5 minute read
Man muss sich das Publikum imaginieren“ Der Ö1-Klassik-Radio-Guru Michael Blees
MAN MUSS SICH DAS PUBLIKUM IMAGINIEREN
Der Ö1-Klassik-Radio-Guru Michael Blees
Michael Blees stammt aus Deutschland, studierte Musikwissenschaften, Anglistik und Amerikanistik in Saarbrücken und Wien; seit 1987 freier Mitarbeiter des ORF, seit 2004 fixe
Anstellung im ORF, seit 2006 Leiter der Ö1-Opernredaktion, seit 2011 stellvertretender
Musikchef von Ö1, seit 2018 Leiter des Ö1-Ressorts Konzert und Oper und Vice-Chair der EBU Music Group; zahlreiche Veröffentlichungen, Vorträge, Konzertpräsentationen, Diskussionsleitungen und Programmkonzepte.
Vom Bekanntheitsgrad und der Popularität die
Michael Blees unter den Opern- und Musikliebhaber genießt, können Politiker nur träumen. Seine Sendungen auf Ö1 respektive seine Stimme via Radio sind für all jene, die hierzulande Aufführungen in den diversen Musiktempeln besuchen, ein fixer, unverzichtbarer Bestandteil der tiefergehenden Kunst-Auseinandersetzung und Kunst-Information geworden. Blees’ weitreichendes Wissen, seine Liebe und Leidenschaft zur Materie, seine vielschichtige, anregende und zugleich kritische Art der Wissensvermittlung ließen ihn zu einem wichtigen Botschafter der Klassikszene werden. Da er nicht zu jenen zählt, die viel Aufhebens um ihre eigene Person machen, war es nicht leicht den geborenen Interviewer dazu zu bewegen, selbst einmal ein Interview zu geben. Für die aktuelle Ausgabe des Prologs ist dies endlich gelungen.
Wenn jemand beginnt Medizin zu studieren, macht er das, um eine Tages Arzt zu werden. Wenn sich jemand am Institut für Musikwissenschaften einschreibt, ahnt er in den wenigsten Fällen, wohin ihn seine berufliche Reise führen wird. Oder haben Sie von Anfang an eine Karriere als Sendungsproducer angepeilt?
Michael Blees: Die unspektakuläre Antwort lautet: Ich wollte in Wahrheit Schulmusik studieren und Musiklehrer werden. Da aber meine pianistischen Fähigkeiten bei der Aufnahmsprüfung an die Musikhochschule in Saarbrücken vorerst nicht ausreichten, wollte ich die Zeit bis zum nächsten Versuch nützen und einige später anrechenbare Lehrveranstaltungen in der Musikwissenschaft vorziehen. Diese gefielen mir dann so sehr, dass ich dabei blieb und den ursprünglichen Plan an den Nagel hängte. Da allerdings das Angebot an der Fakultät aus Einsparungsgründen immer weiter gekürzt wurde, entschied ich, probehalber ein Gastsemester im fernen Wien zu wagen. Nun, was soll ich sagen: Das war 1986 und jetzt, 68 Semester später, bin ich immer noch in Wien – das spricht doch für diese Stadt!
Und war der Berufswunsch nach dem Wechsel von Deutschland nach Österreich schon fester umrissen?
Michael Blees: Wie heißt es so schön in der Fledermaus: „Ich wollte unters Theater“, konkret Dramaturg werden. Nur durfte ich durch einen glücklichen Zufall schon sehr bald als freier Mitarbeiter beim ORF anheuern und erkannte bereits bei den ersten Sendungsgestaltungen, wie sehr mir diese Richtung gefiel. Allen voran die Tatsache, mich immer wieder ganz unterschiedlichen und vor allem neuen Themen widmen zu dürfen.
Eine berufspsychologische Frage: Gab es frühkindliche Radiosendungs-Prägungen?
Michael Blees: Mein älterer Bruder hatte schon recht früh eine Wagner-Phase; angeblich hat er immer wieder eine Schallplatte mit dem Walküren-Ritt vorgespielt – und ich soll gesagt haben: „Jetzt kommen die Pferde.“ Später durfte ich mit meinen Eltern Opern- und Operettenaufführuzngen besuchen – und dann begann ich schließlich Opernsendungen im Radio zu hören. Dabei entdeckte ich meine Leidenschaft, Stimmen und Interpretationen miteinander zu vergleichen: Im damaligen Südwestfunk lief regelmäßig Lucia di Lammermoor mit der Callas und ich hielt jede Nuance ihrer Darbietung für in Stein gemeißelt, bis ich eines Tages eine Aufnahme mit Beverly Sills hörte, die mir die Augen bzw. Ohren öffnete. Dieses „offenbar geht es auch ganz anders“ hat meine Interpretationsanalysen in Gang gesetzt an denen ich heutige Hörer gerne teilhaben lasse.
