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Blickpunkt Tschaikowsky
Seit dem 24. Februar 2022 wird Tschaikowsky außerhalb Russlands teilweise von den Spielplänen verbannt. Kann man seine Musik heute noch guten Gewissens spielen?
VON KADJA GRÖNKE & PAUL MERTENS
Kann die russische Kultur nach dem 24. Februar 2022 noch selbstverständlicher Teil der europäischen Kultur sein? Oder ist ein Ja zur russischen Kultur unabdingbar auch ein Ja zur russischen Politik?
Extreme Krisenzeiten führen dazu, dass Sprache emotional aufgeladen und in ihrer Bedeutung einseitig gefärbt wird. Plakative wie »die Russen« werden zu pauschalen Verurteilungen, da Russland aktuell ohne Umschweife mit einer ganz bestimmten Politik – und nur mit dieser – identifiziert wird. Dass der »russische Mensch schlechthin« ebensowenig existiert wie der österreichische, deutsche, amerikanische, ist eigentlich klar, wird aber angesichts der medialen Schreckensbilder oft ignoriert. Das hat Folgen – bis in den Alltag hinein. Ganz banal führt das beispielsweise dazu, dass man einen Zupfkuchen inzwischen nicht mehr mit dem Attribut »russisch« verkaufen kann.
Zuspitzung, Fokussierung, Ausschließlichkeit der einen und einzigen vorgegebenen Sichtweise – das ist die Sprache der Krisen. Und welche Krise wäre drastischer als der Krieg: Jeder Krieg ist total, zieht alles und jede:n an sich, infiziert das Denken mit einer durch Ideologie und Propaganda verseuchten Scheineindeutigkeit. So ist es in den betroffenen Ländern, und so spiegelt es sich vielfach auch in den Medien im Westen. Darf sich mit Russland, russischer Geschichte, russischer Kultur nur beschäftigen, wer sich zuvor eindeutig für oder gegen die aktuelle russische Politik positioniert hat (und auf der dazu passenden Seite der Grenze lebt)?
Objektiv Stellung zu beziehen, ist nicht möglich. Denn je genauer wir hinschauen, desto mehr Facetten gewinnt das Bild. Ideologisch geforderte Eindeutigkeit dagegen heißt, dass kein Einerseits-Andererseits, kein Sowohl-alsauch, keine Einschränkung, noch nicht einmal eine Frage erlaubt ist. Und das ist das Ende jedes Dialogs.
Von Russland erwarten wir heute nichts anderes als moralisch verwerfliche Eindeutigkeit. Und so unterliegt alles, was sich mit dieser Nationalität verbindet, einem Bann. Unterschiede verschwimmen. Auch nach historischen Kontexten, Entwicklungen, Veränderungen wird nicht mehr gefragt. In einem solchen Denkrahmen ist Tschaikowsky demzufolge ein ausschließlich russischer Komponist (wobei »russisch« nach gegenwärtiger Sprachregelung eigentlich »russländisch« heißen müsste). Der Mensch, der Musiker, der ikonische Name – all das gehört dem Staat Russland. Das Besitzverhältnis ist damit festzementiert. Tschaikowsky als russischen Komponisten zu definieren, schließt alles andere aus oder erklärt es für unwesentlich. Dass er französische und ukrainische Vorfahren hat, seine Werke von österreichischer, deutscher, italienischer und französischer Musik stark geprägt sind, dass er sich als Kosmopolit durch Europa bewegt hat – all das wird nicht bestritten, aber in seiner Bedeutung marginalisiert oder bewusst verschwiegen.
Ein solches Vorgehen ist nicht neu. Es betraf Tschaikowsky schon zu Lebzeiten – was die Bekanntheit der patriotischen »Ouvertüre 1812« ebenso erklärt wie die jahrzehntelange Ignoranz seiner an der französischen Grand opéra orientierten »Jungfrau von Orléans«: Seit Zar Alexander III. Tschaikowsky eine lebenslange finanzielle Unterstützung gewährt hat, beobachten wir in Russland immer wieder, dass Kulturförderung die Musikschaffenden an den Staat bindet – mit dem Ziel, dass sie national wie international als Repräsentanten ihres Landes wahrgenommen werden sollen. Zaristische, sowjetische, russische staatliche Förderungen erwarten eine Gegengabe in Form von Loyalität und offensichtlicher Zugehörigkeit. Und damit fällt alles, was in das nationalstereotype Bild nicht hineinpasst, in Ost und West aus dem Raster der Wahrnehmung heraus.
Russische Musik hierzulande aus den Programmen zu entfernen, knüpft nun genau an ein solches Denken und Handeln an. Warum? Weil Musik dadurch umstandslos mit der Staatsmacht identifiziert wird. Was Putin tut, tun wir dann auch: Tschaikowsky als Besitz seines Heimatlandes zu definieren – nur unter umgekehrten, ablehnenden Vorzeichen. Seine Musik hingegen als Teil des Weltkulturerbes zu sehen, wäre eine Strategie der Entnationalisierung: Tschaikowsky würde dann der Welt, der Menschheit und nicht allein Russland gehören.
