die Fülle der Eindrücke zu beschreiben – gibt schlussendlich doch in erster Linie unsere Reflexion wieder: Das Wesen der Musik jedoch bleibt – wie die Liebe –, wenn wir »bezaubert« sind, im Grunde eigentlich unsagbar. Wer jedoch Martha Argerichs Interpretation von Schumanns Klavierkonzert hört, dem wird die enge Beziehung zu Schumanns Musik ohnehin ohrenfällig. Das Werk lädt mit seiner Hinwendung zur freien, fast improvisatorischen Gestaltung zum Fantasieren ein: Anders als manches Klavierkonzert des 19. Jahrhunderts ist es kein virtuoses Bravourstück.
Beatrice Rana
Ebenfalls Beethoven widmet sich die zwei Jahre ältere italienische Pianistin Beatrice Rana: Mit der Hammerklaviersonate nimmt sie sich »eine Sonate, die den Pianisten zu schaffen machen wird« (so Beethoven) als Auftakt zum Zyklus »Klavier im Mozart- Saal« vor. Den pianistischen Olymp scheut Rana nicht: Sie hat bereits Einspielungen von Bachs »Goldberg- Variationen« und Chopins Etuden vorgelegt.
Jan Lisiecki
Ebenso emporragend aus seiner Entstehungszeit ist Beethovens viertes Klavierkonzert, das der 1995 geborene Jan Lisiecki interpretiert: Die Spanne der Eindrücke reicht von majestätischen bis hin zu intimen Momenten im zweiten Satz, der als klassische Elegie angelegt ist. Viele führen dies – in biographischer Auslegung – auf Beethovens mal glückliche, mal betrübliche Liebe zu Josephine Brunsvik zurück. Man darf gespannt sein, wie der kanadischpolnische Pianist mit dem Faible für Abstufungen die vielen Nuancen herausarbeitet.
Sergei Babayan
Während Beatrice Rana in Beethovens späten Kosmos blickt, beleuchtet Sergei Babayan ein modernes Frühwerk Prokofjews. Babayan gilt als ausgewiesener Kenner der russischen Musik (und darüber hinaus) und ist erstmals mit den Wiener Symphonikern im Wiener Konzerthaus zu hören. Auf dem Programm steht mit Prokofjews zweitem Klavierkonzert ein Paradestück der Avantgarde: Moderne Tonsprache trifft auf die für Prokofjew so typische Motorik.
Bruce Liu
Auch Bruce Liu taucht in die russische Klavierliteratur ein: Im März gab der 25-jährige Gewinner des Chopin-Wettbewerbs sein Debüt im Mozart-Saal. Auf sein »Chopin pur«- Programm folgt nun Rachmaninoffs »Paganini-Rhapsodie«. Er wird dem janusköpfigen Werk, das mit Symbolen von Vergänglichkeit und Liebe spielt, seine gesamte Variationsbreite entlocken – über die 24 Variationen hinaus. Und am Ende, nach den Eindrücken eines Klavierabends, bleibt vor allem eines, wie Roland Barthes festhielt: »Es bleibt nur noch die Musik.« Und das ist gut so.
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21/09/22, Mi, 19.30 Uhr · Großer Saal
Wiener Philharmoniker · Argerich · Mehta
Martha Argerich: Klavier; Zubin Mehta: Dirigent
Robert Schumann: Klavierkonzert a-moll op. 54
Anton Bruckner: Symphonie Nr. 4 Es-Dur »Romantische«
Karten: konzerthaus.at/konzert/eventid/59745
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10 /10/22, Mo, 19.30 Uhr · Großer Saal
11/10/22, Di, 18.30 Uhr · Großer Saal
Camerata Salzburg · Lisiecki
Jan Lisiecki: Klavier, Gregory Ahss: Konzertmeister, Leitung
Christoph Willibald Gluck: Ouverture zu »Orfeo ed Euridice« Ludwig van Beethoven: Klavierkonzert Nr. 4 G-Dur op. 58 Étienne Nicolas Méhul: Symphonie Nr. 1 g-moll
Karten: konzerthaus.at/konzert/eventid/59772
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21/10/22 Fr, 19.30 Uhr · Großer Saal
23/10/22, So, 11.00 Uhr · Großer Saal
Wiener Symphoniker · Babayan · Slobodeniouk
Sergei Babayan: Klavier, Dima Slobodeniouk: Dirigent
Sergej Prokofjew: Ouverture über hebräische Themen c-moll op. 34 · Klavierkonzert Nr. 2 g-moll op. 16
Peter Iljitsch Tschaikowsky: Symphonie Nr. 1 g-moll op. 13 »Winterträume«
Karten: konzerthaus.at/konzert/eventid/59801
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23/10/22 So, 19.30 Uhr · Großer Saal
Orchestre symphonique de Montréal · Liu · Payare
Bruce Liu: Klavier, Rafael Payare: Dirigent
R. Murray Schafer: Scorpius
Sergej Rachmaninoff: Rhapsodie über ein Thema von Paganini op. 43 für Klavier und Orchester
Dmitri Schostakowitsch: Symphonie Nr. 10 e-moll op. 93
Karten: konzerthaus.at/konzert/eventid/59805