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BRÖtz 80
Peter Brötzmann: „self-portrait in the garden“, November 2020
Dienstag, 16. Februar, 12 Uhr, Brötzmanns Wohnung in der Obergrünewalder Straße
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Wolfgang Schmidtke: Vielleicht ist das für einen trüben Freitagmittag eine gute Startfrage: Du bist ja wahnsinnig viel unterwegs, fast dein Leben lang. Wie ist es, plötzlich so lang zu Hause zu sein?
Peter Brötzmann: Am kommenden Wochenende ist es genau ein Jahr her, dass ich meinen letzten öffentlichen Job gespielt habe, in Athen, mit Heather (Leigh) zusammen, zwei Tage, und ich bin froh, dass ich die gute Erinnerung habe. Ich bin noch nie, seitdem ich überhaupt beweglich bin, so lang an einem Platz gewesen. Ich kann auf der anderen Seite nicht meckern, hab da hinten mein Studio, daher immer noch genug Arbeit auf dem anderen Standbein, die Malerei, das Büchermachen. Mit meinem fantastischen Kollegen Klaus Untiet haben wir gerade ein Buch fertiggestellt.
Ich hab den Prototyp gestern schon gesehen, Klaus hat es mir gezeigt. In meinem normalen Leben fehlt einfach die Bühne, es fehlt das Publikum. Geplant waren im letzten Jahr vier lange und interessante Touren, zwei in den Staaten - endlich mal gut bezahlt -, mein jährlicher Japanbesuch und ’ne längere Geschichte in Südamerika. Das wurde alles abgesagt, mit der Ansage, dass es aufs nächste Jahr verschoben wird, und wen immer ich jetzt spreche, es wird wieder auf das kommende Jahr verschoben. Im Augenblick ist es für die Zukunft der Arbeit eine äußerst unsichere Situation, auch für die Zukunft der Musik generell- keiner spielt mehr, oder zu Bedingungen, die lächerlich sind.
Du meinst das Streamen? Das hab ich von Anfang an abgelehnt, es ist in meinen Augen ein Widerspruch zur Musik. Beim Streamen ein bisschen Selbstbeschäftigung zu finden, ist totaler Unsinn. Ich verstehe, wenn die jüngere Generation das anders sieht, aber ich kann nun mal nicht anders.
Angesichts der aktuellen Lage würde ich mich gern mit dir austauschen, was die Lage der frei arbeitenden Leute betrifft. Ich weiß, dass du einer der wenigen bist, die große Tourneen stemmen, ohne dass nennenswerte öffentliche Unterstützung in die Projekte fließt. Das finde ich beachtlich, trotzdem kann ich mich immer wieder aufregen, über die eklatant ungleiche Behandlung von sogenannter klassischer Musik und Jazz. Das Missverhältnis ist haarsträubend, im Vergleich zu einem sicher angestellten Sinfoniker hast du jetzt Monat für Monat …
Altelier in der Obergrünewalder Straße cloud on wood, 2019, wood/metal, 16 x 33 x 6,5 cm
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Heather Leigh/ Peter Brötzmann 2019 MUSIC WORKS, Brooklyn
Wolfgang Schmidtke/ Peter Brötzmann 2012 Schauspielhaus Wuppertal Foto: Karl-Heinz Krauskopf
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Nix! Aber da gibt es ein paar Voraussetzungen, die man über mich wissen muss. Ich bin ja jetzt uralt - als ich anfing zu denken und an meinem Ding zu arbeiten, war ganz klar: Ich mach das, so oder so. Hilfe der Eltern ging nicht, da war nichts da. Alles, was ich gemacht habe, habe ich selbst gemacht, mit meiner Arbeit, und das ist eine Angewohnheit, die schlecht abzulegen ist. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, ich bin über die Jahrzehnte für jede Hilfe, die ich bekommen habe, dankbar. Gern hab ich da auch eine Hilfe des Landes NRW in Anspruch genommen. Das ging auch sehr unbürokratisch, aber … Money talks, it says goodbye, wie lange da noch was zu reden ist, weiß ich nicht (lacht). Eigentlich ist das ja auch eine Selbstverständlichkeit bzw. es sollte eine sein, aber mit unserer Art von Musik hängen wir immer am allerletzten Rand der Kulturskala.
