Standpunkte für Wirtschaft und Gesellschaft
Standpunkte für Wirtschaft und Gesellschaft
Unternehmertum
Von Vorarlberger Unternehmern, ihren Produkten und ihren Forderungen. Seite 8
Die faule Generation, ein Mythos?
Ein Soziologe widerspricht der allgemeinen Auffassung. Seite 22
Konstruktiver Journalismus
Warum nur gute Nachrichten gute Nachrichten sind. Seite 29
Über unseren Dialekt
Ist Vorarlbergerisch eine eigene Sprache? Ein Germanist klärt auf. Seite 34
Vom Streit in der Demokratie
Warum die Unfähigkeit zu streiten demokratiepolitisch zerstörerisch wirkt. Seite 42
Februar 2024 / Ausgabe 95 www.themavorarlberg.at
Im Bild zu sehen ist der digitale Herzgurt von 24sens.*
AUSGABE
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Warum nur gute Nachrichten gute Nachrichten sind
Durch den andauernden Konsum negativer Nachrichten sind auch wir in einen permanenten Krisenmodus geraten. Konstruktiver Journalismus ist da ein Ausweg –aus einer medialen Welt, die aus verschiedenen Gründen zur Skandalisierung neigt.
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Von wegen faul
Ist die junge Generation tatsächlich so faul, wie stets behauptet wird? Ein deutscher Soziologe durchforstete einen riesigen Datenberg. Sein Fazit: „Ich habe nichts gefunden, was darauf hindeutet, dass die Einstellung zu Arbeit und Beruf mit dem Geburtsjahr zusammenhängt.“
Eine Chance – und eine Gefahr
Tristan Post, Vortragender an der TU München, erklärt die Unterschiede zwischen schwacher und starker künstlicher Intelligenz. Angst solle man keine haben, sagt Post, aber man müsse sich möglichen Gefahren dennoch bewusst sein.
„Thema Vorarlberg“ jetzt einfach auf Ihrem Tablet oder Smartphone lesen. Mit der kostenlosen App read.it oder auf www.myreadit.com können über 800 Magazine und Zeitungen gelesen werden – auch Vorarlbergs Monatszeitung „Thema Vorarlberg“ ist selbstverständlich im Online-Kiosk erhältlich.
FEBRUAR 2024
Bild Titelseite: Der digitale Herzgurt von 24sens ist ein Joint Venture, das von zwei führenden Experten für KI und intelligente Textilien gegründet wurde – von Rajat Khare und Günter Grabher. Produziert wird der Herzgurt am Standort von 24sens in Lustenau.
Wirtschaft aktuell. Der Weg der 10.000 Euro. Kurz & bündig. Aktuelles aus Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Made in Vorarlberg. Eine Vorarlberger Alternative zu ChatGPT.
In Erinnerung. Helmut Kramer. Unternehmertum. Der Millennium Park in Lustenau wird erweitert, ein knappes Vierteljahrhundert nach seiner Gründung. Unternehmer berichten im Schwerpunkt, was ihnen der Standort bedeutet. Zudem schreibt Ökonom David Stadelmann, warum Unternehmer in seinen Augen dringend auch politisch sein sollten.
Neues schaffen, Zukunft gestalten. Günter Grabher, CEO der Grabher-Group und vielfach ausgezeichneter Innovateur, erklärt im Interview, was für ihn der Reiz des Unternehmertums ausmacht – und in welchen Bereichen die österreichische Politik im Sinne des Unternehmertums dringend zu reagieren hat.
PISA und die Folgen. Schulexperte Manfred Hämmerle analysiert.
Ein Sonnenhaus. Über ein ungewöhnliches Gebäude in Göfis. Politiker und ihre Karriere. Andreas Unterbergers Vorschlag. Wohneigentum. Eine eklatante Schieflage.
Im Rückspiegel. Vorarlbergs Wirtschaft.
Nur ein Mythos. Die faule junge Generation? Gibt es gar nicht.
Fehlverhalten im Beruf. Verhaltensökonom Matthias Sutter berichtet. Vorarlberg in Zahlen. Wissenswertes aus unserem Land.
Ein Naturschauspiel. Bregenz im Dezember. Kunst. Peter Lederer. Nachgedacht. Vorarlberger und Vorarlbergerinnen kommentieren.
Im Ausland. Kocht und lebt in London: Nikolaj Haller
Gute Nachrichten. Konstruktiver Journalismus. Porträt. Horst Lumper und der Fußball. Krankenhaus. Eine bemerkenswerte Operation. Magnesit. Österreichs Mineral des Jahres. Funkenfeuer. Die Göttin Rätia.
Dialekt. Ist Vorarlbergerisch überhaupt Deutsch? Germanist Jan Höll gibt Auskunft.
Landesarchiv. Ein besonderes Röntgenbild.
Nationalsozialismus. Thomas Feurstein berichtet von einer Bildersammlung, die per Zufall in den Besitz der Landesbibliothek gelangte – und die historische Aufarbeitung braucht. Februar 1934. Der Essay von Historiker Peter Melichar.
Klare Worte. Der renommierte Philosoph Otfried Höffe ärgert sich im Interview über „verbohrte Minderheiten“ – und einen Meinungskorridor, der immer enger wird.
Streitkultur I. Eine Frage der Demokratie.
Streitkultur II. Die Sache mit den Diskurs-Rüpeln.
Eine Hommage. Gottfried Bechtold bekommt den Professorentitel verliehen, Gerald Matt ehrt den Bregenzer Künstler.
Künstliche Intelligenz I. Ein KI-Experte berichtet.
Künstliche Intelligenz II. Hanno Schusters Beitrag. Abgehakt. Eine Handvoll Humor.
INHALT | THEMA VORARLBERG | AUSGABE 95 | FEBRUAR 2024 | 02
TITELFOTO: FOTOWERK; FOTOS: ISTOCKPHOTO, BEIGESTELLT
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LIEBE LESERINNEN UND LESER.
„Neues anstoßen und in die Zukunft denken – welch‘ gute Aussichten!“ – das sagt Katharina Kleiter, die neue Leiterin des Designforums Vorarlberg.
IN DIESER
AUSGABE VON
Helmut Kramer, einer der renommiertesten und profiliertesten Ökonomen Österreichs, verstarb im Dezember im Alter von 84 Jahren. Der gebürtige Bregenzer war von 1981 bis 2005 Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung und anschließend, bis 2007, Rektor der Donau-Universität Krems. Professor Helmut Kramer war aber auch als Autor für Thema Vorarlberg tätig, seit den Anfängen dieses Magazins. In seinen stets hervorragenden Essays beschäftigte sich Helmut Kramer mit den Herausforderungen dieser Zeit. Er mahnte, stets den Blick in die Zukunft gerichtet, einen behutsameren, sensibleren Umgang mit der Welt ein. In Erinnerung an Helmut Kramer veröffentlichen wir nochmals jenen Essay, den der Professor im Mai vergangenen Jahres verfasst hatte, und in dem er unter anderem schrieb: „Es stellt sich die Frage, wie wir die Bevölkerung und deren Repräsentanten dazu bewegen können, zu begreifen und einzugreifen. Muss die jetzige Generation erst in den Hintergrund treten, um ihren Kindern und Enkeln Raum für nachhaltige Veränderungen zu geben?“ Helmut Kramer, der in einem Wiener Medium gewürdigt wurde, als ein „Leiser, dessen Rat gehört wurde“, wird fehlen.
Andreas Dünser Chefredakteur, im Namen der gesamten Redaktion
IMPRESSUM
Herausgeber und Medieninhaber: Wirtschaftskammer Vorarlberg, Wichnergasse 9, 6800 Feldkirch Internet: www.themavorarlberg.at
E-Mail: info@themavorarlberg.at Verlagsort: Feldkirch Chefredakteur: Andreas Dünser Redaktion: Herbert Motter (stellvertretender Chefredakteur), Sabine Barbisch, Eva Niedermair, Julia Schmid, Nora Weiß, alle Wichnergasse 9, 6800 Feldkirch Ständige Autoren: Kurt Bereuter, Klaus Feldkircher, Christian Feurstein, Thomas Feurstein, J. Georg Friebe, Wilfried Hopfner, Christoph Jenny, Edgar Leissing, Andrea MarosiKuster, Gerald A. Matt, Peter Melichar, Christina Meusburger, Manuela de Pretis, Martin Rümmele, Angelika Schwarz, David Stadelmann, Matthias Sutter, Andreas Unterberger Gastautoren dieser Ausgabe: Markus Hagen, Manfred Hämmerle, Jan Höll, Katharina Kleiter, Peter Lederer, Josef Moosbrugger, Ulrich Nachbaur mit Anna Mödlagl, Hanno Schuster, Andrea Spieth, Raphaela Stefandl, Bertram Strolz, Manfred Tschaikner Fotografen: Markus Gmeiner, Lisa Mathis Layout/Grafik/Umsetzung: Michael Türtscher Grafisches Konzept/Design: Ralph Manfreda Druck: Russmedia Verlag GmbH Herstellungsort: Schwarzach. Nachdruck nach Absprache gestattet, Fotos ohne Bildnachweis stammen aus unserem Archiv. Erscheinungsweise: jeden ersten Samstag im Monat, ausgenommen Jänner und August. Druckauflage: 61.500 Leserbriefe an leserbrief@themavorarlberg.at Die Redaktion behält sich Kürzungen vor. Offenlegung der Eigentumsverhältnisse nach § 25 Mediengesetz: Wirtschaftskammer Vorarlberg, siehe auch http://themavorarlberg.at/offenlegung Grundlegende Richtung: Informationen zu aktuellen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Themen Anzeigenannahme: Media Team Kommunikationsberatung, 6840 Götzis, Hauptstraße 24, www.media-team.at, markus.steurer@media-team.at, ✆ 05523 52392
Jan Höll
Könnte Vorarlbergerisch eine eigene Sprache werden? Germanist Jan Höll klärt auf.
Thomas Feurstein
Vorarlberg unter dem Hakenkreuz: Eine neue Bildersammlung der Landesbibliothek soll nun erforscht werden.
Otfried Höffe
Der Philosoph ruft im Interview aus: „Das ist doch eine Schande!“
Marie-Luisa Frick
Die Professorin sagt: „Nicht alles, was umstritten ist, ist jenseits des Diskutierbaren.“
„THEMA VORARLBERG“
IST EINE PUBLIKATION DER
FOTOS: ANDY RIDDER/VISUM/PICTUREDESK.COM, ANDREAS FRIEDLE, BEIGESTELLT ––––––––––––34 –––––––––––36 –––––––––––40 –––––––––––43 –––––@ –––––––
03 | FEBRUAR 2024 | AUSGABE 95 | THEMA VORARLBERG | EDITORIAL
Wirtschaft
THEMA VORARLBERG
Was aus Ihren 10.000 Euro wurde
Warum suchen wir oft nach dem Haar in der Suppe?
Ich gebe zu, dass wir gefühlt in einem riesigen Strudel von Herausforderungen stecken, dass manchmal das Gefühl aufkommt, mit einem kleinen Boot und ausgefallenem Navigationssystem in stürmischem Meer unterwegs zu sein und vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr zu sehen. Wenn wir uns dann aber einmal zurücklehnen und darüber nachdenken, was gerade in den vergangenen Jahren alles gelungen und erfolgreich bewältigt werden konnte, dann verblassen diese negativen Gedanken und machen den Raum dafür frei, mit Zuversicht in die Zukunft zu schauen.
