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views in einem Buch von Jon Wood und Julia Kelly
Circle and Chains, 2011,
© Krysten Cunningham
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Was fängt mit S an? „Zeitgenössische Skulptur“ – Künstlertexte und Interviews in einem Buch von Jon Wood und Julia Kelly, in Zusammenarbeit mit der Cragg-Foundation
Roman Signer, Nicht loslassen (Do not let go), 1983, Courtesy of the artist and
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Hauser & Wirth Zurüch, © VG Bild-Kunst Bonn 2020
Skulptur? Was ist das? Es handelt sich um dreidimensionale Objekte, die – und zwar seit Jahrtausenden – meist in bestimmter Absicht z.B. als Denkmal, Mahnmal, Por
trätbüste her- und aufgestellt werden. Die Venus von Hohle Fels als älteste bekannte Skulptur wird vor ca. 40 000 Jahren entstanden sein, und die eigenartigste ist vielleicht die unsichtbare („Invisible Sculpture“) von Andy Warhol, von der man nur ihren leeren weißen Sockel sieht. Eine der jüngsten Skulpturen wurde vor kurzem widerrechtlich in Bremen auf den dortigen Wallanlagen im öffentlichen Raum heimlich aufgebaut und stellt wohl einen Obdachlosen dar. Was macht man damit? Können Skulptur und Plastik politische Bedeutung haben? „Sind Bildhauer einfach Maler, die nicht malen können?“, fragt John Woods. Obgleich die Unterscheidung in Skulptur und Plastik kaum mehr gebräuchlich ist, kann sie doch auf die Art der Entstehung hinweisen. Während die Skulptur ursprünglich von der Bildhauerin oder dem Bildhauer durch Hämmern, Hauen, Schnitzen gemacht wurde, entstand die Plastik durch Applikation und/oder Modellierung z.B. von Ton. Heutzutage verschwimmen die Begriffe, denn Bildhauerinnen und Bildhauer benutzen inzwischen verschiedenste Materialien und Techniken für ihre Kunstwerke, mit denen sie sich aber natürlich in uralter Tradition bewegen. Die Bildhauerkunst erfindet sich immer wieder und mit jeder und jedem Kunstschaffenden neu.
Fragen über Fragen, zu denen in dem von John Wood und Julia Kelly vorgelegten Band 50 Künstlerinnen und Künstler aus verschiedenen Generationen zu Wort kommen. Nicht alle leben mehr, alle wurden sie zwischen den 1940er- und 1980er-Jahren geboren. Sie sprechen oder schreiben über ihr eigenes Werk, aber durchaus auch über das von Kolleginnen und Kollegen. Auswahlkriterien werden nicht angegeben. Viele von ihnen arbeiten in Großbritannien und Deutschland. Etliche wurden schon im Skulpturenpark Waldfrieden ausgestellt. Die Texte entstanden alle im 21. Jahrhundert. Texte und Interviews wurden in drei Kapiteln geordnet: 1. Objekte, Materialien und Prozesse - 2. Formen der Figuration, Räume und Orte, also nach ihrer Herstellung – 3. nach ihrem ästhetischen Erscheinungsbild und dem Ort, den und dessen Genius die Skulptur verändert, oder besser die Betrachtenden durch die Kunst verändert finden.
Krysten Cunningham, geb. 1973, ist fasziniert von ihrer vielseitigen Tätigkeit als Bildhauerin und beschreibt dieselbe umfangreich, nur tausend Wörter aufzählend: Linie, Form, Drehung, Hieb, Hand Gewebe, Schnur, Teer, Bronze, Russ, kalt, spirituell. Das waren erst zwölf. Aus Stäbchen, Antennen, auch Stricknadeln entstehen unter ihrer Hand durch Wickeln und Applikation von Garn, Fäden, Gewebe zarte Figuren. Edward Allington (1951-2017) kennt nicht nur das Lied der Beatles „Maxwell‘s Silver Hammer“, sondern vor allem viele schöne und „schreckliche“ Hämmer, Kugelhammer, Klauenhammer, bis zum zermalmenden göttlichen Hammer des nordischen Gottes Thor. Die Handwerkzeuge, die ihm nicht alle, aber dem Bildhauer prinzipiell, zuhanden sein müssen -wie Heidegger sagen würde- beschreibt er unter dem Beatles-Titel von 1969. Heidegger philosophiert leider nicht über das Verhältnis des Hammers zur Skulptur, sondern bedenkt nur seine Wirkung auf den Nagel.
Thomas Schütte berichtet nur über einen Teil seines Gesamtwerks, über Kopfstudien, die er erst modelliert, dann fotografiert und verkauft. Das erinnert an Gesichtsstudien, wie man sie bei Leonarda da Vinci findet. Welches Ziel er damit verfolgt, bleibt im Gespräch offen. Immerhin stellen diese Fotos Aspekte und Mitteilungen des Bildhauers über eigene Skulpturen dar.
Das Thema Skulptur und Geld wird nicht explizit behandelt, kann wohl auch eher auf der Kunstmesse studiert werden. Jonathan Monks meint dazu, dass Gewicht und Preis der Skulpturen miteinander korreliert seien, und ist an solchen, die „nicht auf den Kleiderschrank passen“, nicht interessiert. „Kunst sei jedenfalls kein Heilmittel für soziale Missstände“, meinen Bob und Roberta Smiths in ihren Statements. Sarah Lucas, geboren 1962, arbeitet bewusst mit billigen und stets verfügbaren Materialien, mag selbst scheu sein, denkt aber wohl nicht an ein Selbstbildnis bei ihrem Objekt aus zwei Schweineschinken, Bett und immerhin Unterhose. Jedenfalls schreckt sie vor nichts zurück und nagelt sogar einen Penis ans Brett.
