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Blickpunkt Giuseppe Verdi
Mit Pauken und Trompeten: herausgehämmerte Töne und martialischer Überschwang zur Eröffnung der 111. Saison mit Orchestra e Coro del Teatro alla Scala aus Mailand unter der Leitung von Riccardo Chailly
VON ANSELM GERHARD
Va pensiero, sull’ali dorate
Wer kennt nicht den Gefangenenchor aus Verdis »Nabucco«? Und wer kennt nicht die Geschichte dazu? Verdi habe dem Freiheitswillen der unter der Habsburger »Fremdherrschaft« leidenden Mailänder klingenden Ausdruck verliehen. Die Legende ist zu schön, um wahr zu sein. 1842 hatte sich der lombardische Adel mit der Wiener Obrigkeit arrangiert, träumte allenfalls von mehr Autonomie. Verdi hatte den Klavierauszug seiner Oper der Erzherzogin Adelheid gewidmet, Tochter des in Mailand regierenden Vizekönigs und Cousine des Wiener Kaisers. Einen Monat nach der Uraufführung wurde sie dem piemontesischen Thronfolger Vittorio Emanuele angetraut, später erster König des vereinten Italiens. Doch 1842 wurde die Einigungsbewegung im Piemont noch brutal unterdrückt, erst 1848 sollten die Turiner Herrscher in einer abenteuerlichen Volte dieses »Risorgimento« (wörtlich »Wiedererstehen«) für ihre Zwecke vereinnahmen.
Auch wenn der Gefangenenchor nicht vor den 1870erJahren zum patriotischen Fanal verklärt wurde, hat er doch eine Gemeinsamkeit mit zwei weiteren Chören im Programm des Konzerts: Auch »O Signore, dal tetto natio« aus »I Lombardi alla prima crociata« (1843) und »Si ridesti il Leon di Castaglia« aus »Ernani« (1844) sind im hämmernden Zehnsilbler gedichtet. Während die Chöre aus »Nabucco« und »I Lombardi« verhalten, ja melancholisch erscheinen, spielt allein die Musik des Chors aus »Ernani« die martialischen Qualitäten dieses Versmaßes aus. In der Tat wurde dieser Chor bald im Kampf für ein vereintes Italien gesungen, der nach 1845 neuen Auftrieb bekommen hatte. Verdis Librettist Francesco Maria Piave hatte sogar die bange Frage gestellt, ob die Zensur die zweite Strophe mit dem Eröffnungsvers »Wir sind alle eine einzige Familie« durchgehen lassen würde.
Pomp and Circumstance
Auch der Chor vom »unterdrückten Vaterland« aus »Macbeth« (1847) wurde trotz seiner Melancholie in den Monaten vor den Aufständen von 1848 auf die aktuelle Situation bezogen. Die machtvollen Chöre aus dem Finale des dritten Aktes von »Don Carlos« (1865) und dem Finale des zweiten Aktes von »Aida« (1871) stehen dagegen für das, was bei Edward Elgar – mit Shakespeares Worten – »Pomp and Circumstance« heißen wird: Die spanische Monarchie und die ägyptischen Pharaonen lassen ihre Terrorherrschaft zelebrieren. Sympathien für diese sollten wir Verdi nicht unterstellen. Vielmehr verglich er die Selbstinszenierung seiner Pharaonen mit dem arroganten Auftreten des – in Italien verhassten – späteren Kaisers Wilhelm I. im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71.
Psychologie der Massen
Neben der Darstellung individueller Gefühle spielte auch das, was am Ende des 19. Jahrhunderts als »Psychologie der Massen« bezeichnet werden sollte, eine maßgebliche Rolle für Verdis Opern. Nicht nur die genannten Finalszenen, auch der frivole Chor aus »La forza del destino« (1862) steht für solche Tendenzen. Dort erklärt die Marketenderin Preziosilla die »follia«, den »Irrsinn«, zur Quintessenz jeden Kriegs – in einer rasend schnellen Tarantella, als seien alle von der Tarantel gestochen. Eine ähnliche Flucht vor den Realitäten besingt der sogenannte »Zigeunerchor« aus »Il trovatore« (1853). Die schweißtreibende Arbeit der Schmiede ist nur erträglich, wenn eine »zingarella«, eine »Zigeunerin« mit (sexueller) Belohnung lockt. Verdi markiert im C-Dur-Refrain alle vier Zählzeiten mit enthemmten Hammerschlägen auf Ambossen.
