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Uta Atzpodien über die Wuppertaler Kunst- und Kulturszene in diesen Zeiten

Der ovale Tisch im Zentrum der WG, hier mit Public-Interest-Design-Studierenden, die sich zum Karlsplatz austauschen. Foto: Laura Schenk

Vor, inmitten und nach Corona: Die Kunst ist da! Selbst mitten im Geschehen beschreibt die Dramaturgin Uta Atzpodien, wie die Wuppertaler Kunst- und Kulturszene in herausfordernden Zeiten Haltung zeigt.

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Wuppertal zieht ins Schauspielhaus , stand vorne auf dem grünen Flyer der dreiwöchigen Performance Wohnen in der Politik, ein Projekt von der börse, gefördert vom Landesbüro Freie Darstellende Künste, dem Fonds Soziokultur, der Stadt Wuppertal, der Stadtsparkasse und Unterstützenden aus ganz Wuppertal. Mit einem abwechslungsreichen Programm zog ein Performanceteam am 7. März ins alte Schauspielhaus. Es hatte zuvor um einen gemeinsamen Wohnraum herum WG-Zimmer mitten ins Foyer gebaut, ebensoviel wie es Bezirke in Wuppertal

Bezirksbürgermeisterinnen und Bezirksbürgermeistern, Foto: Laura Schenk

Blick aus dem WG-Zimmer auf den runden Tisch und WG-Führung,

Foto: Laura Schenk

gibt. Für jedes der Zimmer suchte die Perfomerin und Public–Interest–Design-Studentin an der Uni Wuppertal Iris Ebert per eBay-Kleinanzeigen Möbelstücke aus allen Vierteln Wuppertals zusammen, die für sich Geschichten erzählen. Im Team zog sie zusammen mit den Performern und Public–Interest–Design-Dozenten Dr. Christoph Rodatz und Pierre Smolarski in die WG. „Wir wollen die Politik erlebbar machen, die vor unserer Tür stattfindet“, erklärte Smolarski. Wie funktioniert Stadt? Welche Rolle übernimmt Kommunalpolitik als aktive Form von gestaltender Demokratie, als Scharnier zwischen Politik und Bürgerinnen und Bürgern? Wo und wie findet Partizipation statt? Im Fokus standen weniger die ganz großen Themen als kleine alltägliche Konstellationen.

Am Eröffnungsabend bauten zehn Bezirksbürgermeisterinnen und -bürgermeister einen gemeinsamen Tisch. Sie wählten jeweils ein Thema von besonderer Relevanz aus, sei es der Standort einer Bushaltestelle oder die Zukunft des Mirker Freibades, Themen, die alltägliche Politik und Entscheidungsfindungen ausmachen und für die repräsentativ Straßennamen auf dem ovalen Tisch im Zentrum der WG standen. Das Kollektiv ZOO aus Köln war engagiert worden, an jenen kommunalpolitisch ausgewählten Orten stadtweit Performances in schrill-bunter Kleidung durchzuführen, etwa quer durch das leere Becken im Freibad Mirke. In der offenen WG im leer stehenden alten Schauspielhaus startete ein für drei Wochen geplantes kurioses Projekt, das kommunalpolitische Prozesse in ihrer Themenvielfalt transparenter machen und gleichzeitig Menschen der Stadt zum Mitgestalten anregen wollte. Zum Spektrum gehörte sonntags ein gemeinsamer Tatort, das Tagen des Jugendrats, das Erforschen der Spielregeln der Stadt, Themen wie geldfreies Leben, Karlsplatz-Modelle, urbane Sicherheit, eine verkehrsberuhigte A 46 und Haushaltsperspektiven. Zudem wurden viele kleine Geschichten an die WG-Zimmerwände geschrieben, auf Bildschirmen wurden Statements der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister gezeigt. Fast schon war Halbzeit. Der Jour fixe „Der Prozess Pina Bausch Zentrum“, zu dem )) freies netz werk )) KULTUR für den 17. März eingeladen hatte, stand an. Eines schien sich zum anderen zu fügen: Seit Anfang des Jahres diskutierte die Kunst- und Kulturszene der Stadt lebendig mit den Verantwortlichen für mehr Teilhabe in der Entwicklung des Pina Bausch Zentrums. Dies sollte im alten Schauspielhaus, einem idealen performativen Setting, fortgesetzt werden. Doch dazu kam es nicht. „Wohnen in der Politik“ musste abgebrochen werden.