Die Vorarlberger Unternehmerinnen und Unternehmer haben gemeinsam mit ihren Mitarbeitenden die massiven Einwirkungen der Corona-Pandemie auf viele unserer Geschäftsmodelle – zugegebenermaßen auch mit starker Unterstützung durch staatliche Hilfen – bewältigt. Unser Wirtschaftsstandort hat durch innovative Ideen – auch zum Teil unterstützt dadurch, dass Investitionen in Alternativen wirtschaftlich vertretbar(er) wurden – und auch aufgrund der Tatsa-
che, dass der landeseigene Energieversorger Möglichkeiten der Preisreduktion genutzt und an die Kunden weitergegeben hat, die Energiekrise gemeistert. Rohstoffverknappung und nicht nur daraus resultierende zum Teil massive Preissteigerungen haben vielfach unsere Kalkulationen deutlich belastet, aber die international tätigen Unternehmen konnten aufgrund der hervorragenden Marktstellung diese – jedenfalls zu einem großen Teil – weitergeben. Genauso wie die im Inland tätigen Branchen, welche vom weitestgehenden Erhalt der Kaufkraft der Konsumenten profitieren konnten.
Nach einigen Jahren extremer wirtschaftlicher Erfolge hat 2023 in vielen Unternehmen die Gewinndynamik etwas nachgelassen, die Ergebnisse sind aber für die meisten Unternehmen noch als gut zu bezeichnen. Es ist halt alles relativ auf dieser Welt! Stichwort Zuversicht: als realistischer Optimist gilt es nicht, bestehende Herausforderungen zu negieren oder schön zu reden! Nein, es bedeutet für mich, mit einer positiven Einstellung in Lösungen zu denken und mit
einem großen Schuss Zuversicht an die Zukunft zu glauben. Zuversicht bedeutet ja nicht ein naives „Nichtsehen“ von möglichen Stolpersteinen, sondern erlaubt es, diesen möglichst auszuweichen und das Ziel vielleicht nicht auf dem kürzesten Weg, aber dennoch zu erreichen.
Es wäre natürlich vermessen, jetzt festzustellen, dass alles gut sei, dass ohnehin alles weiterläuft und wir nur ganz einfach auf hohem Niveau jammern würden. Aber bewusst machen dürfen wir uns, dass wir uns vieles leisten können, viele Freiheiten genießen dürfen und, dass wir in einer Demokratie leben dürfen, in welcher auch die Schwächeren gehört und gesehen werden und in der soziale Gerechtigkeit einen hohen Stellenwert hat.
Genauso wie der Wohlstand, den wir uns erarbeitet haben, muss aber gerade auch diese soziale Ausgewogenheit im Auge behalten werden. Beides ist keine Selbstverständlichkeit, beides entwickelt sich nicht von alleine weiter. Nein, es ist notwendig, dass wir ALLE weiterhin gemeinsam daran arbeiten!
Wie die Inflation den Wert des Geldes zerstört
Mittlerweile gibt es zwar wieder Zinsen, die Gratisgeldpolitik der EZB hat aber ein großes Loch in die Konten der Sparer gerissen. Das betrifft vor allem die Bürger Österreichs, die gemeinsam knapp 300 Milliarden Euro am Sparbuch und am Konto horten.
Im Jahr 2022 haben österreichische Familien 23 Milliarden Euro an Kaufkraft verloren (16 Milliarden auf Bankkonten, 7 Milliarden auf Spareinlagen), dieses Jahr sind es voraussichtlich 19 Milliarden Euro (13 Milliarden auf Bankkonten, 6 Milliarden auf Spareinlagen).
Eine Berechnung der Agenda Austria zeigt, wie sich 10.000 Euro über die vergangenen zwei Jahrzehnte entwickelt haben.
Der Geldwert von 10.000 Euro Bargeld beträgt heute nur mehr 6000 Euro, auf dem Sparbuch würde er immerhin noch 8000 Euro betragen. „Sparen ist enorm wichtig, aber die Österreicher bunkern das Geld, statt es zu investieren. Dadurch verlieren sie Kaufkraft im großen Stil“, wie Agenda Austria-Ökonom Dénes Kucsera meint. Die Kapitalmarktkultur in Österreich sei unterentwickelt, das müsse geändert werden. Dazu gehört auch eine entsprechende Finanzbildung.
Miteinander und nicht Gegeneinander, mit klaren Worten und Taten aber dennoch wertschätzend und verbindend. Der attraktive Wirtschaftsstandort und unser Lebensraum brauchen Menschen, die an sich und die Zukunft glauben, die zuversichtlich anpacken, Weichen stellen, mutige Entscheidungen treffen und die bereit sind, Leistung zu erbringen. Aus meiner Sicht ein tragfähiger Vorsatz für das neue Jahr, odr?
Ich weiß, dass viele Menschen in Vorarlberg jeden Monat interessiert auf die neue Ausgabe warten. Gestatten Sie mir daher in der ersten Ausgabe dieses Jahres neben diesem zuversichtlichen Blick nach vorne auch ein DANKE an das engagierte und motivierte Thema Vorarlberg-Redaktionsteam rund um Andreas
Dünser zu richten.
AKTUELL | THEMA VORARLBERG | AUSGABE 95 | FEBRUAR 2024 | 04
FOTO: ISTOCKPHOTO, DANIEL MAUCHE
Präsident der Wirtschaftskammer Vorarlberg
Wilfried Hopfner
Anmerkung: realer Zinssatz, inflationsbereinigt. Bankkonto: täglich fällige Einlagen (Bestand). Sparbuch: Spareinlagen bis ein Jahr (Neugeschäft). Quelle: Agenda Austria, OeNB
Brief des Herausgebers
Realer Wert einer Einlage von 10.000 Euro aus dem Jahr 2003 ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 2019 2021 2023 5.000 6.000 7.000 8.000 9.000 10.000 11.000 12.000 BARGELD SPARBUCH BANKKONTO
KURZ & BÜNDIG
Ein ungewöhnlicher Vorschlag – und ein dringlicher Appell.
1 | Toni Innauers Rat
Mit Beharrlichkeit
Gute Vorsätze sind schnell gefasst. Wie aber schafft man es, selbige auch umzusetzen? Skisprunglegende Toni Innauer hat diesem Thema ein neues Buch gewidmet; im „Standard“ riet er nun, dass man das Ziel in einzelne Abschnitte zerlegen solle; und dann das Gelernte immer wiederholen, bis es sich automatisiert: „Zieht man das so durch, entwickelt sich daraus eine Gewohnheit, und das reduziert die sonst nötige Willenskraft.“ Erfolg resultiert in dieser Lesart aus natürlichen Anpassungsprozessen und aus vielen Wiederholungen. Auch sei da der „innere Schweinehund“ und dessen Widerstand mit einkalkuliert: „Tatsächlich ist es so, dass Gewohnheiten uns steuern, und zwar viel stärker, als unser Selbstbild das wahrhaben will.“ Innauers Fazit: „Ausdauer schlägt Talent. Beharrlichkeit ist immer die wichtigere Qualität für den Erfolg.“
2 | David Stadelmanns Vorschlag
„Ungewöhnlicher Vorschlag“
Der von David Stadelmann bereits im „Thema Vorarlberg“ formulierte Vorschlag, Flüchtlinge sollten ihrem Zielland künftig einen Einreisepreis bezahlen, anstatt Schleppern das Geld zu geben, wird nun auch in deutschen Medien diskutiert. So hieß es etwa in der „Frankfurter Rundschau“, dass ein Experte mit einem „ungewöhnlichen Gegenvorschlag“ überrasche. Stadelmann wurde mit den Worten zitiert, dass man damit das Sterben im Mittelmeer verhindern könne, zudem „würde der Preis immer niedriger sein als das, was die Banden verlangen“. Der Einreisepreis sei keine Garantie auf einen positiv beschiedenen Asylantrag, Flüchtlinge müssten das normale Asylverfahren durchlaufen. Ihm sei klar, dass seine Idee auf viele zynisch wirken dürfte, sagte Volkswirt Stadelmann, doch müsse man seine Idee als Anreiz zu einer Debatte sehen: „Das Modell wäre viel besser als die jetzige Situation.“
3 | Roland Gnaigers Essay
Alarmsignale der Landschaft
Aufgehängt am Begriff der Landschaft schrieb Architekt Roland Gnaiger jüngst in einem bemerkenswerten Essay in der „Presse“, dass es in unseren Breiten keine Urlandschaften im eigentlichen Sinn mehr gebe. Selbst im Gebirge stoße der Mensch auf Schutzhütten, Güterwege, Skipisten und auf vieles mehr: „Wie fern sind die uns wohlbekannten Landschaftsräume doch von echter Urlandschaft.“ Und mit Blick auf die „auf monogrüne Futteräcker reduzierte“ Vorarlberger Landschaft konstatierte Gnaiger, dass sich noch nie zuvor „Artensterben und Schönheitsschwund in solcher Gründlichkeit und Geschwindigkeit vollzogen" haben wie heute: „Die einstige Vielzahl aus 50 bis 80 Gräsern, Kräutern und Blumen wurde auf 15 bis 20 Pflanzen reduziert.“ Gnaigers Appell: „Wir erkennen die Alarmsignale der Landschaft nicht mehr. Landschaft ist ein mit den Lebensumständen des Menschen untrennbar verwobenes Stück Natur. Es liegt an uns, ob wir sie als ein Spekulationsobjekt reduzieren oder als Lebensgrundlage verstehen.“
4 | Lehrer-Kampagne erfolglos
Keine Burgenländer
Wie Wiener Medien gegen Jahresende berichtete, hat die Werbekampagne der Bildungsdirektion Vorarlberg im Burgenland zur Anwerbung von Pflichtschullehrern nicht gefruchtet. Wobei „nicht gefruchtet“ untertrieben ist: Wie Schullandesrätin Barbara Schöbi-Fink mitteilen ließ, hat es keine einzige Bewerbung aus dem östlichsten Bundesland gegeben. Burgenländer wollen in Vorarlberg offenbar partout nicht unterrichten; und das, obwohl man burgenländischen Pädagogen eine Prämie von bis zu 6510 Euro versprochen hatte, für den Fall, dass man ans andere Ende Österreichs ziehen wolle. Im „Standard“-Chat, mitunter ja durchaus amüsant, schrieb ein User: „Schuld sind mangelnde Fremdsprachenkenntnisse.“ Die im vergangenen Sommer gestartete 26.500 Euro teure Kampagne war im Burgendland übrigens auf heftige Kritik gestoßen, es sei „nicht unbedingt der freundschaftlichste Akt“, hieß es damals.
