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Ein Gespräch zwischen Stefan Dreher, Dramaturg des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch, und dem Tänzer Bernd Uwe Marszan

Bernd Uwe-Marszan, Foto: Maarten Vanden Abeele Dominique Mercy, Foto: Maarten Vanden Abeele

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„Meer ohne Wasser“ – „Das Stück mit dem Schiff“

Ein Gespräch zwischen Stefan Dreher, Dramaturg des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch, und dem Tänzer Bernd Uwe Marszan

Am 21. November wird die aufwändige Rekonstruktion „Das Stück mit dem Schiff“ von Pina Bausch, Uraufführung 1993, im Opernhaus Premiere haben. Die Leitung haben Barbara Kaufmann, Helena Pikon, Julie Anne Stanzak zusammen mit der israelischen Choreographin und Regisseurin Saar Magal. Mit dieser Neueinstudierung eröffnet das Tanztheater Wuppertal die Veranstaltungsreihe „Pina Bausch Zentrum under construction“.

Das von zarter Melancholie, feinsinnigem Humor und großer Tanzlust geprägte Stück zeigt eine gestrandete Gesellschaft an einem verlassenen Ort. Ein Strand ohne Meer, ein Schiff ohne Wasser. Aus dem Alltag gerissen, zwischen Verletzlichkeit und Überlebenswillen, Selbstverlust und Triumph um sich selbst ringend, tanzen alle, als ginge es um ihr Leben. Das selten gespielte Stück wurde zuletzt vor 24 Jahren in Saitama, Japan, gezeigt. Seine Rekonstruktion durch das Ensemble und die israelische Künstlerin Saar Magal bildet den Auftakt für den „Aufschlag“ im alten Schauspielhaus. Bernd-Uwe Marzan, heute Physiotherapeut des Tanztheaters Wuppertal, war einer der Tänzer der Urbesetzung. Er studiert seine einstige Rolle sowie einige andere mit der neuen Besetzung ein. Der Dramaturg Stefan Dreher, Choreograf und selbst lange Tänzer, ist Referent der künstlerischen Leitung für das Tanztheater Wuppertal und zudem Yogalehrer für die Kompanie.

Dreher: Du hast damals die Premiere getanzt und deine Rolle kreiert. Erinnerst du dich, wie das war, zum ersten Mal die Bühne zu betreten, um plötzlich am Strand zu stehen, im Schatten eines Schiffes, das dort gestrandet ist?

Marszan: (lacht) Das Strandbild ist verlockend, aber so hat es sich nie angefühlt, wie ein Strand. Außerdem gibt es zu dem Schiff und dem Sand auf der Bühne im zweiten Teil auch noch Lianen, an denen man klettert und schwingt, Videoprojektionen, ein kleineres Boot, und es regnet und blitzt.

Dreher: Du hast mir vom Aralsee erzählt, kannst du das nochmal wiederholen?

Marszan: Soweit ich mich erinnern kann, entwickelte Peter Pabst die Idee zum Bühnenbild von „Das Stück mit dem Schiff“ aus Bildern der Verwüstung des Aralsees, die damals um die Welt gingen. Der große Salzsee in Zentralasien - dessen lang andauernde Austrocknung um die Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert eine der weltweit größten vom Menschen verursachten Umweltkatastrophen darstellte. Die Ufer des Aralsees zogen sich zurück, immer mehr, bis sie nicht mehr sichtbar waren. Dadurch gab es eine andere Realität als vorher. Immer mehr kleinere Handelsschiffe, Fischerboote und ganze Häfen lagen nun in einer Wüste aus Sand und Salz herum. Fische starben durch die entstandene Versalzung des Wassers. In dieser Umgebung gab es Menschen, alleine oder mit ihren Familien, die mit all ihren Kräften versuchten, gegen dieses unbeschreibliche Schicksal anzukämpfen und ihr Leben zu gestalten. Dieses Bild war immer in meinen Gedanken, wenn ich bei diesem Stück auf die Bühne ging.

Dreher: Ist dann die Bühne und was auf ihr passiert - im Besonderen in einem Stück von Pina Bausch – eine Wahrheit der Welt, die wir sonst nicht sehen?

