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Raphaël Pichon

VON WALTER WEIDRINGER

Die Musik Johann Sebastian Bachs bezeichnet er als Erweckungserlebnis. Mit seinem Chor- und Instrumentalensemble Pygmalion präsentiert der französische Dirigent ein Programm mit BachKantaten – und ist später auch mit Mendelssohns »Elias« zu erleben. Zwei Konzertabende, die berückend zu werden versprechen

Erst Anfang zwanzig war Raphaël Pichon, als er 2006 sein Ensemble Pygmalion gründete. Die Formation hat sich unter seiner Leitung längst zu einer der ersten Adressen entwickelt, wenn es um eine lebendige Weiterführung der historischen Originalklangbewegung geht und um fesselnde Programme, die einen roten Faden spinnen und verschiedene Aspekte der kulturellen Tradition auf zum Teil verblüffende Weise zu verbinden verstehen. Das haben Pichon und Pygmalion etwa bei den Salzburger Festspielen bewiesen.

Apropos Adresse: Die spielte auch im frühesten musikalischen Leben von Raphaël Pichon eine nicht unwesentliche, zumindest jedenfalls hilfreiche Rolle. Zufällig wohnten die Pichons direkt neben dem Zentrum der französischen Bildungseinrichtung mit dem Namen »Musique – Étude«. Vormittags bekamen die Kinder dort allgemeinen Unterricht, der Nachmittag galt der Musikausbildung. Warum nicht die räumliche Nähe für den Sohn nützen? Musik war im Elternhaus präsent, wenn auch nicht auf professionellem Niveau: Der Vater liebte klassische Gitarre und spanische Klänge, die Mutter spielte Klavier. Mit sechs Jahren begann Raphaël also an der Schule nebenan, vom Violinunterricht war er anfänglich nicht durchwegs begeistert. Ein Zufall kam ihm zu Hilfe: Der Musiklehrer war krank, Aushilfe war der Kapellmeister des Knabenchores von Versailles – und dieser fragte die Eltern, ob Raphaël nicht beitreten wolle. Nach der Überwindung einer ersten Scheu wurde er tatsächlich Mitglied. Das erste Werk war Johann Sebastian Bachs Johannespassion – »und von da an stand im Grunde alles fest«, so Pichon. Ein »choc immense« sei es für ihn gewesen, ein »gewaltiger Eindruck«, eine tief berührende, auch spirituelle Überforderung der schönsten Art: das gemeinsame Musizieren, die Entdeckung der Polyphonie, des Zusammenwirkens der Klänge, in einem Raum wie der Kirche Notre-Dame de Versailles zum Leben erweckt. »Und so hat der Gesang, so hat Bach mein Leben verändert«, sagt er schlicht. Das damals erfahrene Gemeinschaftserlebnis ist bis heute der Kern seines musikalischen Selbstverständnisses. Klavier, Orgel, Cembalo rückten in Raphaëls Interesse – und natürlich das Singen. Korrepetitor, Klavierbegleiter, Dirigierassistent: alles sollte logisch aufeinander folgen, auseinander hervorgehen.

»Es wirkt vielleicht verwunderlich, dass jemand mit 22 Jahren ein Ensemble gründet«, räumt Raphaël Pichon ein. »Aber so wollte ich mein musikalisches Leben verbringen. Ich habe nicht davon geträumt, ein großes Symphonieorchester zu dirigieren, sondern davon, mit meiner eigenen Gruppe zu musizieren und dabei Geiger und Sänger zu bleiben.« Und das kam so: Die damals noch strikte Aufteilung der einzelnen Fächer am Pariser Konservatorium, auf das er mit 18 Jahren gewechselt hatte, machte ihn unglücklich. Deshalb wollte er ein Projekt auf die Beine stellen, an dem Studierende verschiedener Schulen und Konservatorien beteiligt waren, Inszenierungs- und Bühnenteam inklusive. Das geplante Stück war Jean Philippe Rameaus Opéra-ballet »Pygmalion«. Und auch wenn das Vorhaben sich als zu ehrgeizig erweisen und nicht realisieren lassen sollte, fiel ihm der Pygmalion-Mythos erneut ein, als es einige Jahre später galt, seinem Ensemble einen Namen zu geben. Der Bildhauer, der mit all seinen künstlerischen Kräften eine Statue schafft und ihr Leben einhauchen will – was dann die Göttin Aphrodite auch gewährt: »Das ist doch ein schönes Bild für unsere Arbeit als Musiker:innen«, sagt Pichon. »Wir hoffen auch, dass wir durch unser handwerkliches Können so weit kommen, dass im Konzert durch entsprechende Gnade von oben etwas Lebendiges daraus wird.«

Johann Sebastian Bach sei »der Sockel, auf dem alles ruht« – durchaus keine Selbstverständlichkeit in Frankreich. Mit Bach meint Raphaël Pichon freilich nicht nur die großen Passionen, die Messe in h-moll, die bekanntesten Kantaten und Orchesterrepertoire wie die Ouverturen und Brandenburgischen Konzerte. Denn von Anfang an war es ihm wichtig, Bachs Sprache über die weniger bekannten Werke kennenzulernen. Das sollte den Zugang zu den Gipfelwerken in seinem Schaffen bilden. Rameau und die französische Barocktradition waren die nächsten Stationen; außerdem ist Pichon ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Kirche und Bühne wichtig, zwischen geistlicher und Theatermusik sowie zwischen Bachs Vorläufern und Nachfolgern.

Insofern zielen die beiden Abende im Wiener Konzerthaus, bei denen er mit namhaften Solist:innen zusammenarbeitet, ins Zentrum der Arbeit von Raphaël Pichon und Pygmalion. Ein Bach-Programm beschränkt sich nicht auf den großen Thomaskantor, sondern greift weiter zurück, zum 1703 verstorbenen Johann Christoph Bach: »War ein profonder Componist«, vermerkte Johann Sebastian. Der zweite Abend gilt dem packenden Oratorium »Elias« (1846) aus der Feder von Felix Mendelssohn Bartholdy. 17 Jahre zuvor war es dem damals erst zwanzigjährigen Komponisten und Dirigenten gelungen, Bachs Matthäuspassion im Bewusstsein der musikalischen Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts neu zu verankern –eine eminente Kulturleistung, deren Echo bis heute nicht abgerissen ist.

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KONZERTTIPPS

Do, 23/11/23 · Großer Saal

Pygmalion · Pichon
»Bach-Kantaten«

Nikola Hillebrand, Sopran
Lucile Richardot, Contralto
Laurence Kilsby, Tenor
Christian Immler, Bass
Raphaël Pichon, Leitung

Johann Sebastian Bach
Unser Mund sei voll Lachens BWV 110
Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe BWV 25
Erfreut euch, ihr Herzen (Erfreut euch, ihr Herzen BWV 66)
Ein feste Burg ist unser Gott BWV 80
Sanctus (Messe h-moll BWV 232
»Hohe Messe«)

Johann Christoph Bach
Mit Weinen hebt sich’s an. Motette

Karten: https://konzerthaus.at/konzert/eventid/60687

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Mo, 11/12/23, 19.30 Uhr · Großer Saal

Mendelssohn Bartholdy: Elias

Pygmalion
Siobhan Stagg, Sopran
Julie Roset, Sopran
Ema Nikolovska, Mezzosopran
Thomas Atkins, Tenor
Stéphane Degout, Bariton
Raphaël Pichon, Leitung

Felix Mendelssohn Bartholdy
Elias. Oratorium in zwei Teilen nach Worten des Alten Testaments op. 70

Karten:
https://konzerthaus.at/konzert/eventid/60721

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