Hast du die Arbeit in der bildenden Kunst und der Musik eigentlich immer parallel gemacht? Das ging immer parallel, ich habe allerdings jahrzehntelang nichts in der Öffentlichkeit gemacht. Vor ungefähr 20 Jahren hatte ich, durch die Musik, einen guten Freund, der Museumsdirektor in einer kleinen südschwedischen Stadt war, in Ystad. Dort haben wir gespielt, und ich habe mir das Museum angeguckt. Er wusste, was ich tue, und dann hat er mir die fantastischen, altmodischen Räume - hoch, weiße Wände, große Fenster - angeboten. Diese Zusammenarbeit mit dem netten Herrn Direktor, Thomas Millroth, hat mir großen Spaß gemacht, nettes schwedisches und auch internationales Publikum. Gleichzeitig hatte ich in Chicago meine Beziehung zu John Corbett, der zu der Zeit Professor am Art Institute war und selber eine Galerie aufmachte. Es ist keine großartige finanzielle Geschichte, aber ab und zu ein angenehmes Taschengeld. Die Hauptsache ist immer noch die Musik, ich brauche das Reisen, ich brauche andere Leute, ich brauche andere Landschaften, Situationen. Und ich brauch die Kollegen und so’ne Bühne. Wenn da was Gutes passiert, ist das ja kein schlechtes Gefühl, wie du weißt.
Gern würd ich noch ein anderes Thema ansprechen: Wenn ich hier links zu dem CD-Stapel neben dem Fenster schaue, dann sehe ich etwas, das viele Leute, die dich nicht persönlich kennen, wundern würde - Platten von Lionel Hampton, Miles Davis, John Coltrane, Thelonious Monk, Louis Armstrong. Früher gab es ja eine ganze Reihe von Leuten, die gedacht haben, sie verstehen Jazz, und trotzdem war das, was ihr gemacht habt, ein unglaublicher Bruch und hatte mit dem, was davor im Jazz geschah, nichts zu tun. Siehst du dich als Teil einer Chronologie? Wir selbst haben das ja gar nicht so propagiert in den 60ern, als das alles anfing, auch in Europa, wo wir einen großen Teil unserer Entwicklung unabhängig von den Amerikanern gemacht haben. Ich wusste immer, wo die Musik herkommt, und wusste auch, dass ich ohne Louis Armstrong oder Duke Ellington und Thelonious Monk nicht das machen könnte, was ich für mich herausgefunden habe. Das alles ist schon ein ganz wichtiger Baustein. Natürlich hat sich das Publikum und auch die Kritik gewehrt, hat aufgeschrien: Das ist keine Musik mehr. Wenn du das jetzt, 50 Jahre später, mal beobachtest, war das zwar ein gewisser Schritt in eine durchaus notwendige Richtung, aber es war eine konsequente Folge von dem, was vorher war. Es war kein Riesenbruch, es war ein Schritt in eine Richtung, die einfach vorgegeben war. Die Kunst steht ja nicht im luftleeren Raum. In den 60ern wurden in den Südstaaten noch Leute an dem Bäumen aufgeknüpft, vergiss das nicht. Und wir jungen Kerle hatten hier den Krieg und die Folgen aufzuarbeiten, vor allen Din-
gen zu verstehen, was passiert war und warum. Ich weiß, dass es Alex Schlippenbach genauso geht. Es war der ganze Impetus der Geschichte, sich da auch so reinzustürzen. Damals konntest du nicht googeln, ich hab mir in Polen Bücher über den Aufstand im Ghetto besorgt, alles an Literatur, was ich kriegen konnte. Von den Alten, Eltern oder Lehrern, kriegte ich keine Antworten, du musstest dir das selbst zusammenholen. Da ich sehr früh angefangen hatte zu reisen, nach England und Holland vor allem, hatte ich dort schnell Kontakt zu jüdischen Künstlern. Das führte zu einer großen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, und das ist natürlich in die Musik geflossen. Und außerdem wollten wir sowieso die Welt verändern (lacht), mit nicht allzu großem Erfolg, verdammte Sch…
Können wir ganz konkret sagen, dass das Verlangen danach, tradierte Strukturen zu sprengen, einem Bewusstsein folgt, das gesellschaftliche Strukturen erkannte, die zum notwendigen Wandel nicht in der Lage waren? Man muss die Dinge mal vereinfachen. Wir wuchsen auf in einem staatlichen Gebilde, wo der ganze Justizapparat, der Verwaltungsapparat besetzt war von Leuten, die aus dem Dritten Reich kamen. Ich will nicht sagen, dass sie alle Nazis waren, aber es waren Nazis in Adenauers Umgebung, bei denen man das sehr genau belegen konnte. Da ist man auch Hannah Arendts Studien gefolgt, und wir wussten nur eins: So kann es nicht weitergehen, wir müssen das ändern. Die ganze Musikwelt war ja damals gut bestückt mit Hardbop, Dexter Gordon, Art Blakey war überall, nichts gegen Art, er war der beste Drummer überhaupt. Aber die Musik bewegte sich seit Langem in einem festgelegten Schema, und wir wollten kein Schema mehr. Wir haben es geschafft, den Blickwinkel zu erweitern, in dem der Bass nicht nur mehr ein Bass war, sondern zum Soloinstrument avancierte, die Trommeln nicht nur den Background bildeten, sondern durchaus mal sagen konnten, wo es lang geht. Und die Saxofone nicht nur die Scales rauf und runter spielten, sondern andere Bereiche, die möglich waren, entdeckten. Das habe ich, glaube ich, am konsequentesten gemacht- weil ich es auch nicht anders wusste (lacht).
