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Der Mensch im Mittelpunkt der Geschichte
Abbildung links: Anne Martin Mischtechnik auf Papier 1998, 42 x 29,7 cm
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Ulle Hees, Foto: Ziad Kobeissi
Ulle Hees‘ Menschenbilder
Wer im Tal kennt sie nicht, die Mina Knallenfalls und den Zuckerfritz, die beiden lokalen Originale, die in der Elberfelder Fußgänger-
zone stehen? Geschaffen hat sie die Wuppertaler Bildhauerin und Malerin Ulle Hees, die im März 80 Jahre alt geworden wäre. Aber die beiden zeigen nur eine Facette dieser außergewöhnlichen Künstlerin, die stets den Menschen ins Zentrum ihrer Werke stellte und vielfach regionale Bezüge einfließen ließ. 2015 widmete ihr die Stadt Wuppertal im Rathaus Elberfeld die Ausstellung „Menschenbilder“. Die Wuppertaler Kunsthistorikerin Susanne Buckesfeld würdigte die Kunst der Ulle Hees zu diesem Anlass mit folgender Rede.
Angesichts der hier im Elberfelder Rathaus präsentierten Menschenbilder von Ulle Hees zeigt sich ihre Haltung, das künstlerische Schaffen als eine grundsätzliche Voraussetzung des menschlichen Daseins aufzufassen. Betrachtet man die Porträt-Zeichnungen von Ulle Hees, ihre Aktdarstellungen, ihre Vorzeichnungen zu Skulpturen, ihre Kleinplastiken oder ihre Denkmäler im öffentlichen Raum, so wird klar, dass die Kunst der ihr eigene Weg ist, mit anderen Menschen in Austausch zu treten. Die Kunst von Ulle Hees ist gewissermaßen „ansteckend“, wie der russische Schriftsteller Leo Tolstoi es in seinem Buch „Was ist Kunst?“ von 1898 formuliert hat: Ihre Arbeiten bleiben nicht für sich, sie sind keineswegs als völlig autonome
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Mina Knallenfalls 1978, Bronze, 180 x 75 x 50 cm Foto: Ziad Kobeissi
Kunstäußerung zu verstehen, sondern sie verschreiben sich ganz und gar ihrem Gegenstand, dem Menschen, über den Ulle Hees spricht und an den sie sich richtet – und den sie im Sinne der „Ansteckung“ auch erreicht, und zwar mit der ihr eigenen Offenheit, Aufrichtigkeit und Empathie.
Worum ging es Tolstoi mit seiner Vorstellung von „ansteckender“ Kunst? Gute Kunst ist ihm zufolge diejenige, mit der die Künstlerin oder der Künstler eine Brücke zu den Betrachtenden des Werkes schlagen kann: „Jedes Kunstwerk veranlasst den Betrachter in eine bestimmte Beziehung zu treten – sowohl zu demjenigen, der das Kunstwerk produziert oder produziert hat, als auch mit all denen, die gleichzeitig, vorher oder nachher, denselben künstlerischen Eindruck erhalten. (...) Die künstlerische Tätigkeit basiert auf der Tatsache, dass ein Mensch, der durch seinen Hör- oder Sehsinn den Ausdruck der Gefühle eines anderen Menschen aufnimmt, in der Lage ist, die Gefühle nachzuvollziehen, die denjenigen bewegt haben, der sie ausgedrückt hat. (…) Auf dieser Fähigkeit des Menschen, die Gefühle eines anderen zu empfangen und selbst nachzuvollziehen, basiert das künstlerische Schaffen.“ In den Zeichnungen und Skulpturen von Ulle Hees bildet sich diese Fähigkeit, Gefühle zu erspüren und zum Ausdruck zu bringen, auf buchstäblich ergreifende Weise ab – ist es den Betrachtern ihrer sensiblen Figurationen doch unmittelbar möglich, den emotionalen Gehalt der Werke nachzuvollziehen. Wesentlicher Bestandteil des künstlerischen Prozesses ist die eingehende Auseinandersetzung mit ihrem Gegenstand. Bei den Porträt-Zeichnungen erfolgt dies in langen Gesprächen mit den jeweiligen Modellen – die eben das gerade nicht sind, Modelle, sondern eigenständige, autonome Personen mit ihren individuellen Geschichten und Erfahrungen. Genau diese Hintergründe sind es, für die sich Ulle Hees immer interessiert hat, von denen sie im wiederholten Gespräch mit offenem Ohr und auch offenem Herzen erfahren hat. Sie verstand es auf unnachahmliche Weise, diese in ihre erzählerischen Darstellungen einfließen zu lassen.