5 | Markovics über Vorarlberg
Des Schauspielers Lob
Im ORF war Anfang Jänner der von Karl Markovics geschriebene und im Land gedrehte Krimi „Das Schweigen der Esel“ zu sehen, zu hören war dabei auch viel Vorarlberger Dialekt. Vor der Ausstrahlung hatte Hauptdarsteller und Regisseur Markovics in mehreren Medien über den Film, sein Drehbuch, aber auch über den Drehort gesprochen. Dem „Standard“ sagte der 60-Jährige, dass Vorarlberg „etwas von einer Meer-Rand-Gegend“ habe und eine ganz eigene Arbeits- und Lebensqualität besitze: „Die sind offen, die schauen nicht wie die Tiroler auf Berge, sondern da ist der Bodensee, und drüben ist die Schweiz und Deutschland und Liechtenstein. Und die sind sehr schnell in Frankreich. Das spürt man, das mag ich sehr.“
05 | FEBRUAR 2024 | AUSGABE 95 | THEMA VORARLBERG | VORARLBERG FOTOS: MANFRED WEIS, GEORGIOS GIANNOPOULOS, BML/SCHEDL, ISTOCKPHOTO, ORF/MANUEL RIESTERER
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Made in Vorarlberg
Vorarlberger ChatGPT Alternative
Martin Nigsch entwickelte in seinem Start-up Feld eine intelligente Dokumentenerfassung, die mithilfe künstlicher Intelligenz die richtigen Inhalte auf Useranfragen findet. Das Besondere daran: Die Datenbank wird mit eigenen Inhalten jeglichen Dateityps gefüttert und läuft auf Hochleistungsservern bei den Stadtwerken Feldkirch. So ist die Datenqualität und -sicherheit regional gewährleistet. https://feld.ai
Text von MANUELA DE PRETIS WirtschaftsStandort Vorarlberg, Dornbirn
ERFINDERGEIST | THEMA VORARLBERG | AUSGABE 95 | FEBRUAR 2024 | 06 FOTOS: MATAK STUDIOS –MARKUS GMEINER & KARIN FALTEJSEK, ULLA WAELDER
Innovation
† IN MEMORIAM HELMUT KRAMER
Professor Dr. Helmut Kramer, einer der renommiertesten und profiliertesten Ökonomen Österreichs, verstarb am 28. November 2023 in Wien im Alter von 84 Jahren. Der gebürtige Bregenzer war von 1981 bis 2005 Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (WIFO) und von 2005 bis 2007 Rektor der Donau-Universität Krems. Als Autor war Helmut Kramer für Thema Vorarlberg seit 2014 tätig, in seinen hervorragenden Essays beschäftigte sich der Professor im Laufe der Jahre immer stärker mit der Zukunft und ihren Herausforderungen, er mahnte dabei stets einen sensibleren und bewussteren Umgang mit der Welt ein. In Erinnerung an Helmut Kramer, in Erinnerung an den überaus Geschätzten, veröffentlichen wir nochmals jenen Essay, den der Professor im Mai 2023 geschrieben hatte – und in dem er sich nochmals den großen Fragen unserer Zeit gewidmet hatte.
Als die Regierungsparteien 2020 ihr Programm formulierten, waren Bedrohungen für das bis dahin gewohnte Wachstum der Wirtschaftsleistung erkennbar. In der Zwischenzeit muss man – teilweise überraschend – Symptome einer tiefergehenden, möglicherweise sogar der endgültigen Krise der Entwicklung der Menschheit feststellen. Dazu zählen die Verschlechterung der Ertragsaussichten auf großen Teilen der Erdoberfläche und der Meere, der kaltschnäuzige Bruch des friedlichen Zusammenlebens zwischen Nachbarn und jener von Anstand zwischen politischen Kräften. Die globalen Zusammenhänge sind vielfältiger und komplexer geworden und sie versprechen der bisher gewohnten Zivilisation nichts Gutes.
Hinzu kommt das rasante und unumkehrbare Vordringen einer neuen Stufe der Technologie, die unsere Fähigkeiten im Arbeits- und Alltagsleben revolutioniert und das Ende der Einmaligkeit menschlicher Erfindungskraft ankündigt (Stichwort ChatGPT). Diese Technologie offenbart die Entfremdung menschlicher Kultur von den Gesetzen der Natur. „Sich die Erde untertan zu machen“, entspricht einem missverstandenen Auftrag an die Menschheit, der diese und die natürliche Ausstattung des Planeten in Gefahr bringt.
Diese Entwicklungen resultieren nicht nur in einer unabsehbaren Kette an Naturkatastrophen, sondern auch im Unverständnis großer Teile der Erdbevölkerung. Dieses hindert deren Repräsentanten, zielführend und dringlich notwendige Schritte zu unternehmen. Zwar sagt die Wissenschaft verheerende Katastrophen spätestens gegen Ende des laufenden Jahrhunderts voraus, doch sind rechtzeitige Maßnahmen derzeit politisch nicht durchsetzbar.
Die extrem ungleiche Verteilung von wirtschaftlicher Macht auf der Erde hat mit der ungleichen Geschichte und Organisation menschlicher Gesellschaften, nicht zuletzt mit dem vorherrschenden Erbe des Kolonialsystems, zu tun. Fortgeschrittene westliche Nationen etablierten
„Sich die Erde untertan zu machen“, entspricht einem missverstandenen Auftrag an die Menschheit.
Einrichtungen, sodass ihre Ausstattung mit Rohstoffen, unter anderem zur Energiegewinnung und von der Verfügbarkeit entsprechender Technologien und Organisationsformen extrem ungleich blieb. Natürlich könnte man, auf die Gefahr des Untergangs der Zivilisation verweisend, eine angemessene Ausstattung aller Nationen und Gesellschaftsschichten vereinbaren. Der Umstieg eines Herrschafts- und Eigentumssystems auf ein anderes wäre jedoch nicht nur der mangelnden Einsicht großer Teile der Bevölkerung, sondern auch kaum absehbaren Erschütterungen der sozialen Ordnung ausgesetzt. Diese Situation ist für die unabsehbare Folge von
Naturkatastrophen und Schäden am Erdklima, an Vegetation, an Erwerbsmöglichkeiten, aber darüber hinaus für das Scheuklappenverhalten großer Teile der Erdbevölkerung verantwortlich. Dies hindert deren Repräsentanten, Abhilfe verbindlich zu vereinbaren. Ein erheblicher Teil der Menschheit leidet an extremer Unterentwicklung, ungenügender Ausstattung und am Mangel von lebensnotwendigen Rohstoffen für Ernährung, Wasserversorgung, Energie, Bildung und Medikamenten.
Die physikalischen Zusammenhänge sind geklärt: Die Atmosphäre der Erde heizt sich auf, weil sich Abgase aus der Verbrennung der wichtigsten Rohenergieträger, besonders aus Kohlenwasserstoffen, in ihrer Atmosphäre sammeln und diese aufheizen. Die Funktion der Erdatmosphäre als Abgaslager ist von der Verfügbarkeit an diesen Rohstoffen abhängig. Einige, meist die technisch fortgeschrittenen Nationen, sichern sich damit enormen Reichtum. Sie nehmen auch in Kauf, dass die Verwendung von Treibstoffen aus Erdöl und anderen fossilen Quellen in den „reichen“ Ländern erheblich zugenommen hat.
Was unklar bleibt, ist die allgemeine Untätigkeit von großen Teilen der Bevölkerung und deren Repräsentanten. International verbindliche Abmachungen werden öffentlich vereinbart, doch ihre faire Umsetzung wird von feierlichen Worten entschuldigend begleitet. Naturkatastrophen, wie jüngst in der Türkei, geschehen und wir schicken unsere Gedanken und Gebete, doch langfristige Änderungen bleiben aus. Besonders interessierte Bevölkerungsgruppen, vor allem bestehend aus der heutigen Jugend, wollen die andauernde Doppelzüngigkeit nicht hinnehmen und veranstalten Protestbewegungen. Doch ihre Frustration wird zunehmend mit Begriffen wie „Klimakleber“ abgetan.
Es stellt sich die Frage, wie wir die Bevölkerung und deren Repräsentanten dazu bewegen können, zu begreifen und einzugreifen. Muss die jetzige Generation erst in den Hintergrund treten, um ihren Kindern und Enkeln Raum für nachhaltige Veränderungen zu geben? Noch beunruhigender ist die Frage, ob es zu diesem Zeitpunkt bereits für sinnvolles Handeln zu spät sein wird.
07 | FEBRUAR 2024 | AUSGABE 95 | THEMA VORARLBERG | IN ERINNERUNG FOTO: ROBERT NEWALD
Helmut Kramer, * 1939 † 2023, war von 1981 bis 2005 Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, ab 1990 Honorarprofessor an der Universität Wien, 2005 bis 2007 Rektor der Donau-Universität Krems.
MUNTER NEHMER TUM
it seinen Industriegetrieben ist ZIMM als Zulieferer im Maschinen- und Anlagenbau europäischer Marktführer. Der Spezialist –das Vorarlberger Unternehmen ist der einzige Fertiger von Industriegetrieben in ganz Westösterreich – liefert in 40 Länder dieser Welt, nach Südkorea, China, in die USA und nach Kanada, und in viele europäische Länder. Industrieunternehmen aus den unterschiedlichsten Branchen zählen zu den Kunden.
Gunther Zimmermann führt das von seinen Eltern 1977 gegründete Unternehmen seit dem Jahr 2012. Was macht für ihn den Reiz am Unternehmertum aus? Für ihn, sagt Gunther Zimmermann, bedeute Unternehmertum vor allem Selbstbestimmung: „Ich kann meine Ideen umsetzen, ich kann mich und mein Unternehmen nach meinen Vorstellungen ständig weiterentwickeln. Und die Freiheit, dies tun zu können, das ist die positive Herausforderung am Unternehmertum.“
Erweiterung
ZIMM forscht, entwickelt und produziert im Millennium Park. Dort, in diesem 115.000 Quadratmeter großen Betriebsgebiet in Lustenau haben 95 Unternehmen aller Größenordnungen ihren Sitz, sie beschäftigen in Summe 900 Mitarbeiter. Und bald werden es mehr sein, mehr Unternehmen und mehr Beschäftigte. Denn der seit gut 25 Jahren bestehende Millennium Park Rheintal, ab 1997 als Kooperation der Marktgemeinde Lustenau und der PRISMA Unternehmensgruppe entstanden, wird erweitert, um 22.000 Quadratmeter. Der Standort soll als Produktivquartier zu einem Betriebsgebiet der nächsten Generation weiterentwickelt werden, er wird Arbeiten, Wohnen und Leben vereinen und industrielle Produktion und urbanen Raum weiter verzahnen. „Erweiterungen und Investitionen von regionalen Unternehmen sind ein erfreuliches Zeichen“, sagt Wirtschaftslandesrat Marco Tittler: „In wirtschaftlich herausfordernden Zeiten
wirkt dieses Bekenntnis zum Standort umso stärker und ist ein positives Signal über die Region hinaus.“
Karin Fink-Loos, Geschäftsführerin von Kugelfink, freut sich nach eigenen Angaben auf diese Erweiterung. Seit mittlerweile acht Jahren ist ihr Unternehmen im Millennium Park angesiedelt, Fink-Loos lobt die „sehr gute Lage, die nahe Anbindung an die Autobahn, insgesamt die gute Infrastruktur“, und den Umstand, dass die PRISMA darauf achte, dass es in diesem innovativen Unternehmerumfeld auch zu einem regelmäßigen Austausch komme.
Der Park bietet Mitarbeitern bereits jetzt eine Kinderbetreuungseinrichtung, Restaurants, Hotels, gar ein Fitnessstudio; das Angebot soll mit der Erweiterung um weitere Elemente ergänzt werden, auch mit dem Ziel der weiteren Attraktivierung des Standorts in Zeiten des Fachkräftemangels. „Wir sind überzeugt, dass vor allem Standorte, die Wohnen, Arbeiten und Leben in einem
engen räumlichen Kontext kombinieren, zukunftsfähig sind“, heißt es in einem Folder der Unternehmensgruppe.
