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Von Paris aus in die Welt
Drei Konzerte von drei Pariser Orchestern laden dazu ein, die Vielfalt der französischen Musik um 1900 zu erkunden – und zu entdecken, wie sehr dieser Musik der Blick in die Ferne eingeschrieben war
VON BENEDIKT LESSMANN
Während heute bei einer Wien-Reise der Besuch eines Opern- oder Konzerthauses zum Pflichtprogramm zählt, und zwar beileibe nicht nur für Klassikfans, stehen in Paris andere Unternehmungen vornan. Dabei gäbe es durchaus klassische Musik in großer Dichte und Qualität zu erleben, und zwar gerade auch Symphonik: in den Traditionssälen Théâtre des Champs-Elysées und Salle Pleyel ebenso wie in der 2015 eröffneten, hochmodernen Philharmonie de Paris. Die Zahl der Orchester ist kaum zu überblicken – drei der besten sind in dieser Spielzeit im Wiener Konzerthaus zu erleben. Ihre Konzerte geben einen Einblick in die Lebendigkeit der Orchesterkultur der Stadt an der Seine: klug konzipierte Programme, die neben Unverzichtbarem aus dem französischen Repertoire neue Akzente setzen.
Schon Paris-Besucher:innen des 19. Jahrhunderts hätten symphonische Musik erleben können, namentlich in den Konzerten des 1828 gegründeten Orchestre de la Société des concerts du Conservatoire, das sich bereits früh den Werken Beethovens widmete. In der zweiten Jahrhunderthälfte kamen unter anderem die – bis heute bestehenden – Orchester Pasdeloup, Colonne und Lamoureux hinzu, die nach ihren Gründern benannt sind. Besonderen Aufschwung erhielt die Instrumentalmusik durch die Société Nationale de Musique (SNM), deren Gründung häufig als antideutsche Reaktion infolge des Krieges von 1870/71 gedeutet wird. In den klassisch-romantischen Gattungen sollte nun vorrangig französische Musik auf den Programmen stehen. Ihr Mitbegründer Camille Saint-Saëns war zu diesem Zeitpunkt freilich längst als Komponist und Interpret von Instrumentalmusik etabliert. Sein Klavierkonzert op. 103 von 1896, das Alexandre Kantorow im Gepäck haben wird, ist bereits sein neuntes Solokonzert. Das veränderte Klima verschaffte auch Édouard Lalo, ebenfalls Mitglied der SNM, bessere Bedingungen zur Komposition etwa von Instrumentalkonzerten – wie dem selten zu hörenden für Violoncello, das Sol Gabetta mitbringen wird.
Die drei gastierenden Orchester sollten der Imagepflege und Bereicherung der französischen Musik dienen. Das Orchestre de Paris entstand in Nachfolge der erwähnten Formation der Société des concerts du Conservatoire im Jahr 1967 auf Betreiben des Kulturministers André Malraux. Im Laufe seines Bestehens erhielt für seine Aufnahme von Camille Saint-Saëns’ fünftem Klavierkonzert 2020 zwei Victoires de la Musique Classique für die Aufnahme des Jahres holte man sich immer wieder ausländische Expertise ersten Ranges, so Herbert von Karajan als musikalischen Berater (»conseiller musical«) und prominente Chefdirigenten wie Sir Georg Solti, Daniel Barenboim oder Christoph Eschenbach. Die Ernennung von Klaus Mäkelä, dem hoch gelobten Jungstar, im Jahr 2021 erscheint da konsequent.
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Die anderen beiden Orchester haben ebenso offiziellen Status, da sie zur nationalen Rundfunkgesellschaft gehören. Eines von beiden verrät das in seiner Bezeichnung: Es heißt heute, nach zahlreichen Namensänderungen seit seiner Schaffung im Jahr 1937, Orchestre Philharmonique de Radio France, verwendet aber gerne auch den Spitznamen »Le Philhar«. Wie viele Rundfunkorchester versteht es sich als Botschafter der Neuen Musik und kann eine beeindruckende Liste von Uraufführungen vorweisen.