Ganz furchtbar ist ja auch die Erkenntnis, dass zu oft beim Spielen einer Form nach dem Takt 32 wieder von vorn angefangen wird, der Bogen geht zu selten darüber hinaus. Im schlimmsten Fall wird in acht Blues-Chorussen acht Mal die gleiche Geschichte erzählt. Ja, das stimmt, aber Gott sei Dank geht es auch anders. Wir sind ja nun beide Saxofonisten, und wenn du dir die Geschichte von Coleman Hawkins anhörst, und als direkte Folge würde ich Sonny Rollins nennen, da ist bei diesen alten Gentlemen sehr viel an neuer Musik drin, aber dafür muss man immer spielen und ständig unterwegs sein, und das wird ja immer schwieriger. Wir hatten es ja noch gut, wir waren ja fast die Einzigen. Auch wenn ich zu machen Dingen überhaupt keinen Zulass hatte und manche Leute mich jahrzehntelang ignoriert haben- wir haben unsere Dinge dann eben selbst gemacht, das haben wir in dieser Situation auch gelernt.
Du sprichst gerne im Plural, von „wir“. Wen würdest du gern aus dieser Zeit nennen wollen? Hier in der Stadt war es von Anfang an Peter Kowald, das ist klar. Wir beide haben uns gut ergänzt, er war jemand, der sehr gut verhandeln konnte mit der städtischen Administration. Das waren so Dinge, wo ich mich immer rausgehalten habe. Das waren in den ersten Jahren, wenn wir über die Mitte der 60er reden, die einzigen „wir“. Selbst mit den späteren guten Kollegen, wie Manfred Schoof und Alex Schlippenbach, gab es eine ungeheure Distanz, weil die uns sehr misstrauten, erst mal. Dann kam eine Geschichte, die in manchen Köpfen die Meinung über mich geändert hat. Ich wurde von Carla Bley eingeladen, in ihrem European Quintet mitzuspielen, und zur gleichen Zeit tauchte Don Cherry ab und zu mit mir auf, und das hat dann in vieler Leut’ Gehirn ein paar Veränderungen bewirkt.
Das heißt, die deutschen Kollegen wurden erst dann vertrauensvoll, nachdem amerikanische Musiker mit dir arbeiteten? Es gibt eine nette Geschichte aus Düsseldorf. Da war damals der Jazzclub Oase, und die buchten noch Engagements für eine Woche oder sogar zwei, wenn du erfolgreich warst. Da spielte Gunter Hampel, und ich wusste, in der Band gab es einen Altsaxofonisten, der nannte sich Barbu, sein bürgerlicher Name war Werner Lüdi. Der spielte für damalige Verhältnisse schon ein irres Zeug. In einer Nacht hab ich dann mein Alt eingepackt und bin nach Düsseldorf gefahren. Vor der Tür standen sogar Rausschmeißer, da musste man sich erst mal drum herum schlängeln. Dann bin ich eingestiegen - es sah so aus, dass ein Musiker nach dem anderen von der Bühne verschwand, bloß Barbu, mit dem langen Bart und seinem Alt, blieb, und wir haben uns ein Duo geliefert. Bis dieser Riesenrausschmeißer kam, mich am Kragen packte und vor die Tür stellte. So war das damals, aber mit Barbu/Lüdi hab ich in den späteren Jahren noch viel zusammen gemacht.