Der Jugendrat tagte am 10. März während der Performance. Foto: Laura Schenk

Plakate hängen stadtweit und natürlich am Mirker Bahnhof, Foto: Uta Atzpodien

Mit dem Lockdown durch die Covid-19-Pandemie folgte auf die gesellige WG-Performance inmitten eines zentralen städtischen Kulturortes die Quarantäne im eigenen Wohnzimmer, ein drastischer Szenarienwechsel. Mitte März galt es, auf die Ausbreitung des Corona-Virus zu reagieren. Durch das von Wissenschaft und Regierung verordnete Social Distancing kam vieles zum Erliegen, wurde abgebrochen, abgesagt oder verschoben. Konzerte, Theateraufführungen, Filmvorstellungen, Proben, Versammlungen und Kulturorte aller Couleur waren und sind jetzt noch von den Folgen betroffen. Mit der Stilllegung des öffentlichen Lebens wurde vielen ihre Existenz- und Geschäftsgrundlage entzogen. Die Kunst- und Kulturszene spürt die Auswirkungen am eigenen Körper. So gut einigen das Entschleunigen tat, haben die Isolation und die täglich neue Unsicherheit im Umgang mit Gefahren und Auflagen zum Teil emotional gelähmt, aber zugleich auch einen agilen Umgang mit den Herausforderungen angeregt. Ob über Balkonkonzerte, überraschend kreative digitale oder andere Formate begann eine neuartige Solidarität und Verbundenheit zu pulsieren. Im März verlagerten sich analoge Treffen ins Internet. Auch wenn der Digitalisierungsschub via Zoom, Skype und Webinaren ganz nützliche Seiten hat, zeigen sich nach fast drei Monaten Ermüdungserscheinungen. Eine Lust auf physische Präsenz wird wieder wach, auf jene einzigartigen Räume, die Kunst und Kultur durch ihren vielschichtigen Umgang mit den Sinnen öffnen.

Die Herausforderungen wurden in Wuppertal von der erfrischend lebendigen Kunst- und Kulturszene vielseitig aufgegriffen und proaktiv genutzt. Auf Initiative von Utopiastadt fand sich noch vor dem Lockdown ein Kreis aus Einzelnen, Orten und Initiativen wie )) freies netz werk )) KULTUR zusammen, der über digitale Treffen in enger Taktung den EinTopf – Solidarfonds für Kulturschaffende auf die Beine stellte und dafür die Kooperation mit dem Kulturbüro suchte. Über kleine und große Spenden von Einzelpersonen oder auch Stiftungen und Unternehmen nährt sich der EinTopf. Kulturstätten wie die Färberei und die börse, Kunstinitiativen wie von Charles Petersohn, Olaf Reitz, out and about und Partita Radicale speisen den EinTopf mittels erwirtschafteter Gelder eigener Projekte. Über die EinTopf-Website können barrierefrei Nothilfeanträge gestellt werden. Wechselnd besetzte Jurys kanalisieren durch die gestellten Anträge, was in Not geratenen Einzelpersonen und Kulturorten zugutekommen kann. Land und Bund versuchen bereits Schritt für Schritt, die Notsituation von Solo-Selbständigen aufzufangen, mit ständig nachjustierten, allerdings immer noch nicht ausreichenden und teilweise wenig passenden Maßnahmen und Strukturen, sei es die auf Betriebskosten beschränkte Soforthilfe oder die für die Sparte ebenso wenig passende Grundsicherung. Der Bedarf an Unterstützung bleibt groß und wird die Kunst- und Kulturszene auch die nächsten Monate und womöglich Jahre begleiten.

Parallel zum EinTopf wurde das Streaming-Portal stew.one eingerichtet, das seither unermüdlich mit Programmen wie „Dem der liebe J. sein Morgengruß“ von David J. Becher oder den Kinderbuch-Lesungen der Schauspielerin Philippine Pachl bespielt wird. Des Weiteren sendet das Portal zukunftsweisende Signale in die Stadt: die literarischen „Satzfalten“ von Olaf Reitz und Jens Kreienkamp, Angebote vom Kulturkindergarten oder KinderTanzfilme des Choreografen Mark Sieczkarek, das einmal wöchentlich gestaltete Programm der börse oder des Künstlerinnen-Netzwerks Yaya, die forschende KulturortReihe „Zukunftslabor Kunst und Stadt“ sowie Filme des Medienprojekts und von Tanzrauschen. Kooperationen erweitern das Programm, wie der LOCHfunk oder Konzerte und Veranstaltungen, die von Live aus Wuppertal in der Hasenschule aufgenommen werden.