Kurz vorher, 1934, wurde das Orchestre National de France gegründet, das heute ebenfalls Teil von Radio France ist. Noch mehr als bei den anderen beiden Klangkörpern ist die französische Musik, allen voran von Debussy und Ravel, der DNA dieses Orchesters eingeschrieben. Aufnahmen mit seinen ersten Chefdirigenten – Inghelbrecht, Rosenthal, Désormière, Le Roux, Martinon – gelten bis heute als Referenzen. Seit den 1970er-Jahren sind internationale Namen wie Lorin Maazel, Kurt Masur oder Daniele Gatti auf der Liste der Orchesterleiter hinzugekommen. Noch heute bezeichnet sich das Orchester als »formation de prestige« und als Garant für eine stilistisch angemessene Interpretation französischer Musik. »La mer« von Debussy mit seiner spritzenden Gischt und seinen Beleuchtungswechseln gehört da natürlich zum Kernrepertoire.
Aber französische Musik – was ist das eigentlich? Betrachtet man die drei Konzerte, so fällt auf, wie stark sie sich spätestens im Fin de Siècle vom deutsch-österreichischen Modell emanzipieren konnte. Eine Facette ist die Vorliebe für das Exotische, der Blick in die Ferne. Die musikalische Reise nach Paris ist zugleich eine Reise in die Welt. Der Blick ist vielfach gefiltert: oberflächlichtouristisch oder kenntnisreich, ehrerbietend oder augenzwinkernd. Und verschieden sind die Weltregionen, die sich die Musik aneignet: Ägypten im Falle von Saint-Saëns’ fünftem, dem »Ägyptischen« Klavierkonzert, bei Ravel sind es Spanien im Falle von »Alborada del gracioso« und das antike Griechenland in »Daphnis et Chloé«, das wie zuvor Strawinskis »L’oiseau de feu« für Sergei Djagilews Russische Ballette in Paris entstand. Ein imaginiertes Persien der Scheherazade präsentiert seine frühe Ouverture zu einer nie vollendeten Märchenoper.
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Aus herbeierzählten fremden Ländern stammen auch die drei »femmes de légende«, denen die Komponistin Mélanie Bonis Orchesterstücke gewidmet hat: Salome, Ophelia und Kleopatra. Erst 2017 wurden diese Werke publiziert, die Bonis als Bearbeitungen eigener Klavierstücke vermutlich nach 1910 schuf. Wenig später schrieb die bereits schwerkranke Lili Boulanger, die 1918 viel zu früh verstarb, das kontrastierende Diptychon »D’un matin de printemps« und »D’un soir triste«. Die Naturschilderungen beschreiben einen Frühlingsmorgen und einen »traurigen Abend« – stimmungsvoll, farbenreich und kühn. So verweisen die Konzerte nicht zuletzt auf den erfreulichen Umstand, dass endlich auch Werke französischer Komponistinnen die verdiente Aufmerksamkeit erhalten.
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KONZERTTIPPS
Mo, 23/10/23, 19.30 Uhr · Großer Saal
Orchestre Philharmonique de Radio France · Gabetta · Franck
Sol Gabetta, Violoncello
Mikko Franck, Dirigent
Maurice Ravel: Alborada del gracioso (Fassung für Orchester)
Daphnis et Chloé. Fragments symphoniques, deuxième série
Édouard Lalo: Konzert für Violoncello und Orchester d-moll
Mélanie Bonis: Trois femmes de légende. Symphonische Suite
Karten:
https://konzerthaus.at/konzert/eventid/60641
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Fr, 17/11/23, 19.30 Uhr · Großer Saal
Orchestre de Paris · Kantorow · Mäkelä
Alexandre Kantorow, Klavier
Klaus Mäkelä, Dirigent
Maurice Ravel: Shéhérazade. Ouverture de féerie
Camille Saint-Saëns:
Konzert für Klavier und Orchester
Nr. 5 F-Dur op. 103
Igor Strawinski: L’oiseau de feu. Ballett in zwei Bildern mit Introduktion
Karten:
https://konzerthaus.at/konzert/eventid/60680
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So, 05/05/24, 19.30 Uhr · Großer Saal
Orchestre National de France · Kantorow · Măcelaru
Alexandre Kantorow, Klavier
Cristian Măcelaru, Dirigent
Lili Boulanger: D’un matin de printemps (Bearbeitung)
D’un soir triste
Frédéric Chopin: Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 f-moll op. 21
Claude Debussy: La mer. Drei symphonische Skizzen