Marszan: Auf der Bühne geht es vielleicht erst einmal darum, an etwas zu glauben. In der Lichtburg gab es keine Diktatur der Wahrheit, sondern ein Suchen und auch ein Scheitern an ihr. Es geht auch darum, eine Wahrheit wiederholen zu können, sie immer wieder neu zu finden und zu behaupten. Das ist eine unglaubliche Herausforderung. Da gibt es für mich Dinge, die helfen, im Moment zu bleiben. Das ist sicher ein Loslassen. Das kann dann in Richtung Ekstase oder Erotik gehen, Werkzeuge, um wieder in mein Gefühl zu kommen, um auch eine bestimmte Haltung, eine Dynamik in mir wiederzufinden.

Dreher: Dein wunderbarer Tanz im Stück mit dem Schiff ist wie selbstvergessen, ekstatisch und sinnlich. Kannst du beschreiben, wie sich die Haut beim Tanzen anfühlt, wenn die Luft um dich herum in Bewegung gerät, der Sand fliegt?

Marszan: Die Haut ist ein wichtiges, sinnliches Organ von immenser Größe. Sie ist außerdem das größte Organ des menschlichen Körpers mit vielen wichtigen Aufgaben. Ich muss leider sagen, dass das Tanzen im Sand, genauso wie das Fußballspielen, eine unvergleichbar anstrengende Angelegenheit ist. Der Sand ist weich und reagiert während der Abdruckphase am Boden sehr träge. Dadurch kann die gesamte Kraft nicht wie gewohnt in die nächsten Schritte übertragen werden. Außerdem ist es auch eine Frage an die Koordination und Stabilität im Körper. Das musste ich jetzt mal loswerden, da ich ja nun den Beruf eines Physiotherapeuten ausübe.

Ensemble, Foto: Maarten Vanden Abeele

Dreher: Hattest du damals vor etwas Angst, das heute keine Rolle mehr spielt, dich damals aber sehr beschäftigt hat?

Marszan: Meine größte Angst, die mich lange begleitete, hatte viel mit Pinas Arbeit im Tanztheater zu tun; nicht erfüllen zu können, was von mir erwartet wird. Heute ist da keine Angst mehr. Mein erweitertes Wissen durch die Ausbildung zum Physiotherapeuten und die langjährige Erfahrung als professioneller Tänzer helfen mir sehr, die notwendige Gelassenheit zu haben und Entwicklungsprozessen ihre Zeit zu lassen. Das hat mir damals gefehlt. - Über das Wissen entsteht ein neuer Bezug zu Bewegung, Körper, Geist und Seele. Dieses Wissen gebe ich heute als Therapeut an die Tänzer weiter. Ich habe das Gefühl, als Physiotherapeut und Tänzer viel mehr sehen und verstehen zu können. Dreher: Kann man Tanzen überhaupt lernen, weitergeben?

Marszan: Ein klares Jein! Es wird immer etwas anderes und ähnelt sich doch. Andere Gefühle, andere Geschichten, und trotzdem soll die Verbindung zum Stück nicht verloren gehen. Das ist wirklich ein Mysterium. Wenn dich eine Bewegung glücklich macht, gehört sie dir, und die Bühne und das Tanzen werden wie ein Spiegel, in dem man sich entdeckt und für andere sichtbar wird. Da geht es um Lust am Spiegeln, am Austausch, und da kann man auch Tänze tauschen, Rollen und ja, tanzen lernen. Wenn man zum Beispiel sein eignes Solo mit jemandem einstudiert, ist es grob gesagt ein Prozess von Finden und Gefundenwerdenwollen, auf allen Ebenen, die die Tänzer und den Tanz betreffen. Das gilt für beide Seiten, so lange, bis es irgendwann passt

oder bis es keine Fragen mehr gibt. So ist es verständlich gesagt, auch wenn es in Wirklichkeit ein ganz komplexer Prozess ist.

Dreher: Würdest Du heute noch einmal Tänzer werden? Ich meine, Bühnentänzer?

Marszan: Ja, und zwar sehr gerne. Ich würde nur auch gerne viel früher damit anfangen dürfen und nicht erst mit 20 Jahren. Der Tanz und die Bewegung haben mich um so vieles bereichert, dass ich mir gar kein anderes Leben vorstellen möchte. Meine Erfahrungen könnte ich mir mit keinem Geld der Welt kaufen.

Dreher: Kann Tanzen die Welt retten?