Auch Gunther Zimmermann ist mit dem Millennium Park „extrem zufrieden“. Er lobt den Netzwerkaustausch mit anderen Unternehmen, den Branchen- und Unternehmensmix, die Infrastruktur, die Verkehrsanbindung. Und er sagt: „Wir arbeiten in einem wundervollen Umfeld nahe an der Natur.“
Erste Machbarkeitsstudien mit interessierten Unternehmen sind bereits erstellt. Heuer wird geplant, 2025 gebaut, 2026 der Betriebsstart erfolgen. „Das Produktivquartier im Vorarlberger Rheintal, der Millennium Park Rheintal, geht als weit über die Grenzen bekannter Innovations- und Produktionsstandort im Süden in die Erweiterung“, berichtet Bernhard Ölz, Vorstand der PRISMA Unternehmensgruppe. „Ideale Rahmenbedingungen, Infrastrukturen und Dienstleistungen werden beste Voraussetzung für Unternehmen und deren
SCHWERPUNKT | THEMA VORARLBERG | AUSGABE 95 | FEBRUAR 2024 | 08
und der Blick nach vorne
Zukunftsfähigkeit schaffen“, sagt Ölz. Die Grabher Group hat zwei Standorte im Millennium Park. Profitiert man vom dortigen Umfeld, was sagt Günter Grabher, CEO der Grabher-Group? „Absolut. Es sind dort viele unterschiedliche innovative Firmen, die vielleicht nicht immer zum gemeinsamen Projekt führen, sich aber doch gegenseitig befruchten. Und wenn man sich die hochspezialisierten Unternehmen dort auf kleinstem Raum ansieht: Das ist in dieser Anzahl österreichweit schwer zu finden.“
Die Selbstständigkeit
Im Interview (Seiten 12/13) sagt Grabher, was ihn am Unternehmertum so sehr reizt: „Die Möglichkeit, mit einem Team komplett neue Dinge zu erschaffen und damit vielleicht auch einen Teil unserer allgemeinen, gemeinsamen Zukunft zu gestalten.“
Wirtschaftslandesrat Marco Tittler erklärt: „In der Förderung des Unternehmertums liegt ein Schlüssel zur
Der Millennium Park in Lustenau wird erweitert, 2026 soll der Betriebsstart erfolgen. Drei Unternehmer erklären, was ihnen dieser Standort bedeutet, was den Reiz des Unternehmertums ausmacht –und welche Rahmenbedingungen in Österreich dringend zu verbessern sind.
Von Andreas Dünser
09 | FEBRUAR 2024 | AUSGABE 95 | THEMA VORARLBERG | SCHWERPUNKT
FOTO: PANOGRAF/MARC WALSER >>
Stärkung unserer Gesellschaft.“ Es gehe dabei nicht um kurzfristige wirtschaftliche Erfolge, sondern um die Etablierung von Werten wie Selbstständigkeit, Innovationsgeist und Eigenverantwortung: „Gerade die vielfach familiengeführten Betriebe mit starker regionaler Verwurzelung leisten hier einen wertvollen Beitrag.“ Apropos.
Karin Fink-Loos führt Kugelfink, das Familienunternehmen, in dritter Generation. Auch sie sieht den Reiz am Unternehmertum in der Selbstständigkeit und in der damit verbundenen Möglichkeit, Verantwortung übernehmen und aktiv gestalten zu können: „Wir haben es von Generation zu Generation geschafft, diese Freude an der Selbstständigkeit weiterzugeben.“
Kugelfink, 1934 von Karin Fink-Loos‘ Großvater gegründet, ist Spezialist für Wälzlager, Antriebstechnik und Linearsysteme. Der technische Handelsbetrieb beliefert maßgeblich Industrie- und Gewerbebetriebe am Standort Vorarlberg, hat aber auch Kunden in Deutschland, in der Schweiz und in Restösterreich: „Wir entwickeln uns für unsere Kunden laufend weiter.“ Der neueste Produktbereich des Unternehmens ist die Handhabungstechnik. Bei dieser Technik werden im industriellen Bereich Werkstücke oder Werkzeuge automatisch manipuliert. Soll heißen: Automatisierungskomponenten wie Greifer oder Werkzeugwechsler machen Produktionen flexibler und effizienter. „Die Automation in der Produktion wird für Vorarlberger Industrieunternehmen in Zukunft ein ganz entscheidender Punkt sein.“
Weiterentwicklung
Unternehmerin zu sein, heiße auch, sich ständig neuen Herausforderungen zu stellen, sagt Fink-Loos: „Es ist nicht immer alles einfach im Unternehmertum. Aber das gehört dazu. Man packt’s an. Man bewältigt’s. Und danach geht es wieder weiter, immer mit dem Blick nach vorne.“ Die Unternehmerin spricht von „Optimismus, gepaart mit Realismus“ und sagt: „Man hat als Unternehmerin, als Unternehmer das Positive zu sehen, man hat die Weiterentwicklung zu suchen.“ Unternehmer zu sein, heißt also auch: „Sich stets mit neuen Entwicklungen zu beschäftigen, mit der Zeit und mit der Information mitzugehen, dabei stets nahe am Kunden zu sein und sich mit dessen Bedürfnissen mitzuentwickeln.“
Gunther Zimmermann schließt an: „Wir müssen immer einen Schritt voraus sein und voraus denken. Innovation bedeutet in dieser Zeit, in der alles immer noch schneller und besser sein muss: Kundennutzen schaffen. Unseren Kunden Vorteile verschaffen. Das ist unser Fokus.“
Wirtschaftslandesrat
Bernhard Ölz, Vorstand
Wirtschaft und Gesellschaft
Wobei Unternehmertum mehr ist, gesellschaftlich betrachtet. Wirtschaftslandesrat Tittler bezeichnet den Beitrag der Unternehmer als „wesentlich, um die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern, eine zukunftsorientierte Gemeinschaft zu fördern und die Grundlage für unseren Wohlstand zu sichern.“ Auch Karin Fink-Loos nennt das Unternehmertum „die Basis“ und einen der Motoren unseres Wohlstands, sie sagt: „Der Unternehmer und die Unternehmerin schaffen Arbeitsplätze, sie tragen Verantwortung gegenüber ihren Arbeitskräften.“ In dieser Definition ist von hoher gesellschaftlicher Relevanz die Rede: „Und darum ist es ja so wichtig, dass wir die Rahmenbedingungen haben, die es Unternehmern erlauben, erfolgreich arbeiten und agieren zu können.“
Denn zum Unternehmertum gehören laut ZIMM-CEO Zimmermann auch „Risikobereitschaft, das Aushalten von Druck, und die Wahrnehmung von Verantwortung“ mit dazu. Zimmermann spricht von „der DNA eines Unternehmers“, er sagt: „Man hat Verantwortung für seine Mitarbeiter, und hat das Unternehmen sicher zu führen, auch durch stürmische Zeiten. Und man hat die Risiken zu tragen, die unweigerlich auf Unternehmer zukommen und die nicht immer einfach zu bewältigen sind.“
Forderungen
Karin Fink-Loos erklärt: „Wir brauchen – beispielsweise – dringend den Abbau von Bürokratie, eine Reduktion der Lohnnebenkosten, eine Steuerentlastung von Überstunden, die Schaffung flexibler Arbeitszeitmodelle bis zur Pensionierung hin.“ Österreich, sagt die Unternehmerin, „hat da viele Aufgaben, die Politik muss bessere Rahmenbedingungen schaffen“.
Das fordert auch Gunther Zimmerman: „Der Bürokratieabbau ist dringlich voranzutreiben, weil die überschießende Bürokratie auch einen negativen Einfluss auf die internationale Wettbewerbsposition Österreichs hat.“ Auch brauche es –mit Blick auf diese Wettbewerbsposition – dringend bessere Rahmenbedingungen im Bereich der Gehalts- und Steuer-Belastungen: „Natürlich muss beim Arbeitnehmer so viel ankommen, dass er sein Leben gut bezahlen und entwickeln kann. Aber die Gehaltserhöhungen haben mit größerem Augenmaß zu erfolgen. Und
da waren die letzten beiden inflationsbedingten Lohnerhöhungen für die Unternehmen äußerst schmerzhaft.“
Denn mit dem hohen und immer noch höheren Lohnniveau riskiere die österreichische Wirtschaft den Verlust ihrer Marktposition, warnt der Unternehmer: „Europäische und internationale Mitbewerber, in deren Ländern bessere Rahmenbedingungen herrschen und die preisliche Gestaltung eine andere ist, werden uns die Aufträge wegnehmen. Und brechen Aufträge weg, werden Österreichs Unternehmen die Menschen nicht mehr in diesem Ausmaß beschäftigen können.“ Soll heißen: „Wir müssen raus aus dieser überschießenden Gehalts-Spirale. Und die Steuerbelastung für Unternehmen ist dringend zu senken. Der Staat muss handeln. Die österreichische Wirtschaft verliert bereits an Wettbewerbsposition.“
Wertschätzung
In Vorarlberg beschäftigten im Vorjahr rund 8500 Arbeitgeberbetriebe über 123.000 Personen; wirtschaftliche Entwicklung und gesellschaftlicher Wohlstand sind in der Tat untrennbar miteinander verbunden. Doch wird den Unternehmen denn auch die entsprechende Wertschätzung mitgebracht?
Gunther Zimmermann hat da seine Zweifel. Das Unternehmertum habe in Vorarlberg und in Österreich auch wegen seiner vielen Familienunternehmen und inhabergeführten Betriebe zwar eine sehr große Bedeutung, erfahre aber nur teilweise die entsprechende Wertschätzung: „Von den Mitarbeitern in vielen Betrieben schon. Aber gesamtgesellschaftlich oder gar vom Staat? Das würde ich nicht sagen.“
Zukunftsforscher Michael Hauer hatte unter dem Titel „Die unternehmerische Gesellschaft“ in dieser Zeitung geschrieben: „Unternehmertum und Engagement sind das Rückgrat unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems.“ Ihm zufolge haben sich die europäischen Gesellschaften deshalb so positiv entwickelt, weil sie „unternehmerische Gesellschaften“ waren. In der öffentlichen, in der politischen Debatte wird dieser Umstand recht wenig gewürdigt. Der deutsche Sozialwissenschaftler Meinrad Miegel sagt: „Ohne Unternehmer wird unsere Gesellschaft verarmen und langfristig scheitern.“
SCHWERPUNKT | THEMA VORARLBERG | AUSGABE 95 | FEBRUAR 2024 | 10 >>
Günter Grabher (r.), CEO der Grabher Group, mit Minister Martin Kocher; Arbeiten in der ZIMM Lehrlingswerkstatt.
Karin Fink-Loos, CEO im Familienunternehmen Kugelfink: „Wir haben es von Generation zu Generation geschafft, die Freude an der Selbstständigkeit weiterzugeben.“
Gunther Zimmermann, CEO der ZIMM-Group: „Innovation bedeutet in dieser Zeit, in der alles immer noch schneller und besser sein muss: Kundennutzen schaffen.“
der PRISMA-Unternehmensgruppe: „Das Produktivquartier im Vorarlberger Rheintal, der Millennium Park Rheintal, geht in die Erweiterung.“
Marco Tittler: „Die vielfach familiengeführten Betriebe mit starker regionaler Verwurzelung leisten einen wertvollen Beitrag.“
FOTOS: GRABHER GROUP, FREDERICK SAMS, MARCEL HAGEN, STUDIO MATHIS, BEIGESTELLT
Unpolitische Unternehmer?