Seit Jahrzehnten gibt es den Nimbus der Wuppertaler Szene. Quantitativ war es ja nie eine große Zahl an Spielern. Es gesellten sich aber immer mehr interessante Leute hinzu. Hans Reichel kam aus Hagen und hat von Anfang an sehr spezielle Dinge gemacht. Zu der Zeit gab es auch ein gutes Duo, Günter Christmann/Detlev Schönenberg. Rüdiger Carl kam aus Berlin, in Brüssel hatte ich Sven Ake Johansson aufgelesen- das war der enge Kreis.
Ist es jetzt eine Zufälligkeit, dass bestimmte Personen zu einer bestimmten Zeit zusammenkommen, oder gab es hier einen besonderen Geist, der stärker war als in den benachbarten großen Städten? Bei aller Bescheidenheit hat das schon mit Kowald und mir zu tun. Wir hatten gute Beziehungen nach Berlin, zu anderen Musikern, aber auch Leute wie Rene Block, der in seiner Galerie Konzerte organisierte. Ich hatte meine Beziehungen nach Antwerpen und Holland, Willem Breuker/Han Bennink, Misha Mengelberg. Kowald war mehr für die Engländer zuständig. Das haben wir dann zusammengebracht.
Der weitaus größte Teil eurer Arbeit war nicht in Wuppertal, aber die Identifikation mit der Stadt ist doch geblieben. Ich weiß nicht, wenn wir in Solingen gewesen wären, Kowald und ich, hätten wir es in Solingen versucht. Aber ich muss sagen, zu der damaligen Zeit hat die Stadt uns auch relativ gut unterstützt, egal, welche politische Farbe gerade im Rathaus saß.
Zu nennen ist sicher die Konzertreihe im Von der HeydtMuseum. Ja, das war eine ganz wunderbare Geschichte, die Heinrich Müller, der zweite Chef, damals initiiert hatte. Großartig war, dass das Publikum es im Vorbeigehen mitkriegen konnte, es kostete auch keinen Eintritt, soweit ich mich erinnere. Es gab sehr schöne Konzerte, aber wie immer sind die Dinge abhängig von Personen, und als die nächste Person kam, war es vorbei. Aber wir hatten auch die börse, das Impuls, wir hatten den Jazzclub Adersstraße als Urzelle, und die Leute, die kamen, die fühlten sich auch wohl. Ich wohnte ja damals mit meiner Familie in Unterbarmen, Rene Block kam mal für ein paar Tage vorbei, und ich habe ihm das Unterbarmer Nachtleben gezeigt. Er war begeistert, er war überrascht. Manches hat er selbst in Berlin nicht erlebt. Über die Gruppe von Musikern hinaus gab es ja auch die Zusammenarbeit mit bildenden Künstlern wie Gerd Hahnebeck, Dietrich Maus. Oder Achim Knispel, ein guter Maler und guter Gitarrist. Erinnerst du dich noch an die legendäre 24-Stunden-Performance in der Galerie Parnass? Natürlich, da war ich als Gast dabei. Das kam durch meine Zusammenarbeit mit Nam June Paik, durch ihn habe ich auch Beuys kennengelernt, den wir ein paar Mal in seinem Atelier besucht haben. Paik kam tatsächlich mal in die Adersstraße und war für mich eine große Hilfe, weil er immer sagte: Brötzmann, mach deinen Sch… Wenn du jung und unwissend bist, tut so was ganz gut. Da, muss ich sagen, hab ich immer gute Leute getroffen. Don Cherry und Steve Lacy, der ja immer ein gern gesehener Gast hier in Wuppertal war, durch Dieter Fränzel, den man nicht vergessen sollte. Wenn es mal nicht so gut ging, haben die mich immer wieder an die Arbeit gebracht, und Arbeit ist ja das Einzige, was über die schlimmen Zeiten hinweghilft.