Elmgreen & Dragset, geb. 1961 bzw. 1969, lassen in Ausweitung des Begriffs der Skulptur sieben bedeutende Skulpturen des 20. Jahrhunderts von Giacometti bis Rückriem als Schauspieler auf die Bühne, wo sie sich miteinander unterhalten. Zu Recht fragen sie sich mit uns: Wo bin ich? Dann ziehen die skulpturalen Schauspieler über das Publikum her, bedauern, dass sie an ihrem Standort oft überhaupt nicht wahrgenommen werden, dass sie manchmal sogar erst gar nicht aufgestellt, sondern gleich eingelagert werden. Das Thema Skulptur und Humor wäre auch einen eigenen Essay wert. Wahnsinn , seufzt Rückriems Granit am Ende. Eines der Hauptwerke dieser Künstler ist das Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen in Berlin.
Ilya Kabakov geb. 1941, macht sich Gedanken über die Wirkung seiner Skulpturen auf die Betrachter, die im Geflecht seiner Kunst eine Hauptrolle spielen. Die Installationen erinnern nicht an Ereignisse der Vergangenheit, wie zahllose andere Denkmale, haben keine mythologischen Vorbilder, wie die Nymphen und Satyrn barocker Schlossgärten. Sie spiegeln eher Stille, Harmonie, Elegie wider.
Was sollen die Texte der Anthologie? Wie nötig ist es, Bildhauerinnen und Bildhauer und ihre Skulpturen zu verstehen? Reicht die Betrachtung im Umhergehen nicht aus? Muss die Kuh alles von der Botanik verstehen, wenn sie Gras frisst? Das hat sich schon Einstein gefragt. Immerhin sind die Texte auch unterhaltsam, gelegentlich amüsant, und die Interviews bieten Gelegenheit, sozusagen mit der oder dem Kunstschaffenden Zwiesprache zu halten und sich das eigene Kunsterlebnis bewusst zu machen. Die Lektüre weckt Interesse.
Im Skulpturenpark von Tony Cragg in Wuppertal sind durch dessen Werke mythische Waldorte entstanden, obwohl er selbst mit Mathematik, rationalem Denken und dem breiten Spektrum von Energiefrequenzen versucht, die Umwelt zu begreifen und die Wirklichkeit zu beherrschen. Gesteuert wird er aber durch Emotionen. Seine Skulpturen entstehen mit Hirn, Herz und Bauch, also Rationalität, Empathie und Gefühl. Vor Kurzem wurde seine Skulptur „Zum Licht“ vor dem Audimax der bergischen Universität in Wuppertal aufgestellt.
Katharina Fritsche denkt in Bildern. Ihre drei bösen Männer (Mönch, Doktor, Händler) teilen sich die Macht in der Gesellschaft. Dass der Händler auf Englisch Dealer heißt, im Deutschen mit Drogen handelt, im Amerikanischen vor allem als blonder Präsident dealt und dass wiederum im Englischen das Wort „Dealer“ auch für Galeristen benutzt wird, das alles findet sie ganz schön zweideutig und freut sich dran. Außerdem fasziniert sie die Kombination von Totenkopf und Gehirn. Ihr Model, Frank, macht alles mit, muss das wohl auch und überlebt seine Metamorphose zum Kunstobjekt gelegentlich so gerade eben. Ganzkörperabgüsse sind nicht ungefährlich.
Mit tausend Worten und 500 sandschaufelnden Freiwilligen weist Franciy Alÿs auf die sozialen Probleme Limas hin. Land Art für Mittellose: Am 11. April 2002 („When Faith Move Mountains“), wurde eine 500 m lange Sanddüne von Hunderten von Freiwilligen um ca. 10 cm seitwärts bewegt. Ob diese Aktivität mit ihrer politischen Sinnhaftigkeit Eingang in die peruanische Mythologie gefunden hat?
Erwin Wurm, geb. 1954, studierte u.a. bei Bazon Brock, entmaterialisierte seine Kunst bis hin zu Staub, versteht sie auch als Aktionismus und Performance und war im Wuppertaler Skulpturenpark mit seinem Fat House zu sehen. Ideenreich, humorvoll will er mit seinem vielschichtigen Werk vor allem sich selbst treu bleiben.
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Es ist hier nicht möglich alle 50 Künstlerinnen und Künstler vorzustellen. Der voluminöse Band beantwortet nicht alle Fragen zeitgenössischer Bildhauerkunst, ist, auch kapitelweise, leicht zu lesen und bietet viel zu Fragen zeitgenössischer Kunst. Man wird ihn auch nach erfolgter Lektüre gelegentlich wieder und wieder zur Hand nehmen. Für Interessierte eine Fundgrube.
Johannes Vesper
Jon Wood, Julia Kelly (Hg.),
Zeitgenössische Skulptur,
Künstlertexte und Interviews,
488 Seiten mit 50 s/w-Abbildungen,
Broschur, 24 x 16,8 cm,
Hatje Cantz, 48,- €