Von David Stadelmann
… ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bayreuth; Fellow bei CREMA – Center for Research in Economics, Management and the Arts; Fellow beim Centre for Behavioural Economics, Society and Technology (BEST); Fellow beim IREF-Institute for Research in Economic and Fiscal Issues; Fellow am Ostrom Workshop (Indiana University) und Mitglied des Walter-EuckenInstituts; E-Mail: david.stadelmann @uni-bayreuth.de
Bei der Betrachtung dessen, was erfolgreiche Unternehmer auszeichnet, wird oft auf verschiedene charakteristische Merkmale hingewiesen. Erfolgreiche Unternehmer würden die Fähigkeit besitzen, kreative Lösungen zu entwickeln und dabei über den Tellerrand hinausdenken. Sie würden sich durch erhöhte Risikobereitschaft auszeichnen. Fleiß, Ausdauer und Entschlossenheit wären weitere unternehmerische Eigenschaften, die zentral für Erfolg seien. Darüber hinaus wären Unternehmer fähig, Fortschritt mitzugestalten und könnten sich mit neuen Bedingungen gut arrangieren. Kurzum: Erfolgreiche Unternehmer zeichnen sich durch besondere Eigenschaften aus. Viele Unternehmer sehen sich selbst mit diesen Eigenschaften ausgestattet, und häufig trifft dies zu – was auch gut ist! Doch ein entscheidender Aspekt für erfolgreiches Unternehmertum wird gerne vernachlässigt: Unternehmertum und unternehmerischer Erfolg sind maßgeblich von politischen Rahmenbedingungen abhängig, die das wirtschaftliche Handeln prägen.
Rahmenbedingungen für Erfolg entscheidend
Wer kurz nachdenkt, erkennt schnell, dass politische Rahmenbedingungen eine entscheidende Rolle spielen. Zum Beispiel hätte jemand, der in den 1960er-Jahren während der Kulturrevolution in China die zuvor genannten unternehmerischen Eigenschaften besaß – und solche Menschen gab es vermutlich zu Hunderttausenden –, eher keinen großen Erfolg als Unternehmer gehabt.
Möglicherweise hätte eine solche Person als Parteifunktionär ein bescheidenes Auskommen gefunden oder sie hätte womöglich wegen „falschen“ Ideen mit staatlicher Verfolgung rechnen müssen. Ähnlich bringen im heutigen Russland die typischen Unternehmereigenschaften nur begrenzten Erfolg. Wichtiger sind dort eher politische Beziehungen sowie schauspielerische Fähigkeiten, um glaubhaft so zu tun, als liebe man das Regime.
Unternehmertum und unternehmerischer Erfolg sind maßgeblich von politischen Rahmenbedingungen abhängig, die das wirtschaftliche Handeln prägen. D
In freien und relativ marktwirtschaftlich orientierten Demokratien hingegen können Personen mit typischen Unternehmereigenschaften erfolgreich sein. In Österreich, in den Ländern der Europäischen Union oder in den USA ist es leichter, ein erfolgreicher Unternehmer zu sein als in weniger liberalen Demokratien mit unfreier Marktwirtschaft. In den Vereinigten Staaten waren und sind diese Unternehmereigenschaften tendenziell sogar noch wertvoller als beispielsweise in Österreich – „wertvoll“, im Sinne noch besserer Möglichkeiten, eigene Ideen in große Vermögen umzuwandeln.
Die freie Marktwirtschaft, in der sich Unternehmertum entfaltet, steht keineswegs im Widerspruch zu geringer Armut und Wohlstand für alle. Tatsächlich ist Unternehmertum in Wohlfahrtsstaaten wie Dänemark oder den Niederlanden ähnlich gut ausgeprägt, wie in Ländern mit etwas weniger Umverteilung, wie der Schweiz oder den USA. Entscheidend ist vor allem, dass ein sozialer Ausgleich so ausgestaltet ist, dass er das Marktgeschehen möglichst wenig beeinträchtigt. Im funktionierenden Wohlfahrtsstaat bleiben Arbeitsanreize und Marktmechanismen weitgehend erhalten. Damit das erreicht wird,
sollte sozialer Ausgleich eher durch direkte Umverteilung über Steuern erfolgen und nicht durch Mindestlöhne, Mietpreisregulierungen oder andere Eingriffe, die das wirtschaftliche Gefüge stärker verzerren können als Steuern dies tun. Auch im Umweltbereich sind Preisanreize in der Regel effektiver als Vorschriften und Verbote. Nach dem Setzen von Preisanreizen, wie beispielsweise der CO2-Bepreisung in Österreich, kann Bürokratie stark reduziert werden, denn man muss nicht bepreisen und regulieren. Wenig Einmischung in die Marktwirtschaft ermöglicht es Unternehmern, ihre Fähigkeiten sowohl für sich als auch zum Nutzen anderer einzusetzen. Ja, „zum Nutzen anderer“, denn für einen generösen Wohlfahrtsstaat muss der private Sektor viel erwirtschaften, damit Steuereinnahmen generiert werden können. Dies wird von politischen Entscheidungsträgern wiederholt übersehen.
Unpolitische Unternehmer?
Aber auch Unternehmer übersehen oft, wie sehr ihr Erfolg nicht nur auf ihren Eigenschaften, sondern auch auf guten politischen Rahmenbedingungen beruht, wie sie eine liberale Demokratie mit freier Marktwirtschaft bietet. Sie neigen dazu, zu wenig darüber nachzudenken, wie sie zur Erhaltung und Verbesserung dieser Rahmenbedingungen beitragen können. Stattdessen lassen sie sich von Politikern einlullen.
Sie sind relativ unkritisch gegenüber Subventionen und nehmen diese dankend an. Ein kritischerer Ansatz wäre, zu hinterfragen, ob etwas, das politisch subventioniert werden muss, möglicherweise gar nicht umgesetzt werden sollte, da es sich nicht eigenständig durchsetzt. Es ist auch oft ein Trugschluss zu glauben, dass Subventionen lediglich eine Art Anschubunterstützung darstellen, um einen Geschäftsbereich wettbewerbsfähig zu machen.
Einige Unternehmer arrangieren sich mit der Bürokratie und heißen Regulierungen willkommen, da diese wie eine Art Schutz vor neuen Wettbewerbern wirken können. Bei hoher Regulierungsdichte und Bürokratie scheuen potenzielle neue Wettbewerber den Markteintritt aufgrund hoher Fixkosten, während etablierte Unternehmen diese Kosten eher tragen und auf ihre Kunden umlegen können.
Dieses Verhalten ist verständlich, denn der Einsatz für ein wettbewerbliches Marktumfeld ist ein öffentliches Gut. Wenn sich ein einzelner Unternehmer dafür einsetzt, ist die Erfolgswahrscheinlichkeit für eine Verbesserung der Rahmenbedingungen gering, während seine Kosten hoch sein können. Würden sich viele Unternehmer gemeinsam engagieren, wäre die Erfolgschance höher, aber dann kommt es nicht auf einen einzelnen Unternehmer an. Es ist daher individuell rational, sich nicht für bessere Rahmenbedingungen zu engagieren und sich stattdessen mit Subventionen und marktschützenden Regulierungen zu arrangieren. Allerdings sollten Unternehmer, die sich durch Risikobereitschaft, Entschlossenheit und den Wunsch nach Fortschritt auszeichnen, über den Tellerrand hinausdenken und sich selbst aktiv für gute politische Rahmenbedingungen einsetzen. Insofern sollten sie nicht unpolitisch sein.
11 | FEBRUAR 2024 | AUSGABE 95 | THEMA VORARLBERG | SCHWERPUNKT FOTO: BEIGESTELLT
VIDSTA MANN* 1982 ausSib ll
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„Einen Teil unserer gemeinsamen Zukunft gestalten“
Von Andreas Dünser
SCHWERPUNKT | THEMA VORARLBERG | AUSGABE 95 | FEBRUAR 2024 | 12 FOTO: MATAK STUDIOS –MARKUS GMEINER & KARIN FALTEJSEK
Zur Person GÜNTER GRABHER * 1969 in Lustenau, ist CEO der Grabher-Group mit Beteiligungen an sieben Töchtergesellschaften. Grabher ist Leiter der Smart Textiles Plattform Austria und Technologiebeirat des Klimaministeriums (BMK). Der Unternehmer wurde vielfach ausgezeichnet, er ist unter anderem CEO des Jahres 2023, mehrmaliger KMU-Preisträger „Innovativstes Unternehmen Vorarlbergs“ und Staatspreisträger Innovation.
Günter Grabher (54), CEO der Grabher Group, spricht im Interview über Unternehmertum und über seine innovativen Produkte, vom Kohlendioxid-Sauger „C-Hoover“ bis hin zu dem elektromagnetischen Abschirmungsgewebe, das sich in vielen Ariane-Raketen befindet. Grabher erklärt auch, warum die EU-Taxonomie für Vorarlbergs Industrie die größte Herausforderung sein wird – und warum Unternehmer in Österreich dringend bessere Rahmenbedingungen brauchen.
Herr Grabher, sprechen wir über Unternehmertum? Über Mut?
Gut! Das braucht‘s im Moment!
Warum?
Weil die aktuellen Rahmenbedingungen in Österreich für das produzierende Gewerbe und für die Industrie immer schwieriger werden. Und das hat natürlich mit der massiven Erhöhung der Energiepreise und der Personalkosten zu tun. Das macht die Konkurrenzfähigkeit für unsere Unternehmen im internationalen Wettbewerb nicht einfacher. Denn die Preisschere ist nicht nur im Vergleich mit asiatischen Herstellern, sondern auch gegenüber anderen europäischen Ländern drastisch aufgegangen. Sagen wir es so: Den Konkurrenzkampf mit Fernost hatten wir vorher schon. Nur haben die massiven Erhöhungen in Österreich diesen Konkurrenzkampf noch einmal massiv verschärft. Unser größtes Problem ist, dass das Ungleichgewicht in Europa zugenommen hat. Ein Beispiel?
Ja, bitte!
Dann schauen wir doch über die Grenze nach Deutschland. Dort hat man für die Industrie bereits frühzeitig einen Strompreisdeckel eingeführt. Der liegt bei rund 13 Cent. Und aktuell ist die Rede davon, den Deckel für Großabnehmer nochmals zu senken, auf 6 Cent. Und wir in Vorarlberg? Wir zahlen in unserem Betrieb aktuell für die KWh 35 Cent. Da wir doch sehr energieintensiv sind, macht das in unserer Produktion natürlich enorm viel aus. Und die inflationsbedingten Lohnabschlüsse unserer Branchen im Vergleich zu den Deutschen? Deutschland hat im Branchenvergleich 4 plus 4 Prozent für drei Jahre abgeschlossen. Wir hatten 10 Prozent, werden jetzt wahrscheinlich mit 9 abschließen und das nächste Jahr wahrscheinlich nochmals zwischen 5 und 7. Und das heißt schlussendlich, dass unsere Produkte in Vorarlberg im Vergleich zum deutschen Mitbewerb einfach um 25 Prozent teurer geworden sind. Uns macht das ordentlich Sorgen. Also ja, da braucht es ein bisschen Mut und Hoffnung für die produzierende Industrie.
Man hat in Österreich den Eindruck, dass es an prinzipieller Wertschätzung für das Unternehmertum fehlt.
Mir ist nicht schlüssig, was die Politik bezweckt, denn grundsätzlich schädigt sie damit nachhaltig die Industrie und die Wirtschaft. Und die hohen Lohnabschlüsse sind ein nachhaltiger Wettbewerbsnachteil für Österreich. Zumal sich das ja auch nicht irgendwann wieder angleichen wird. Im Gegenteil: Dieser Nachteil wird bestehen bleiben.
Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel sagt: „Ohne Unternehmer wird unsere Gesellschaft verarmen und langfristig scheitern.“ Das könnte man fast auch als Warnung sehen.
Ich würde es genau in diesem Zusammenhang sehen. Das Unternehmertum ist ein wesentlicher Bestandteil der Gesellschaft, es schafft Arbeitsplätze und damit auch Stabilität. Und ich ziehe vor jedem Unternehmer den Hut, der bereit ist, diese Verantwortung, diesen Mut und
dieses Risiko auf sich zu nehmen. Ganz abgesehen von den zeitlichen Einbußen, die oftmals die Familie und der Freundeskreis zu tragen haben …
Was ist das Reizvolle am Unternehmertum?
Sein eigener Chef sein zu können?
Es geht nicht unbedingt um das ChefSein selbst, das mir Spaß am Unternehmertum macht. Für mich ist vielmehr das Reizvolle, dass Unternehmertum mir die Möglichkeit eröffnet, mit einem Team komplett neue Dinge zu erschaffen und damit vielleicht auch einen Teil unserer allgemeinen, gemeinsamen Zukunft zu gestalten. Das macht es für mich spannend.
Sie haben sich bereits mit 25 Jahren selbstständig gemacht. Das zeugt von Selbstbewusstsein. Und Risikobereitschaft.
Ja, absolut. Zur Selbstständigkeit gehört natürlich immer eine Portion Selbstbewusstsein, aber natürlich auch ein hohes Maß an Risikobereitschaft. Allerdings habe ich mir die vergangenen 28 Jahre schon erhofft, dass das Risiko über die Jahre abnimmt. Das ist leider so nicht eingetroffen (schmunzelt). Ich musste eher feststellen, dass eine Risikominimierung automatisch auch mit dem Rückgang von Innovation zu tun hat. Innovation ist aber in unserer Branche überlebensnotwendig. Also gibt es auch keine Risikominimierung für mich. Leider.
Sprechen wir über Innovation!
Forschung, Entwicklung und Innovation sind unerlässlich, um die Herausforderungen, die wir als Branche in der Zukunft haben, meistern zu können. Im Übrigen hat die viel zitierte Transformation, die in vielen anderen Industriezweigen erst jetzt beginnt, in der Textilindustrie schon vor Jahrzehnten begonnen. Wir haben in der Textilindustrie gelernt, dass ein Transformationsprozess kein abschließender Prozess ist, sondern dauernd anhaltende Veränderungen bedeutet. Und ohne intensive Forschung, Entwicklung und Innovation kann man da nicht bestehen.
Wie ließe sich denn die Grabher Group prinzipiell beschreiben?
Wir sind grundsätzlich in vier Units aufgeteilt. Wobei das Kerngeschäft, aus dem wir kommen, der Bereich der Textilveredelung ist.
Der Kohlendioxid-Sauger „C-Hoover“, hochwertige in Vorarlberg produzierte FFP2-Masken, die zu Beginn der CoronaPandemie präsentiert wurden, aktuell ein Herzvorsorgegurt. Was war in all diesen Fällen denn Ihr Antrieb zur Entwicklung dieser innovativen Produkte?
Das hat grundsätzlich sehr viel mit unserer Forschungseinrichtung V-trion GmbH zu tun. Wir haben diese außeruniversitäre, gemeinnützige Forschungseinrichtung, die hauptverantwortlich war für unsere Innovationen der vergangenen Jahre, vor 13 Jahren gegründet. Die V-trion GmbH ist auch die Trägerorganisation der Smart-Textiles Plattform Austria, einer Netzwerk-Vereinigung von über 80 internationalen Unternehmen und Forschungseinrichtungen, mit Mitgliedern aus dem Textil-Bereich,
der Software, der Mikro-Elektronik, der Elektronik, der Kunststoffverarbeitung und dem Werkzeugbau. Was wir für unsere Produkte brauchen, ist in diesem einzigartigen Netzwerk vorhanden. Das ist sehr wichtig: Es gibt kaum noch ein Produkt, das nicht branchenübergreifendes Know-how benötigt.
Sie haben erst vor kurzem den „C-Hoover“ präsentiert, einen Kohlendioxid-Sauger, der Medienberichten zufolge auf einer weltweit einzigartigen Methode beruht, um CO2 aus der Luft herauszufiltern. Da geht es um die direkte CO2-Abscheidung aus der Luft. Zur Erreichung der Klimaneutralität 2050 ist das aktuell wohl das heißest diskutierte Thema. Neben der notwendigen CO2-Reduktion wurde diese Technologie eben erst beim Weltklimagipfel in Dubai als einer der wichtigsten Pfade zur Erreichung der Klimaziele in das Abschlussprotokoll aufgenommen. Die Firma C-Hoover ist gegründet und die Mitgründer dieses Unternehmens stammen aus dem Silicon Valley.
2019 hieß es, Sie hätten ein Textil entwickelt, das in die Ariane-Rakete kommen sollte … Sollte? Das ist schon lange drinnen. Dieses Produkt haben wir mit unserer Tochterfirma RAC GmbH entwickelt.
Wir liefern die elektromagnetischen Abschirmungsgewebe für die Ariane-Raketen. Im vergangenen April ist die bislang letzte Rakete mit unserem Textil gestartet. Sie fliegt zum Jupiter, soll in sieben Jahren dort ankommen.
Das heißt: Vorarlberger Know-how ist auf dem Weg zum Jupiter?
Ja. Vorarlberger Know-how ist auf dem Weg zum Jupiter. Viele Ariane-Raketen haben unsere elektromagnetischen Abschirmungsgewebe. Nur die Stickerei-Technologie kann diese Abschirmungsgewebe herstellen. Es gibt sonst keine Technologie, die diese elektromagnetische Abschirmungswirkung erzielen könnte.
Sie sagten in einem Interview: „Was Smart-Textiles angeht, schaut die ganze Welt auf Vorarlberg.“ Ist das so?
Wir sind da absolut führend. Im Bereich Smart Textiles ist Vorarlberg ein Brennpunkt. Das hat mit der Struktur unseres Landes zu tun. Und natürlich mit der Smart Textiles Plattform. Vorarlberg ist die letzte verbliebene Region Europas, in der die komplette Wertschöpfungskette auf so kleinem Raum noch vorhanden ist. Und das ist natürlich auch die Voraussetzung, um gemeinsame Entwicklungen relativ rasch vorantreiben zu können.
Sie nehmen in und mit Ihren Unternehmen Umweltagenden, Klimaschutzagenden sehr ernst.
Ja. All unsere Forschungsthemen der V-Trion GmbH über die vergangenen vier Jahre sind auf die EU-Taxonomie und deren beschriebenen wirtschaftlichen Tätigkeiten ausgelegt, die einen wesentlichen Beitrag zu einem oder zu mehreren der sechs Klimazielen leisten können und somit EU-Taxonomie-konforme Tätigkeiten darstellen. Die EU-Taxonomie ist das gesetzliche Schwert zum European Green Deal und
verordnet, dass zukünftig Kapitalströme und Finanzierungen nur noch in die weniger als 150 Wirtschaftstätigkeiten –die nach der EU als nachhaltig und daher EU-Taxonomie-konform beschrieben werden –, fließen sollen. Da Banken selbst der EU-Taxonomie unterworfen sind und nicht EU-Taxonomie-konforme Finanzierungen negative Auswirkungen auf ihr eigenes Rating und somit auf ihre Refinanzierung bei der Europäischen Zentralbank haben, ist zu erwarten, dass zukünftig nicht EU-Taxonomie-konforme Finanzierungen zu Gänze abgelehnt, oder mit massiven Zinsaufschlägen versehen werden. Aber seltsamerweise …
Ja, bitte?
Seltsamerweise hat die Vorarlberger Industrie die EU-Taxonomie noch nicht so richtig auf dem Radar, obwohl das für viele Unternehmen in den nächsten Jahren vermutlich die größte Herausforderung sein wird, weil sie selbst keine EU-Taxonomie-konformen Tätigkeiten darstellen können. Unsere Industrien laufen da in ein riesiges Problem hinein. Die EU-Taxonomie ist seit 2022 in Kraft und ist seit dem 1. Jänner 2024 scharf gestellt. Das heißt, dass alle börsennotierten Unternehmen, Banken und Versicherungsunternehmen in ihrem Nachhaltigkeitsbericht für das Jahr 2024 verpflichtend die EU-Taxonomie-konformen Einnahmen, Ausgaben und Investitionen veröffentlichen müssen. Dies gilt ab 2025 verpflichtend für alle Großunternehmen über 500 Mitarbeiter, ab 2026 für Unternehmen mit 250 Mitarbeiter. Und ab 2028 ist die EU-Taxonomie auch für Kleinunternehmen gültig.
Und Sie haben da bereits reagiert?
Unsere Forschungseinrichtung V-Trion GmbH hat die Möglichkeit für andere Unternehmen geschaffen, die selbst keine solchen Tätigkeiten durchführen können, hier in EU-konforme Forschungsthemen zu investieren, um somit selbst in ihren Ausgaben und Investitionen EU-Taxonomie-konform zu werden. Aus dieser Forschung sind in den vergangenen zwölf Monaten drei Unternehmen entstanden, die zu 100 Prozent in allen Bereichen EU-Taxonomie-konform sind. Die StorexPower GmbH als Batteriehersteller, die C-Hoover GmbH zur CO2 Abscheidung und die Basalt+ GmbH im Bereich des Textilbetons zur CO2 Reduktion.
Abschließend: Müsste Unternehmertum in Österreich mehr Wertschätzung erfahren?
Ich weiß nicht unbedingt, ob Unternehmer von der Politik und der Bevölkerung Wertschätzung erfahren sollen. Aber im Politikbetrieb wäre es einfach wünschenswert, wenn wir stabilere Rahmenbedingungen bekommen. Und weil wir auch kurz über die FFP-2-Masken gesprochen haben: Es wäre wünschenswert, wenn die Politik zumindest ihre Versprechen einhalten würde. Da redet man in Sonntagsreden von Resilienz und autarker Produktion, und was passiert dann? Nichts. Würde ein Unternehmer so agieren wie die Politik, würde er sein Unternehmen unweigerlich und ziemlich rasch in den Abgrund führen.
Vielen Dank für das Gespräch!
13 | FEBRUAR 2024 | AUSGABE 95 | THEMA VORARLBERG | SCHWERPUNKT
ALPLA: STABILE GESCHÄFTSENTWICKLUNG MIT 4,7 MILLIARDEN EURO UMSATZ
MATERIALKOSTENREDUKTIONEN SORGTEN FÜR
MODERATEN RÜCKGANG IM JAHR 2023
Pharma- und Recycling-Expansion, neue Märkte und Produkte: ALPLA investierte 2023 in Weiterentwicklung und Wachstum. Der international tätige Verpackungs- und Recyclingspezialist schließt das Geschäftsjahr mit einem Umsatz von 4,7 Milliarden Euro ab. Gesunkene Material- und Energiekosten sorgten in Verbindung mit Wechselkurseinflüssen für einen moderaten Rückgang des Umsatzes. Die Wertschöpfung blieb stabil. Starkes Wachstum in Afrika stand einer schwächeren Nachfrage in Nord- und Zentralamerika sowie China gegenüber. Beim Einsatz von Recyclingmaterial in seinen Produkten ist ALPLA auf Kurs in Richtung 25 Prozent.