Neben der emotionalen Qualität ihrer Zeichnungen und Skulpturen ist es denn auch nicht die bloße „Imitation“, wie es Erik Schönenberg in der Ankündigung zu dieser Ausstellung formuliert, welche ihre Kunst ausmacht, sondern „eine Mimesis von Bewegung und Veränderung“, die für Ulle Hees stets Richtschnur ihres künstlerischen Gestaltungswillens und für ihr besonderes Verständnis von Schönheit war. Diese Art der Nachahmung manifestiert sich bei ihren Porträts in einer offenen Zeichenstruktur, die ebenso vorsichtig wie kraftvoll ihre Protagonisten umschreibt, ohne sie je endgültig festzuschreiben. Stets scheint die Möglichkeit des Wandels, der plötzlichen Veränderung in ihrem Strich mit angelegt. In diesem lang andauernden künstlerischen Prozess, bei dem die fertige Zeichnung nur das sichtbare Resultat darstellt, sah sich die Künstlerin als Mitgestalterin einer dialogischen Begegnung mit ihrem Gegenüber, dem sie sich nicht nur mit dem Zeichenstift, sondern auch persönlich annäherte. Das visuelle Gespräch schließt auch die Betrachtenden mit ein, denen sie mit ihrem ausdrucksstarken Strich möglichst viel über die solcherart umschriebene Person mitteilen möchte. Es ist gerade dieses hohe Maß an Lebendigkeit, auf der die ansprechende Wirkung ihrer Arbeiten beruht. Um es noch einmal mit den Worten Tolstois zu sagen: „Ein echtes Kunstwerk zerstört im Bewusstsein des Betrachters die Trennung zwischen ihm und dem Künstler – und nicht nur das, sondern auch die zwischen ihm und all jenen, deren Geist das Kunstwerk je aufgenommen hat. In dieser Befreiung unserer Persönlichkeit von ihrer Trennung und Isolation, in dieser seiner Verbindung mit anderen, liegt die wesentliche Eigenschaft und die große anziehende Kraft der Kunst.“
Ja-Sager/Nein-Sager Fingerzeige der Geschichte I, 1984, Bronze, 66 x 42 x 42 cm, Sockel 94 cm, Foto: Ziad Kobeissi
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Werkskizze und Plastik Der Kälberstrick Fingerzeige der Geschichte III 1985, Bronze, 44 x 42 x 55 cm, Sockel 120 x 50 x 50 cm Foto: Ziad Kobeissi
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Die Isolation des Einzelnen zu überwinden und alle am künstlerischen Prozess Beteiligten miteinander in Verbindung zu bringen, war erklärtes Ziel ihres künstlerischen Schaffens – ob beim Porträtzeichnen oder in ihrer Lehre – sowohl an den Universitäten in Wuppertal und Dortmund als auch in ihrem eigenen Atelier, in dem sie Kurse gab. Auch die jährliche Einladung in ihr Atelier zum Advent zusammen mit Künstlerkolleginnen und –kollegen diente nicht bloß dem Verkauf. Es zeigt vielmehr ihr Anliegen, andere an ihrer Kunst teilhaben zu lassen und mit ihnen in Kontakt zu treten – eine Tradition, die erfreulicherweise bis heute besteht. Wie gut es Ulle Hees mit ihren Kunstwerken, vor allen Dingen den Skulpturen im öffentlich Raum, gelang und bis heute gelingt, die Betrachter zu erreichen, davon zeugt nicht zuletzt ihre große Beliebtheit hier in Wuppertal und darüber hinaus. Aus heutiger Sicht lässt sich beispielsweise kaum noch nachvollziehen, wie viele Kämpfe auszustehen waren, bis ihre berühmte Mina Knallenfalls, ihr erster öffentlicher Auftrag in Wuppertal, 1979 mitten in der Fußgängerzone, in der Alten Freiheit mit Blick zur Wupper aufgestellt werden konnte. Damals wurde es noch als Affront empfunden, dass Ulle Hees‘ ganz persönliche Vorstellung von der fiktionalen Figur, die das wirtschaftliche Elend zu Beginn der Industrialisierung im 18. Jahrhundert verkörpert, nicht etwa auf einem Sockel stand, wie es für Denkmäler jahrhundertelang üblich war, sondern ganz einfach auf dem Boden, mit den Passantinnen und Passanten auf einer Stufe. So lädt die kecke Mina buchstäblich zum Anfassen ein – wie ihr blankes Hinterteil verrät – und bildet die Hauptperson auf zahlreichen Gruppenfotos von Touristen und Einheimischen. Dieser ganz handfeste Gebrauch ihrer Skulpturen durch die Menschen, die mit ihnen denselben Raum teilen, war bewusst intendiert und hat Ulle Hees zeitlebens erfreut.