Ist für Sie eine Trennlinie zwischen Beruf und Privatleben möglich? Horchen Sie nicht auch in der Freizeit etwas aus Ihrem persönlichen CD-Archiv an, das Sie dann weiterverwenden? Oder hören Sie sich gar bei der Konkurrenz um?
Michael Blees: Meine eigene CD-Sammlung ist gar nicht so groß wie manche vielleicht glauben würden, und für die Arbeit greife ich vielmehr auf die Archive des Funkhauses und der Landesstudios bzw. auf den EBU-Topf zurück. Aber es stimmt, Beruf und Privatleben überlappen sich, zumal ich sehr gerne im Auto oder zuhause Programme von Kollegen auf Ö1 anhöre – zum Beispiel die guten Wort-Sendungen oder so manchen Jazzbeitrag. Und ja, es stimmt, mich interessieren natürlich die aktuellen Präsentationsformate anderer Stationen, etwa die des Bayerischen Rundfunks oder von BBC. Es schadet schließlich nicht, das eigene Angebot regelmäßig zu hinterfragen, zu überprüfen und nachzubessern.
Apropos: Anlässlich der letzten Programmschema-Änderung von Ö1 wanderten die Opernsendungen vom Nachmittag auf den Vormittag. Hatte das für die Gestaltung Konsequenzen?
Michael Blees: Ich finde: ja! Neben der Musikauswahl musste natürlich auch die Moderationsform an die Vormittagsstunde angepasst werden. Was insofern nicht immer ganz so einfach ist, als die Aufzeichnung einer Sendung oft zu einer ganz anderen Tageszeit stattfindet als die Ausstrahlung. Wenn ich also am späten Abend für den nächsten Vormittag einen Studiotermin habe, muss ich mir die Zeit der Ausstrahlung in Erinnerung rufen.
Es dürfte beim Vorprogrammieren sonderbar sein, sich an jemanden zu wenden, der erst später zuhören wird...
Michael Blees: Das Radiowesen ist an sich sehr eigenartig und kann von Außenstehenden nur schwer nachempfunden werden. Bei einem Vortrag vor einem anwesenden Publikum, kann der Redner auf die einzelnen Zuhörer eingehen, auf die vorherrschende Atmosphäre reagieren, einen etwaigen Fehler durch ein Lächeln, einen Blick korrigieren, einen kleinen Witz machen. Dem Radiosprecher sind all diese Möglichkeiten versagt. Er befindet sich allein im Studio, sieht allenfalls den Techniker auf der anderen Seite der Glasscheibe – bei Übertragungen aus der Staatsoper nicht einmal ihn – und hat sich das zu erreichende Publikum zu imaginieren. Der gewissermaßen einsame Radiosprecher muss mit anderen Worten stets im Hinterkopf behalten, dass er in dem akustisch abgeschotteten Raum das zu Sagende
Michael Blees
nicht nur einem Mikrofon anvertraut, sondern sich direkt an Tausende Hörer wendet.
Sie betreuen bei Ö1 seit 1999/2000 die Sendungen mit Ausschnitten aus dem Staatsopernrepertoire, seit 2006 auch alle Gesamtübertragungen. Wie groß ist Ihr diesbezüglicher Gestaltungsspielraum?
Michael Blees: Es werden regelmäßig Gespräche mit der Staatsoper geführt. Beide Seiten haben hinsichtlich der Auswahl der Werke und der Ausschnitte Wunschvorstellungen. Zu den Premieren und Wiederaufnahmen kommen immer diverse Repertoirestücke dazu, die entweder schon lange nicht gespielt worden sind oder eine besonders attraktive Besetzung aufweisen. Gelegentlich muss ich aber gegen die Staatsopern-Direktion entscheiden. Es ist zum Beispiel nicht sinnvoll, ein bestimmtes Werk zu bringen, wenn Ö1 eine Vorstellung des betreffenden Stückes kurz zuvor aus einem anderen Opernhaus übertragen hat. Die Vielfalt muss gewahrt bleiben, nicht zuletzt, um auch innerhalb des EBU-Angebots attraktiv zu bleiben.
Gibt es Komponisten, die Sie unabhängig von Ihrer persönlicher Stimmung immer hören können?
Michael Blees: Ich habe Strauss-Phasen oder Wagner-Phasen, da gibt es ein ständiges Auf und Ab. Und sehr selten, wenn ich viele Stunden lang Sendungen mit Musik produziert habe, empfinde ich nach dem Nach-Hause-Kommen eine große Sehnsucht nach Stille. Aber was bei mir im Prinzip immer funktioniert, sind Belcanto-Werke. Das Gespräch führte Andreas Láng