Mit Pauken und Trompeten
Pauken und Trompeten prägen auch die wenigen Ouverturen Verdis. In den meisten seiner Opern hatte er versucht, die Stimmung der folgenden Tragödie in einem kurzen Preludio einzufangen. Im Vorspiel zu »Macbeth« intonieren drei Holzbläser im Unisono das Motiv des Hexenchors, bevor hämmernde Akkorde der Blechbläser die Szene der Erscheinungen vorwegnehmen. Der kurze Kontrapunkt der Violinen und die melancholische Melodie der Oboen – immer in der dunklen Tonart f-moll – verweisen auf die Schlafwandelszene der »Lady Macbeth«. Im Vorspiel zu »Ernani« präsentieren Trompete und Posaune eine scharf punktierte Melodie in c-moll. Sie verweist auf den Eid des Titelhelden, mit dem jener sein Leben verpfänden wird. Wenig später folgt ein getragenes Thema der Violinen in C-Dur ohne direkten Bezug zur Oper. Es steht wohl für die bedingungslose Liebe Ernanis und Elviras. In der – übrigens nicht als Vorspiel bezeichneten – kurzen Einleitung zur Eröffnungsszene von »Il trovatore« weisen Pauken- und Trommelwirbel auf das dräuende Unheil des rabenschwarzen Dramas. Auf Dreiklangsfanfaren im Orchester-Tutti antwortet ein Horn-Solo, das im Pianissimo e-moll und eben nicht E-Dur als Tonart der Tragödie setzt.
Für »Nabucco« hatte Verdi dagegen eine ausgereifte Ouverture komponiert. Im Maestoso spielen die Posaunen eine Art Choralsatz, an die sich eine instrumentale Fassung des Chors der Leviten im zweiten Akt anschließt, bevor der berühmte Gefangenenchor in einer walzerseligen Variante eingeführt wird. Der Allegro-Hauptsatz greift wieder den Chor der Leviten auf. Wer genau hinhört, kann aber auch den Chor der assyrischen Priester am Beginn des zweiten Aktes, die Stretta aus dem Finale des ersten Aktes und eine Überleitungspassage aus dem Duett Abigaille–Nabucco im dritten Akt erkennen.
Martialischer Überschwang
Die für die Neufassung von »La forza del destino« (1869) nachkomponierte Ouverture beginnt – wie das kurze Vorspiel der ersten Fassung – nach dem dreimal herausgehämmerten Ton E mit dem allgegenwärtigen »Schicksalsmotiv« im 3/8-Takt. Später folgt die flehentliche Melodie Alvaros aus seiner letzten Konfrontation mit Carlo. Danach richtet Verdi den Fokus auf Leonora mit ihrer Anrufung der Jungfrau Maria und der ekstatischen Melodie aus dem zweiten Akt, die Grundlage eines Allegro brillante wird. Von dessen Schwung würde man sich gerne mitreißen lassen, trotz des Wissens um den blutigen Ausgang dieser Tragödie und die Folgen martialischen Überschwangs (nicht nur) im 19. Jahrhundert.
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KONZERTTIPPS
Mo, 04/09/23, 19.30 Uhr · Großer Saal
Saisoneröffnung
Orchestra e Coro del Teatro alla Scala · Chailly Riccardo Chailly Dirigent
Ouverturen, Chöre und Ballettmusik aus »Nabucco«, »I Lombardi«, »Ernani«, »Don Carlos«, »Macbeth«, »Il trovatore«, »La forza del destino« und »Aida« von Giuseppe Verdi
Karten:
https://konzerthaus.at/konzert/eventid/60582
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Sa, 28/10/23, 19.30 Uhr · Großer Saal
Verdi: Messa da Requiem
Orchester und Chor der Volksoper Wien Wiener Singakademie
Eleonora Buratto, Sopran
Ekaterina Semenchuk, Mezzosopran
Michael Spyres, Tenor
Stefan Cerny, Bass
Omer Meir Wellber, Dirigent
Giuseppe Verdi Messa da Requiem
Karten:
https://konzerthaus.at/konzert/eventid/60645
18.00 Uhr · Berio-Saal
Musik im Gespräch
Anselm Gerhard im Gespräch mit Erwin Barta
Eine italienische »Oper im Kirchengewande«? Giuseppe Verdis Messa da Requiem
Eintritt frei für Besucher:innen des Konzerts im Großen Saal