Du hast recht oft neue Bands gebildet. Es gibt ja auch andere Beispiele, wo Musiker einen Sound, einen Weg, eine Besetzung finden und sehr lange dabeibleiben. Was ist das für eine Relation bei dir, gibt es diese Momente, in denen du denkst, jetzt muss etwas Neues passieren? Nein, ich bin immer noch der Auffassung, dass Musik, und gerade diese Musik, die sich immer auf der Kante bewegt, Zeit braucht, um sich zu entwickeln, Zeit braucht, um Fehler zu machen, und Zeit braucht, um daraus zu lernen. Mein erstes richtiges Trio, mit (Han) Bennink und (Fred) van Hove, damit haben wir zwölf lange Jahre zusammengearbeitet. Mit Heather bin ich inzwischen auch schon sechs Jahre unterwegs, oder Full Blast, die beiden Schweizer, die kenne ich mehr als 20 Jahre, und wir arbeiten immer noch weiter. Selbst das Chicago Tentet ist fast zwölf Jahre lang gelaufen, für eine Band mit zehn Leuten eine lange Zeit. Irgendwann haben mich die finanziellen Voraussetzungen sagen lassen: Kinder, heute ist Schluss. Wenn du nach über zehn Jahren zwar einen Fortschritt in der Musik, aber gar nicht im Geschäft siehst, dabei haben alle für ein Taschengeld gespielt, und als Bandleader stehst Du am Ende da mit leeren Taschen. Schade, aber manchmal bestimmt die Szene das Format. Ellington hat seinen Hauptstamm an Musikern das ganze Leben behalten, was unwahrscheinlich schön ist, aber das ist aus musikalisch-kommunikativen Gründen nicht mehr zu verwirklichen und aus finanziellen schon gar nicht. Irgendwann gab es keinen Platz mehr für größere Ensembles, und wenn du Jobs gespielt hast und wenigstens ein paar Mark mit nach Hause bringen wolltest, musstest du die Gruppen reduzieren, am besten auf ein Duo.
the silver lake, 2020 watercolor on paper 19 x 13,3 cm
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Ich war schon bei meinem letzten Besuch erstaunt, dass du alle Instrumente aufgebaut und spielfertig um dich herumstehen hast. Gehst du da überall mal ran? Ja, ich kann ja hier auch in der Nacht spielen. Im Augenblick reicht es ja, wenn der Ansatz funktioniert. Dann schau ich mir dabei meinen Nachtkrimi an und spiele, du musst ja nicht verstehen, was in dem Film gesprochen wird.
Wie wäre es, wenn du zum Schluss eine Anekdote aus dem Tourleben erzählst? Es gab Mitte der 60er ein Festival in Comblain la Tour, Belgien, in der Nähe von Lüttich, Open Air. Da war ich eingeladen zu spielen, natürlich mit (Peter) Kowald und Pierre Courbois am Schlagzeug, den ich von (Gunter) Hampel gestohlen hatte. Wir spielten im Newcomer-Programm, nachmittags. Es war ein wunderschöner Sommertag, brüllend heiß, herrliche Atmosphäre, das Publikum auf einer Wiese. Und was passierte? Nach 15 Minuten zog uns jemand den Stecker raus, wir haben aber unsere 40/45 Minuten weitergespielt. Ich war total durchgeschwitzt und renn’ die Straße runter zu der einzigen Kneipe. Komm ich dahin, voll bis obenhin, ich zum Tresen, da steht ein großer schwarzer Mann und ein Kleiner mit einer sehr prägnanten Nase, die unterhielten sich. Der große schwarze Mann sah, dass ich wirklich total durchgeschwitzt war und etwas zu trinken brauchte, und er merkte auch, dass ich nicht die nötige Resonanz vom Barkeeper bekam. Also sagte er zu dem Typen: Give that young man a beer. Ich bekam mein Bier. Das war John Coltrane, und der Typ neben ihm war Charles Aznavour. Und dann in der Nacht, nach dem Konzert des Coltrane Quartetts – vorher hatte noch Stan Getz gespielt, den ich aber leider verpasst habe –, gab es große Party bei Jacques Pelzer, der war Apotheker in Lüttich, spielte aber nebenher auch gut Altsaxofon. Coltrane tauchte nicht auf mit seinen Mannen, aber Stan Getz war da, in Boxershorts, und rannte in Shorts und total stoned durchs ganze Haus hinter Miss Belgium her. Ich war ja einiges gewohnt, betrunken war man ja schon mal, aber so ein Zirkus … Das war Stan Getz und ein guter Einstieg ins Berufsleben.
Peter Brötzmann ist der bedeutendste Vertreter des europäischen Free Jazz und hat dessen Entwicklung seit Mitte der 60er Jahre entscheidend mitgeschrieben. Am 6. März feierte Brötzmann seinen 80. Geburtstag. Zu diesem Anlass besuchte ihn sein 15 Jahre jüngerer Kollege Wolfgang Schmidtke und die beiden führten das Gespräch für „die beste Zeit“. Bisweilen spielen sie gemeinsam in dem Ensemble „wuppertal JAZZ workshop“: https://www.youtube.com/watch?v=WWYZ47Dz2go
BRÖTZMANN ALONG THE WAY 228 pages in hardcover First edition 2021 © Peter Brötzmann Wolke Verlag, Hofheim ISBN: 978-3-95593-253-4