Die ALPLA Group investierte 2023 weltweit in neue Produktionswerke, Recyclinganlagen, Technologien und strategische Akquisitionen. Damit setzt das Unternehmen die Weiterentwicklung fort und legt die Basis für die Zukunft. Mit einem Jahresumsatz von 4,7 Milliarden Euro gegenüber dem Vorjahreswert von 5,1 Milliarden Euro sank der Umsatz um rund acht Prozent. Der moderate Rückgang spiegelt vor allem die branchenweite Normalisierung der Materialkosten wider und berichtigt das hohe Niveau von 2022. Gleichzeitig wurden Wechselkurseinflüsse wirksam. Während ALPLA in den Wachstumsmärkten Afrika und Asien expandierte, stagnierte die Nachfrage in Nord- und Zentralamerika sowie China. In Europa stärkte das Unternehmen die Präsenz im Pharma-, Recycling- und Industriebereich.
„Auf das Jahr der hohen Kosten folgte 2023 branchenweit ein Jahr der gemischten Nachfrage und Fluktuation. Dennoch haben wir eine stabile Wertschöpfung erzielt, umfangreich investiert, innovative Produkte entwickelt und
Kapazitäten ausgebaut. Damit wurden die Weichen für ein langfristiges Wachstum gestellt“, betont CEO Philipp Lehner. ALPLA produziert in 47 Ländern sichere, leistbare und nachhaltige Verpackungslösungen. Der Personalstand lag 2023 bei 23.300 MitarbeiterInnen. Die Standortanzahl stieg durch Neubauten, Erweiterungen und Akquisitionen von 190 auf 196.
Recycling-Ziel im Blick
Beim Recycling ist ALPLA trotz leicht rückläufiger Nachfrage 2023 auf Kurs: Bis 2025 sollen mindestens 25 Prozent Recyclingmaterial in den Verpackungen verarbeitet werden. Derzeit liegt der Wert bei rund 20 Prozent. Zur Deckung der Ressourcen setzt ALPLA auf hochwertiges PET- und HDPE-Recyclingmaterial aus Eigenproduktion. Jährlich fließen mehr als 50 Millionen Euro in neue Anlagen, Produktionslinien und Technologien. 2023 wurde die installierte und projektierte Output-Kapazität auf 350.000 Tonnen gesteigert – bereits doppelt so viel wie 2021.
THINK GLOBAL.
Wir sind international führend in der Herstellung von Verpackungen und im Recycling von Kunststoff.
Mit 196 Werken in 47 Ländern sind wir überall dort vor Ort, wo Kunden uns brauchen.
Verpackungs- und Recyclingspezialist ALPLA investierte 2023 weltweit in Weiterentwicklung und Wachstum.
Mit der Gründung der Marke ALPLArecycling unterstrich das Unternehmen 2023 die zunehmende Bedeutung der Sparte. Weitere Investitionen folgen 2024, wie Philipp Lehner festhält: „Kreislaufwirtschaft und Design for Recycling sind die Zukunft. Dafür sorgen wir schon heute mit einem massiven Ausbau unserer Kapazität
vor. Die stark gestiegene Nachfrage nach recyceltem HDPE bestätigt unsere Strategie. Wir bieten global agierenden Kunden als starker Partner weltweit hochwertige Lösungen.“
Über die ALPLA Group
ALPLA zählt zu den weltweit führenden Unternehmen für die Herstellung und Wiederverwertung von Kunststoffverpackungen. Rund 23.300 MitarbeiterInnen produzieren weltweit an 196 Standorten in 47 Ländern maßgeschneiderte Verpackungssysteme, Flaschen, Verschlüsse und Spritzgussteile. Die Anwendungsbereiche der Qualitätsverpackungen sind vielfältig: Nahrungsmittel und Getränke, Kosmetik- und Pflegeprodukte, Haushaltsreiniger, Wasch- und Putzmittel, Arzneimittel, Motoröl und Schmiermittel.
ALPLA betreibt Recyclinganlagen für PET und HDPE in Österreich, Deutschland, Polen, Mexiko, Italien, Spanien, Rumänien und Thailand. Weitere Projekte befinden sich international in der Umsetzung. www.alpla.com
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FOTOS: ALPLA/RICHARD TOWNSEND PHOTOGRAPHY
ALPLA Group
Die Ergebnisse der Pisa-Studie 2022 wurden präsentiert und sehr unterschiedlich bewertet. Es ist leider zu befürchten, dass nach der nächsten Präsentation ein ähnlicher Vorgang zu beobachten sein wird. In diesem Text sollen Vorschläge zur nachhaltigen Verbesserung der Bildung junger Menschen diskutiert werden. Es sei allerdings auch angemerkt, dass die Pisa-Studien nicht unbedingt Bildung messen (Ausgabe 12/2023).
Verantwortung der Lernenden
PISA 2022 UND DIE FOLGEN
Von Manfred Hämmerle
Unser Staat traut 16-Jährigen zwar das Wählen zu. Dass 15-Jährige für ihr eigenes Lernen verantwortlich sind, hört man wenig. Dabei zeigen verschiedene Studien und auch der Unterrichtsalltag, dass der wichtigste Faktor für den Lernerfolg der Lernende selbst ist. Schneidet ein Schüler bei Leistungsmessungen schlecht ab, kommt sehr oft nicht der Lernende in Argumentationsdruck, sondern der Lehrende in Argumentationsdruck der Eltern und auch der Vorgesetzten. Dies „liefert“ dem Schüler Argumente, negative Noten nach dem Motto: „Ich würde ja gerne lernen, wenn der Unterricht (oder das ,System‘) nicht so schlecht wäre“, zu begründen. Selbstverständlich muss sich die Lehrperson bei schlechten Leistungen der Schüler immer hinterfragen. Dies soll aber in differenzierter Form geschehen.
Eines ist klar: Will man die Leistungen der Pisa-Ergebnisse verbessern, muss die Verantwortung der Lernenden klar geäußert werden. Es braucht eine Kultur des Förderns und Forderns. Dazu gehört auch die grundsätzliche Anerkennung der Lehrenden als Experten. Oft wird argumentiert, dass junge Menschen grundsätzlich lernen wollen und dass sie durch Lehrende oder durch das „System“ daran gehindert werden. Der Unterrichtsalltag zeigt ein anderes Bild. Nicht immer sind alle motiviert und Unterricht kann auch nicht immer „Spaß“ machen.
Eltern
Sie sind auf vielfältige Art an der Bildung junger Menschen beteiligt. Menschen lernen schon sehr früh. Dieses Lernen sollte gefördert werden, weil es sehr wirksam ist. Da dies nicht allen möglich ist, spielt die vorschulische Pädagogik eine wichtige Rolle. Hier steht auch der Staat in der Verantwortung. Er muss
vor allem auch bei jungen Menschen mit Migrationshintergrund unterstützend tätig sein. Leider sind die Pisa-Ergebnisse, aber vor allem auch das schulische Fortkommen dieser Gruppe schlechter. Eines kann jedenfalls von allen Eltern gefordert werden, das ist das Interesse am Fortkommen ihrer Kinder. Das heißt beispielsweise, dass Kinder regelmäßig in die Schule kommen oder dass man konkret nachfragt. Eine Frage könnte lauten: Hast du den Schularbeiten-Kalender schon bekommen? Schon das Interesse am Lernen des eigenen Kindes ist unterstützend, weil es motiviert und Zuneigung zeigt. Eltern müssen ihren Kindern etwas zutrauen, sie aber auch mit realistischen Erwartungen konfrontieren, um Enttäuschungen zu vermeiden. Wohl die wichtigste Aufgabe der Eltern ist es, die Kinder in der Unterrichtssprache Deutsch zu fördern. Sehr oft ist zu hören, dass in Österreich „Bildung vererbt“ wird. Viele Eltern, die sich intensiv für das Lernen ihrer Kinder einsetzen, ärgern sich über diese Aussage, weil gute Leistungen ihrer Kinder auch das Ergebnis ihres Einsatzes sind.
Lehrpersonen
Viele Kollegen sind höchst motiviert. Einige (wenige) sind allerdings ungeeignet für die Aufgabe. Von ihnen sollte sich der Dienstgeber – nach gründlicher Prüfung – verabschieden können, weil Lehrende zu einem gewissen Maß zum Lernerfolg beitragen. Der bekannte Pädagoge Hilbert Meyer beziffert den Beitrag auf circa 25 Prozent. Er und John Hattie betonen die Bedeutung der Atmosphäre in der Klasse. Zu der tragen Lehrende, aber auch die Lernenden bei. Wir konnten über viele Jahre beobachten, dass leistungswillige Schüler die Atmosphäre und damit den Unterrichtserfolg maßgeblich beeinflussen können.
Unterrichtszeit
Nach wie vor wird in Österreich vor allem am Vormittag gelehrt. Eine Ganztagsschule mit einem abwechslungsreichen Schulalltag wäre für den Lernerfolg fördernd. Es könnten bewusst die sprach-
Zur Person MANFRED HÄMMERLE Direktor der BHAK/BHAS Bregenz im Ruhestand, ist Lehrbeauftragter an der WU Wien und der Bildungsdirektion Bozen.
liche Kompetenz, aber auch spezielle Talente gefördert werden. Es geht aber auch um eine effiziente Nutzung der Zeit. Dazu gehören so banale Dinge wie pünktliches Beginnen des Unterrichtes oder die Reduktion des Zeitverlustes aufgrund disziplinärer Probleme in der Klasse.
Gemeinsame Schule
Finnland hat bewiesen, dass die Einführung einer Schule für alle Zehnjährigen zum Erfolg führen kann, wenn sie konsequent implementiert und der Erfolg durch vorgesetzte Behörden kontrolliert wird. Der Absturz des einstiegen Vorzeigelandes bei der Pisa-Studie hat sicher nichts mit dieser Schulform zu tun. Die Ursachen werden wohl die zunehmende Inhomogenität der Schülerstruktur, die zu große Euphorie in Hinblick auf die Digitalisierung des Unterrichts und eine zu einseitige Orientierung am „selbstverantwortlichen Lernen“, das viele Schüler überfordert, sein.
In Österreich lähmt die Debatte die Diskussion. Den Befürwortern des Gymnasiums kann das Beispiel Bregenz vorgehalten werden, wo die Neue Mittelschule auf sieben (!) „Konkurrenten“ (vier AHS, eine private NMS, zwei „Spezial-NMS) trifft. Da fehlen oft die Vorbilder in der Klasse in einer „normalen“ Mittelschule, und es kann auch nicht die Rede davon sein, dass nur die „Elite“ ins Gymnasium geht. Aus Sicht der Berufsbildenden Schulen muss allerdings auch angemerkt werden, dass die Frage zu sehr im Mittelpunkt der Debatte steht. Wir konnten über die Jahre viele Absolventen der Mittelschule beobachten, die sich außerordentlich bewährt haben.
Eine gut geplante gemeinsame Schule mit einer inneren und äußeren Leistungsdifferenzierung als Schulversuch mit wissenschaftlicher Begleitung in einer Region könnte die Wirksamkeit dieser Schulform zeigen und die ideologisierte Debatte beenden.
Der zuständige Minister zeigte sich zufrieden mit den Ergebnissen, die Medien präsentierten großteils ein negatives Bild. Verschiedene Indikatoren (Jugendarbeitslosigkeit, Erfolge bei den Euroskills, NEET-Quote) zeigen, dass Österreich nicht so schlecht dasteht, aber durchaus besser werden kann. Die wichtigste Aufgabe ist die Förderung benachteiligter Gruppen, die auch ihren Beitrag leisten müssen.
