Prolog Juni 2020 | Wiener Staatsoper

Page 22

MAN MUSS SICH DAS PUBLIKUM IMAGINIEREN Der Ö1-Klassik-Radio-Guru Michael Blees Michael Blees stammt aus Deutschland, studierte Musikwissenschaften, Anglistik und Amerika­nistik in Saarbrücken und Wien; seit 1987 freier Mitarbeiter des ORF, seit 2004 fixe Anstellung im ORF, seit 2006 Leiter der Ö1-Opernredaktion, seit 2011 stellvertretender Musikchef von Ö1, seit 2018 Leiter des Ö1-Ressorts Konzert und Oper und Vice-Chair der EBU Music Group; zahlreiche Veröffentlichungen, Vorträge, Konzertpräsentationen, Diskussionsleitungen und Programmkonzepte.

V

om Bekanntheitsgrad und der Popularität die Michael Blees unter den Opern- und Musikliebhaber genießt, können Politiker nur träumen. Seine Sendungen auf Ö1 respektive seine Stimme via Radio sind für all jene, die hierzulande Aufführungen in den diversen Musiktempeln besuchen, ein fixer, unverzichtbarer Bestandteil der tiefergehenden Kunst-Auseinandersetzung und Kunst-Information geworden. Blees’ weitreichendes Wissen, seine Liebe und Leidenschaft zur Materie, seine vielschichtige, anregende und zugleich kritische Art der Wissensvermittlung ließen ihn zu einem wichtigen Botschafter der Klassikszene werden. Da er nicht zu jenen zählt, die viel Aufhebens um ihre eigene Person machen, war es nicht leicht den geborenen Interviewer dazu zu bewegen, selbst einmal ein Interview zu geben. Für die aktuelle Ausgabe des Prologs ist dies endlich gelungen. Wenn jemand beginnt Medizin zu studieren, macht er das, um eine Tages Arzt zu werden. Wenn sich jemand am Institut für Musikwissenschaften einschreibt, ahnt er in den wenigsten Fällen, wohin ihn seine berufliche Reise führen wird. Oder haben Sie von Anfang an eine Karriere als Sendungsproducer angepeilt? Michael Blees: Die unspektakuläre Antwort lautet: Ich wollte in Wahrheit Schulmusik studieren und Musiklehrer werden. Da aber meine pianistischen Fähigkeiten bei der Aufnahmsprüfung an die Musikhochschule in Saarbrücken vorerst nicht ausreichten, wollte ich die Zeit bis zum nächsten Versuch nützen und einige später anrechenbare Lehrveranstaltungen in der Musikwissenschaft vorziehen. Diese gefielen mir dann so sehr, dass ich dabei blieb und den ursprünglichen Plan an den Nagel hängte. Da allerdings das Angebot an der Fakultät aus Einsparungsgründen immer weiter gekürzt wurde, entschied ich, probehalber ein Gastsemester im fernen Wien zu wagen. Nun, was soll ich sagen: Das war 1986 und

20

N° 239

www.wiener-staatsoper.at

jetzt, 68 Semester später, bin ich immer noch in Wien – das spricht doch für diese Stadt! Und war der Berufswunsch nach dem Wechsel von Deutschland nach Österreich schon fester umrissen? Michael Blees: Wie heißt es so schön in der Fleder­maus: „Ich wollte unters Theater“, konkret Dramaturg werden. Nur durfte ich durch einen glücklichen Zufall schon sehr bald als freier Mitarbeiter beim ORF anheuern und erkannte bereits bei den ersten Sendungsgestaltungen, wie sehr mir diese Richtung gefiel. Allen voran die Tatsache, mich immer wieder ganz unterschiedlichen und vor allem neuen Themen widmen zu dürfen. Eine berufspsychologische Frage: Gab es frühkindliche Radiosendungs-Prägungen? Michael Blees: Mein älterer Bruder hatte schon recht früh eine Wagner-Phase; angeblich hat er immer wieder eine Schallplatte mit dem Walküren-Ritt vorgespielt – und ich soll gesagt haben: „ Jetzt kommen die Pferde.“ Später durfte ich mit meinen Eltern Opern- und Operettenaufführuzngen besuchen – und dann begann ich schließlich Opernsendungen im Radio zu hören. Dabei entdeckte ich meine Leidenschaft, Stimmen und Interpretationen miteinander zu vergleichen: Im damaligen Südwestfunk lief regelmäßig Lucia di Lammermoor mit der Callas und ich hielt jede Nuance ihrer Darbietung für in Stein gemeißelt, bis ich eines Tages eine Aufnahme mit Beverly Sills hörte, die mir die Augen bzw. Ohren öffnete. Dieses „offenbar geht es auch ganz anders“ hat meine Interpretationsanalysen in Gang gesetzt an denen ich heutige Hörer gerne teilhaben lasse. Ist für Sie eine Trennlinie zwischen Beruf und Privatleben möglich? Horchen Sie nicht auch in der Freizeit etwas aus Ihrem persönlichen CD-Archiv an, das Sie dann weiterverwenden? Oder hören Sie sich gar bei der Konkurrenz um?


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.