Marszan: Ja! Ich bin der festen Überzeugung, dass Bewegung, im Sinne von Tanz, die Welt retten kann. Schließlich besteht die Kommunikation zu 70 Prozent aus nonverbaler Kommunikation. Das kann in vielen Fällen die Wogen glätten und helfen, sich besser zu verstehen und friedvoller miteinander umzugehen.

Dreher: Wer war für dich die einflussreichste Person in deinem Leben?

Marszan: Pina. Weil sie so an mir interessiert war, ohne dass ich mich beschwert gefühlt habe. Das ist mein subjektiver Eindruck. Ihr Warten, bis es dann soweit ist, (die Bewegung, der Tanz, das Gesprochene, das Gespielte, etc.) ging über Kunst hinaus ins Leben hinein und man sah es an ihrem Blick, wenn etwas dann stimmte. Wie Christoph Schlingensief, der mit einer komplexen Situation umgehen konnte, ohne sie zu vereinfachen. Das konnte Pina auch. Das Lebendige, das im Chaos zu finden ist, war ein Weg, eine Entscheidung, die mich am meisten in der Arbeit mit Pina beeindruckt und beeinflusst hat.

Dreher: Welche war die größte und bedeutendste Entscheidung, die du mal treffen musstest?

Marszan: Die Entscheidung, Tänzer zu werden. Es war ein Abschied ohne Ende. Ein Abschied von einem Ort, Freunden, Gewohnheiten, Familie, von Begegnungen; ein Abschied von einem bürgerlichen Dasein und Denken. Abschied davon, dass es irgendwann einmal eine Routine gibt. Gleichzeitig natürlich auch ein herzliches Willkommen in einer anderen Realität. Ich habe diese Entscheidung bisher nicht bereut. Dreher: Was ist dir wichtiger, ehrlich oder nett zu sein?

Marszan: Wenn ich es nicht schaffe, ehrlich zu sein, dann möchte ich wenigstens nett bleiben. (lacht) Mehr kann ich dazu nicht sagen.

Bernd Uwe Marszan studierte Bühnentanz an der Folkwang Hochschule in Essen unter der Leitung von Pina Bausch, die ihn schon während seines Studiums für mehrere Produktionen als Gasttänzer in ihr Tanztheater holte. 1988 erhielt er den Tanzpreis der Josef und Else Classen Stiftung für herausragende Leistungen im Bereich Klassischer und Moderner Tanz. Im Anschluss an sein Studium absolvierte er die Meisterklasse bei Prof. Jean Cébron in den Fächern Moderner Tanz (Jooss-Leeder-Technik) und Choreografie. Von 1989 bis 2001 war er Solist im Tanztheater Wuppertal Pina Bausch und wurde später, bis zu Pina Bauschs Tod, immer wieder als Gast für verschiedene Stücke eingeladen. 2000 gründete er das prozessorientierte Arbeitsforum Körpertexte, eine Plattform bildender und darstellender Künstlerinnen und Künstler aus der internationalen Künstlerszene, die an der Weiterentwicklung zeitgemäßer „Körperaussagen“ arbeitete. Der Fokus lag in der Entwicklung von Tanz- und Theaterstücken sowie Performances und choreografischen Installationen. Innerhalb eines internationalen Netzwerks kooperierte Marszan mit internationalen Festivals, Tanz- und Theaterhäusern. Als Choreograf arbeitete er auch an den Schauspielhäusern in Dresden, Düsseldorf und Wuppertal. Im April 2013 legte er erfolgreich das Staatsexamen als Physiotherapeut ab, arbeitete einige Zeit zunächst sporadisch für das Tanztheater und übernahm dann im März 2019 die physiotherapeutische Leitung im Ensemble.

„Das Stück mit dem Schiff“ Ein Stück von Pina Bausch

Uraufführung Wuppertal, 1993 Rekonstruktion, 21. November 2020, 19.30 Uhr Probenleitung Barbara Kaufmann, Helena Pikon, Julie Anne Stanzak, Gast: Saar Magal

Opernhaus Wuppertal

22., 29. November um 18.00 Uhr 21., 24., 25., 26., 27. November um 19.30 Uhr Vorverkaufsbeginn 25. September 2020 pina-bausch.de, Kulturkarte 0202 563 7666

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