Während die Bildhauerin in ihren Zeichnungen mit schnellen, spontanen Strichen Wesentliches der gezeigten Figuren nur umreißt, um die Dynamik des Lebens zum Ausdruck zu bringen, gelingt ihr dies in ihren Plastiken durch die Unmittelbarkeit des Modellierens mit Ton, was in zerklüfteten Oberflächen resultiert und den direkten Ausdruck des Gefühls erlaubt. Der Kontrast von detailliert ausgearbeiteten Partien einerseits und grob belassenen Strukturen andererseits bewirkt die reizvolle Offenheit ihrer Figuren, die dazu auffordern, mit ihnen in einen Dialog zu treten. Diese Qualität, aus der ihre großen Vorbilder Rodin und Giacometti hervorscheinen, zeigt sich besonders eindringlich in ihrem Hauptwerk, den „Fingerzeigen der Geschichte“, die sie seit Mitte der 1980er-Jahre mit ihrem damaligen Mann Herbert Hees konzipiert und umgesetzt hat. Nicht nur aus persönlichem Grund möchte ich hier den 3. Fingerzeig, den „Kälberstrick“ von 1985 aus Ahlen herausgreifen, jener westfälischen Kleinstadt im südlichen Münsterland, in der ich seit nun fast fünf Jahren lebe. Hier realisiert sich die Intention Ulle Hees‘, Kunst über die Menschen für die Menschen zu erschaffen, jedes Jahr aufs Neue – nämlich beim Gedenken an die ermordeten und deportierten Juden aus Ahlen am Gedenktag der sogenannten „Reichskristallnacht“, dem 9. November, der in Ahlen alljährlich mit großer Anteilnahme der Bürgerschaft an diesem „Fingerzeig“ offiziell gefeiert wird. Eher unscheinbar steht die Skulptur auf einem tischhohen Sockel, in den die Inschriften aller damaligen jüdischen Mitbürger der Stadt eingraviert sind. Hees hat eine Gruppe leidender Menschen geformt, die mit einem Kälberstrick gefangen genommen und fortgeführt werden wie Tiere zum Schlachthof, wobei sie in einem Flammenmeer untergehen. Die Skulptur befindet sich in unmittelbarer Nähe zur Innenstadt, am ehemaligen Standort der Synagoge, die am 9. November 1938, wie so viele andere Gebäude an unterschiedlichen Orten in Deutschland, niedergebrannt und ein für alle Mal zerstört wurde. Auf ihre keineswegs aufdringliche Weise erzählt Ulle Hees hier von einem unrühmlichen Teil der Geschichte Ahlens und Deutschlands. Sie vergisst dabei aber auch nicht, auf die wenigen mutigen Bauern aus der Umgebung hinzudeuten, die verfolgte Ahlener Jüdinnen und Juden bei sich aufnahmen und retteten.