Website: stew.one

zigartiges Kunstprojekt in Wuppertal. Auf Plakatwänden sind im Juni als dritte Runde des im April gestarteten Projekts stadtweit mittlerweile etwa 170 unterschiedliche Kunstwerke von hundert Künstlerinnen und Künstlern zu sehen. Unübersehbar, ob auf der Hochstraße, an Schwebebahnhaltestellen, am Wandelgarten im Luisenviertel, an der Heckinghauser Straße, mitten auf der B7: out and about ist aus der Corona-Zeit heraus entstanden und bringt den Menschen, die nicht mehr die gängigen Kunstorte besuchen können, die Kunst in die Stadt. Initiator ist der Filmemacher Frank N, der im Kernteam mit der Künstlerin und Grafikerin Birgit Pardun sowie mit Sabine Bohn und Andreas Kamotzki zusammenarbeitet. „Nichts ist neu erfunden“, erklärt Frank N, der Kunst auf Plakatwänden aus Los Angeles oder auch Bielefeld kennt. In Zeiten von Corona hat die Idee an ganz basaler Relevanz und Dringlichkeit gewonnen und wurde als „Demonstration“ mit einem dynamischen Team umgesetzt. An Flächen für Kommerz und Werbung ist eine Outdoor-Galerie entstanden, die die Kunst sichtbar macht. „Wenn Politik es nicht tut, machen wir es selber“, erklärt Frank N und konnte sich dabei auf das Unternehmen Ströer stützen, das die Plakatwände zur Verfügung stellte. Die Künstlerinnen und Künstler selbst bezahlten Druck und Beklebung der eigenen Werke. Jetzt gilt es, in und über Wuppertal hinaus die Original-Kunstwerke zu erwerben. 50 Prozent der Verkaufsanteile gehen dann wiederum an den Solidarfonds EinTopf. Kunst hilft Kunst: So entsteht ein sich selbst fördernder Kreislauf.

Eine gute Orientierung bietet die Website zum Projekt, die Kunstschaffende, Bilder, Standorte und Texte zu den Kunstwerken aufführt. In Viruszeiten ist out and about viral unterwegs: Auf vielen Plattformen, im Radio, Fernsehen, Internet, in sozialen Medien und Zeitungen wird über die pulsierende Kunstszene gesprochen. Ob „Der be

„Wir sind hier!“

out and about – kunst geht raus! heißt ein ein

trunkene Coltrane wird von allen guten Geistern sicher

Website: out and about

Hier einige Beispiele der faszinierenden Szenarien.

Mittlerweile hundert Künstlerinnen und Künstler

gestalten Plakatwände stadtweit und machen kraft

voll und lebendig Perspektiven für eine omnipräsente

Kunst- und Kulturstadt erfahrbar nach Hause geleitet“ in der Rudolfstraße von Jorgo Schäfer, „Das muss so von wegen die Sicherheit“ am Deweerthschen Garten von Birgit Pardun oder „In meinem Glückskeks war kein Zettel“ in der Hindenburgstraße von Uwe Becker: Die Fülle an künstlerischen Akzenten wird hoffentlich noch lange zu sehen sein.

Für das Team von „Wohnen in der Politik“ war es schmerzhaft, das über ein Jahr lang vorbereitete Projekt abbrechen zu müssen, mit seinen Impulsen für Politik und Stadtgesellschaft. Ein schon produzierter überregionaler Medienbericht war ad hoc nicht mehr von Interesse, wurde nicht gesendet. Mit dieser Leere, Stille und Unsicherheit umzugehen, war und ist eine Herausforderung. Immerhin: Die Performerin Iris Ebert schreibt ihre Masterarbeit unter Bezugnahme auf das Projekt, vielleicht entsteht noch ein Buch über die Anfänge oder zumindest eine Abschlussveranstaltung. Die Möbelstücke, die ursprünglich als WGAuflösung in einer Abschlussaktion analog und performativ mit all ihren Geschichten an Bürger der Stadt verteilt werden sollten, wurden nun online über eBay verschenkt.

Das Gefühl von Verlust ist vielen Kunstschaffenden vertraut. Was bleibt? Hoffentlich die Solidarität unter den Kulturschaffenden und mit ihr eine kreativ-pragmatische Selbstwirksamkeit, die vielseitig unterstützt wird, oder auch die intensiven Gespräche mit der Politik, die einen Ausbau der Nothilfefonds-Finanzierung auf den Weg gebracht haben.

Und wie geht es konkret weiter mit der Kultur im Tal? Nicht einfach wird es sein, die Abstandsvorschriften an kleineren Orten umzusetzen. Die Wuppertaler Bühnen kommen der freien Kunstszene entgegen, bieten das Theater am Engelsgarten und das Opernhaus an. Um solide Zukunftsperspektiven für die betroffenden Kulturschaffenden zu gestalten, ist noch viel zu tun. Analoge Kunstaktionen setzen Zeichen, neben out and about ein geplanter StationenStadtspaziergang zur „Freiheit der Kunst“, inspiriert von der Böll Rede 1966 zur Eröffnung des Schauspielhauses. Es bleibt spannend. Bei allem – derzeit (digital) häufig kostenlosen – Angebot ist wichtig: Kultur hat ihren (analogen) Wert. Kunstschaffende müssen und möchten davon leben können. Sie wollen und werden weiter Präsenz zeigen.

www.wohnen-in-der-politik.de www.eintopfwuppertal.de www.stew.one www.outandabout-kunstgehtraus.jimdofree.com

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