In unserer westlichen Kultur nehmen wir wie selbstverständlich in Anspruch, weltoffen, integrativ, differenziert wahrnehmen und handeln zu dürfen. Der Dirigent Vladimir Jurowski sagt daher folgerichtig über Russland: »Wir müssen unterscheiden zwischen dem Regime und dem Land, dem Volk, der Kultur.« Ist das humanistisches Wunschdenken? Eine solche Bereitschaft zur Unterscheidung wird in Russland derzeit jedenfalls nicht vermittelt. Und im Westen erlebt man allzu oft eine pauschale Gleichsetzung von allem, was seit der mittelalterlichen »Kiewer Rus« politisch, territorial, kulturell, sprachlich und ethnisch als »russisch« bezeichnet wird. Unter dem bewussten Ignorieren all der Komplexität und Differenziertheit, die ein menschliches Wesen und sein künstlerisches Schaffen immer auszeichnen, scheinen derzeit zwei Extreme im Fokus zu stehen: Entweder wird die Ikone Tschaikowsky dazu benutzt, das staatlich-imperialistische Selbstverständnis des Putin-Landes zu untermauern, indem der Komponist zum Inbegriff all dessen stilisiert wird, was zu Sowjetzeiten einst vollmundig als »Errungenschaft« des eigenen Landes bezeichnet wurde – oder aber er gilt als der Buhmann, der als Untertan Alexanders III. den Katastrophen der Gegenwart mit den Weg gebahnt hat.
Für das offizielle, durchpolitisierte und jetzt auf Kriegskurs getrimmte Russland ist eine Tschaikowsky-Aufführung eine Demonstration staatlicher Macht und Größe. Wenn wir im Westen seine Musik trotzdem hören, dann bitte unter grundlegend anderen Vorzeichen. Denn Kunst besitzt wie nichts anderes auf der Welt die Kraft, einen innerseelischen Überlebensraum zu schaffen und damit für das Vergangene und das Gegenwärtige einen Prozess des Erinnerns und Versöhnens zu öffnen. In einem freiheitlichen, demokratischen und humanistisch geprägten Kulturleben kann folglich nur das Eine im Vordergrund stehen: dass der Komponist allen Menschen – und zwar unabhängig von Nationalität, Glaube, Geschlecht oder anderen Festlegungen – in Tönen etwas mitzuteilen hat, das sie selbst betrifft. Wenn wir uns von Musik ganz erfassen lassen, dann gewinnt sie die Möglichkeit, etwas innerlich Berührendes, etwas seelisch Trostvolles zu werden, das den Menschen als Menschen definiert, ja: ihn erst zu dem macht, der er ist. Gerade der Umstand, dass Tschaikowskys Musik weltweit gespielt und geliebt wird, belegt ja das Übernationale und auch das Überzeitliche seiner Kunst. Und selbst wenn Tschaikowskys imperialistischer Kontext es vielen Menschen aktuell schwer macht, das Seelenbewegende seiner Musik anzunehmen, kann auch der Verzicht nur ein individueller Akt der Freiheit sein – kein aufgezwungenes Verbot.
Das Verbindende, das Gemeinsame wahrzunehmen, stärkt den Frieden. Verbieten wir uns diese Freiheit, unterwerfen wir uns genau der Logik, die Putins Politik vorgibt. Und damit geben wir ihr Macht über unser Denken und Fühlen. Machen wir uns also frei von jeder Indoktrination. Hören wir – und hören wir bewusst! –, wie differenziert, wie komplex Musik ist. Hören wir sie in ihrer geschichtlichen Verankerung und in ihrer gegenwärtigen Bedeutsamkeit. Hören wir sie als die Vision dessen, was Menschsein vermag: als eine immer wieder erneut anzustrebende Utopie eines freien, toleranten, in Respekt und Liebe und Sehnsucht sich entfaltenden menschlichen und mitmenschlichen gemeinsamen Lebens.
Kadja Grönke ist apl. Professorin für Musikwissenschaft an der Universität Oldenburg, Paul Mertens Pianist und Komponist in Berlin. Im Rahmen ihrer Aktivitäten für die Tschaikowsky-Gesellschaft e. V. werden sie seit zweieinhalb Jahren regelmäßig mit der Kernfrage dieses Beitrags konfrontiert.
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Mi, 18 & Do, 19/09/24 · Großer Saal Antrittskonzert von Petr Popelka als Chefdirigent der Wiener SymphonikerWiener Symphoniker · Vinnitskaya · PopelkaAnna Vinnitskaya KlavierPetr Popelka Dirigent
Peter Iljitsch TschaikowskyKonzert für Klavier und Orchester Nr. 1 b-moll op. 23Béla Bartók Konzert für Orchester Sz 116
Karten:https://konzerthaus.at/konzert/eventid/61636https://konzerthaus.at/konzert/eventid/61637
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Sa, 19/10/24, 19.30 Uhr · Großer SaalORF Radio-Symphonieorchester Wien · Hagen · UryupinJulia Hagen Violoncello Valentin Uryupin Dirigent
Unsuk Chin Frontispiece for orchestraPeter Iljitsch Tschaikowsky Variationen über ein Rokoko-Thema A-Dur op. 33 für Violoncello und OrchesterSergej TanejevSymphonie Nr. 4 c-moll op. 12