So wie Ulle Hees sich in ihren Porträts auf die gezeigte Person einlässt, ist hier die sorgfältige Auseinandersetzung mit jenem schwierigen Teil der Geschichte erkennbar, dessen Auswirkungen bis heute spürbar sind. Die Künstlerin gibt dabei den Fehlenden ihren Namen zurück und verleiht ihnen Gestalt – als Leidende, Aufbegehrende, deren Schicksal sich auch hier in Bewegung – ja, man kann sagen: in äußerster Gemütsbewegung den Hinschauenden mitteilt. Die Fingerzeige sind somit das genaue Gegenteil nationalsozialistischer Monumentalskulptur, wie sie kürzlich aus einem illegalen Lager beschlagnahmt worden ist. Sprach diese überdeutlich von der emotionalen Überwältigung, und nicht der Ansteckung des Betrachters, bieten sich die Fingerzeige still und leise zur lernenden Betrachtung an: Sie sind Modelle historischer Begebenheiten, die den Protest und die Auflehnung aus der Position der Schwäche heraus würdigen, dem Vergessen entreißen und möglicherweise auch der Nachahmung empfehlen. Auch diese Plastiken beruhen, anders als ihre monumentalen Gegenstücke nationalsozialistischer Propaganda, auf
der Annahme, dass die Betrachter in der Lage sind, das Geschehen mitfühlend nachvollziehen zu können – eine der Grundannahmen Leo Tolstois: „Dank der menschlichen Fähigkeit, durch die Kunst mit den Gefühlen anderer infiziert zu werden, ist dem Menschen alles, was seine Zeitgenossen durchlebt haben, zugänglich, wie auch die Gefühle, die die Menschen vor tausenden von Jahren erfahren haben, und er hat zudem die Möglichkeit, seine eigenen Gefühle anderen mitzuteilen. Wenn Menschen diese Fähigkeit fehlen würde, die Gedanken aufzunehmen, die lange vor ihnen erdacht wurden, und anderen ihre eigenen Gedanken mitzuteilen, wären die Menschen wie wilde Tiere. (…) und wenn den Menschen auch noch die Fähigkeit fehlte, von Kunst angesteckt zu werden, würden sie fast noch wilder – vor allem wären sie noch isolierter voneinander und würden noch feindseliger miteinander umgehen.“
Die Kunst von Ulle Hees kann und sollte auch im Lichte der Geschichte des Dritten Reichs betrachtet werden. Und zwar nicht nur, was die Beschäftigung mit den Opfern und dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus im Sinne der Vergangenheitsbewältigung angeht, die ihr sehr wichtig war. Ich meine hier die Folgen der nationalsozialistischen Kulturpolitik auf den Kunstbetrieb in Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. 1941 geboren, ist Ulle Hees Zeugin einer Epoche, die so viele Erneuerungen und Erweiterungen des Kunstbegriffs gesehen hat wie kaum eine davor. In Deutschland umfasste dies auch und gerade die Abkehr von der Figuration, die durch die Propaganda des Dritten Reichs wie so viele andere Kunstformen sozusagen kontaminiert worden war. Man kann sogar von einer zunächst bewussten, politisch gewollten Förderung der Abstraktion als Ausdruck und Sinnbild westlicher Lebenseinstellungen sprechen. Davon unberührt, blieb Ulle Hees seit ihrer Ausbildung an der Werkkunstschule in Wuppertal, an der Akademie der Bildenden Künste in München oder an der Academia di belle arti in Rom ihrem gegenständlichen, der Figur verpflichteten Stil über die Jahrzehnte treu, den sie auf ihre Weise, den Werten der Menschlichkeit verpflichtet, konsequent weiterentwickelte. So muss aus heutiger Sicht gesagt werden, dass eine der realistischen Darstellung anhängende Kunst über alle Zeiten hin aktuell war und ist und daher selbstverständlich immer ihre Berechtigung hat, mit welchen Begriffen ihre vermeintliche ‚Wiederkehr‘ auch bezeichnet wird. Bei Ulle Hees dient sie dazu, die Menschen mittels der ästhetischen Erfahrung gemeinsam an Gefühlen teilhaben zu lassen mit dem Ziel, ein friedliches Miteinander zu stärken. Sicherlich würde sie Leo Tolstoi zustimmen, mit dem ich den Vortrag in einem letzten Zitat nun beschließen möchte: „Kunst ist nicht, wie die Metaphysiker sagen, die Manifestation irgendeiner mysteriösen Idee von Schönheit oder von Gott; sie ist auch keineswegs (…) ein Spiel, bei dem der Mensch seinen Überschuss angehäufter Energie loswerden kann; sie ist nicht der Ausdruck menschlicher Emotionen durch äußerliche Zeichen; und vor allem ist sie nicht einfach nur ein Vergnügen; die Kunst ist vielmehr ein Instrument der Verbindung zwischen den Menschen, die sie über dieselben Gefühle zusammen bringt, und sie ist unabkömmlich für das Leben und den Fortschritt zum Wohle des Einzelnen und der Gesellschaft.“
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Ulle Hees wurde am 19. März 1941 in Wuppertal geboren und wuchs in Vohwinkel auf. Sie studierte zunächst Bildhauerei an der Werkkunstschule Wuppertal, dann in München und Rom. 1964 kehrte sie in ihre Heimatstadt zurück, wo sie seitdem lebte und arbeitete. Sie starb am 9. Juli 2012. Susanne Buckesfeld
Amouzou, 2002, Bronze, 27 x 22 x 25 cm,