FOTO: BEIGESTELLT
15 | FEBRUAR 2024 | AUSGABE 95 | THEMA VORARLBERG | BILDUNG
FHV VERMITTELT UNTERNEHMERISCHE ZUKUNFTSKOMPETENZEN
startupstube FHV – Vorarlberg University of Applied Sciences startupstube der Fachhochschule Vorarlberg als erste Anlaufstelle für Entrepreneur:innen.
In Vorarlberg zeigt sich ein ausgeprägter Unternehmer:innengeist, der durch die Verschmelzung von Tradition und Zukunftsvision geprägt ist. Einerseits bleiben traditionelle Unternehmen im Land durch Innovationen, neue Ideen und Offenheit gegenüber neuen Technologien wettbewerbsfähig. Andererseits profitieren Startups von der etablierten Wirtschaftsstruktur und dem Erfahrungsschatz in der Region. Das Startup Barometer Vorarlberg zeichnet basierend auf einer aktuellen Umfrage eine positive Stimmung für den heimischen Standort. Hervorgehoben haben die Befragten vor allem die Möglichkeiten zur Vernetzung, die kurzen Wege und die Nähe zu Kooperationspartner:innen und etablierten Unternehmen.
Zentrale Rolle der Bildung
„Unternehmer:innengeist entsteht dort, wo Erfahrung auf Neugier trifft und der Respekt vor der Vergangenheit Hand in Hand geht mit der Furchtlosigkeit, neue Wege zu beschreiten“, erläutert Magdalena Meusburger, Leiterin der startupstube und Hochschullehrerin für Entrepreneurship und Innovation an der Fachhochschule Vorarlberg (FHV – Vorarlberg University of Applied Sciences). In der Entwicklung von Zukunftskompetenzen für erfolgreiches Unternehmertum spielt die Bildung eine zentrale Rolle. Die FHV unterstützt hier mit einem praxisorientierten Lehrplan, der Innovation, Kreativität und unternehmerisches Denken fördert. „Im
Studienprogramm Internationale Betriebswirtschaft bieten wir im Bachelor die Vertiefungsrichtung Entrepreneurship & Innovation. Hier lernen die Studierenden das Gesamtspektrum von Unternehmertum und Innovation kennen und setzen ihre Kenntnisse in Praxisprojekten um“, gibt Meusburger einen Einblick.
Unternehmer:innengeist wecken
Mit gezielten Aktivitäten und Inhalten wird der Unternehmer:innengeist in den Köpfen und Herzen der Studierenden und Mitarbeitenden gefördert und verankert. Es finden impulsgebende Events, Seminare und Lehrveranstaltungen im Themengebiet Entrepreneurship und Innovation statt. Die startupstube ist die erste
Anlaufstelle für Studierende, Mitarbeitende und Alumni der FHV mit unternehmerischem Vorhaben. „Wir bieten individuelle Coachings und speziell entwickelte Kurse, die darauf abzielen, innovative Startup-Ideen nicht nur zu fördern, sondern sie aktiv auf das nächste Level zu heben“, erklärt Thomas Metzler, Co-Founder der startupstube und Hochschullehrer für Entrepreneurship, Marketing & Innovation an der FHV.
Die Unterstützung erstreckt sich auf wesentliche Bereiche der Unternehmensgründung, einschließlich der Entwicklung von nachhaltigen Geschäftsmodellen und Go-To-Market Strategien. „Wir öffnen Gründer:innen, die wir betreuen, außerdem die Türen zu unserem weitreichenden Netzwerk in Vorarlberg und
ganz Österreich“, so Metzler. In der startupstube werden jährlich etwa 30 Erstgespräche mit angehenden Startup-Gründer:innen geführt, womit seit Bestehen der startupstube über 200 Teams in der entscheidenden Ideenphase erfolgreich unterstützt wurden.
Angebot für Frauen
Mit der von Meusburger und Diana Eglseder gegründete Fempower Community gibt es ein spezielles Angebot für Frauen in der Vorgründungsphase, um unternehmerische Ideen, Initiativen und Projekte auf den Weg zu bringen. Unternehmerisches Denken und Handeln wird auch schon für Kids erlebbar gemacht. Im Rahmen des Changemaker Programms der startupstube wecken Studierende bei Volkschulkindern Interesse für wirtschaftliche Zusammenhänge und regen die Kinder mit aktiver Projektarbeit zu einer selbstbewussten Teilhabe in Wirtschaft und Gesellschaft an.
Jetzt informieren: www.fhv.at/startupstube
Nächste Events startupstube
Content Creation Workshop für Startups mit Marco Esposito
von VISAVI Interviews
Wann: 20. Februar 2024, von 14.00 bis 17.00 Uhr Wo: startupstube der FHV
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Magdalena Meusburger und Thomas Metzler im Gespräch mit den vlow.app Gründern (v.r.).
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in Vorarlberg, Wien, Graz, Wels, Salzburg und St. Gallen
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Beratung
(CH). www.hypovbg.at
HERE COMES THE SUN
Sonnenhaus 2.0 nennt sich ein Projekt in Göfis. Es ist ein Haus, in dem angewandte Forschung in Sachen Photovoltaik im Wohnbau betrieben und nach den Grenzen gesucht wird. Der Eigentümer und sein Partner, die ZM3 Immobiliengesellschaft mbH., Standort- und Projektentwicklung, Feldkirch, sammeln Daten, die auch künftigen Planungen zur Verfügung stehen.
Göfis, mitten im Grünen. Ein neues Haus, das heraussticht. Zunächst wegen der teilweise grünen Fassade, die sich beim genaueren Hinschauen als Zellen einer Photovoltaik-Anlage herausstellt. Eine senkrechte PV-Anlage an den Mauern, auf dem Dach zusätzlich die üblichen Paneele – ost-west ausgerichtet. So erzielt man den höchsten Wirkungsgrad. Horst Zimmermann nennt es das Sonnenhaus 2.0.
„Die PV-Paneele haben 40 Kilowatt peak Leistung, das ist schon ganz ordentlich für ein Zweifamilienhaus“, erzählt Hausbesitzer Horst Zimmermann. Zudem wurde ein Batteriespeicher eingebaut mit 240 Kilowattstunden. Er speichert den Überschuss an Strom, der nicht aktuell im Haus benötigt wird.
„Ich will es nochmals wissen, wo aktuell die Grenzen der Energie- Autarkie liegen“, erzählt Horst Zimmermann, Gründungsgesellschafter der ZIMA-Wohnbau.
PV-Anlagen auf dem Dach und an der Fassade, eine Sole-Wasser-Wärmepumpe, eine Erdsonde für Heizung und Kühlung sowie ein ausgeklügeltes Energiemanagement System sollen für höchste Energieeffizienz sorgen. Das ist das Energie-Gerüst der Zukunft für Horst Zimmermann. „Gerade die Kühlung mit Sonnenstrom wird in Zukunft immer wichtiger werden, im Sommer schafft die Anlage schon mit einer Absenkung von ein paar Graden eine wirklich angenehme Temperatur im Haus. Und das Beste ist: Im Sommer erzeugt die Sonne sowieso genügend Strom.“
Das Haus in Göfis ist also autark? Kann es ganz ohne Zukauf weiterer Energie auskommen? „Keineswegs“,
Von Raphaela Stefandl
Stromproduktion drastisch zurück und in der Nacht gibt es auch keine Produktion. Trotzdem brauchen die Elektrogeräte im Haus Strom.“
Im ersten vollen Betriebsjahr des Sonnenhauses 2.0 von April 2022 bis April 2023 gelang ein durchschnittlicher Autarkie-Grad von 54 Prozent. „Das ist schon ganz gut“, zeigt sich Zimmermann optimistisch. Überschüssiger Strom landete im 2800 Liter großen thermischen Speicher und ab 2022 bei der OeMAG.
Mit Sonnenstrom kennt sich Horst Zimmermann bestens aus. Während der „Ölkrise“ in den 1970er-Jahren entschied sich der Gründungsgesellschafter der ZIMA-Wohnbau für Sonnenenergie und für eine Wärmepumpe, die Arnold Feuerstein, Dorfinstallateur, damals selbst konzipierte.
„Wir waren ganz schön mutig, es war Aufbruchsstimmung“, erinnert sich Zimmermann. „Wir wussten nicht, ob das alles funktionieren wird.“ 1977 erhielten die beiden für das visionäre Projekt den Staatspreis für Energieforschung. Zimmermann realisierte in seiner aktiven Zeit eine Reihe von alternativen Energiesystemen in Wohn- und Geschäftsbauprojekten. Das absolute Herzeige-Projekt war die Wohnform Rankweil. In Zusammenarbeit mit der Vogewosi wurde die erste Wärmekraft-Koppelung-Anlage in Vorarlberg in Betrieb genommen.
„Die Photovoltaik-Technologie hat sich enorm weiterentwickelt. Deshalb will ich es nochmals wissen, wo aktuell die Grenzen der Energie-Autarkie liegen“, erzählt Horst Zimmermann. „Gemeinsam im Team loten wir das Machbare aus.“ Arnold und Samuel Feuerstein vom Dorfinstallateur sind dabei, auch Michael Metzler von der ZM3 Immobiliengruppe und das Technologieunternehmen e.battery systems.
Eines der Herzstücke im Sonnenhaus 2.0 ist der SecondLife-Energiespeicher. Seit September 2023 steht er zur Verfügung. Alle Daten werden erfasst, sie sollen dem Team wertvolle Erkenntnisse für Wohn- und Gewerbebauten bringen. Mit dem Energiespeicher soll der Sonnenstrom künftig noch besser verteilt und der Jahresautarkie-Grad im Idealfall auf bis zu 75 Prozent erhöht werden.
e.battery systems AG
Der Speicher stammt von e.battery systems AG in Wolfurt. Der Metallkasten ist bestückt mit gebrauchten Lithium-Ionen-Batterien von Elektro- und Hybrid-Fahrzeugen, die Steuerung übernimmt ein Softwareprogramm. Durch die Wiederverwendung der Batterien wird deren Lebensdauer um etwa zehn Jahre verlängert, heißt es beim Wolfurter Unternehmen; das bringt eine Kostenersparnis von 30 Prozent im Vergleich zu neuen Batterien. Die modularen Speicher beginnen bei einer Kapazität von 240 Kilowattstunden und einer Leistung von 67,5 Kilowatt.
Im Zimmermann-Haus steht die kleinste Variante des Energiespeichers in einem 19-Zoll-Serverschrank. „Die Anlage ist für das Zweifamilienhaus etwas überdimensioniert“, räumt Horst Zimmermann ein. „Wir betreiben aber echte Pionierarbeit und wollen die Grenzen des derzeit Machbaren ausloten.“ Neben der Optimierung des Eigenverbrauchs dient der Energiespeicher zur Lastspitzenkappung, unterstützt die E-Auto-Ladeinfrastruktur und sichert ab gegen Stromausfälle und Blackouts.
Welche sonstigen Erkenntnisse gibt der innovative Hausbesitzer an Interessierte weiter? Die Erfahrung habe gezeigt, dass Wandpaneele und Dachpaneele unterschiedlich effizient sind. „Im Winter, wenn der Strombedarf am größten ist, sind die senkrechten Wandpaneele durchwegs besser in der Stromproduktion als die Dachpaneele“, erklärt der leidenschaftliche Fachmann. „Diese Erkenntnisse sind besonders interessant für Objekte in höheren Lagen. Bei den Wand-Paneelen hast du keinen Schnee, der die Stromproduktion stört und somit ist der Wirkungsgrad optimal.“
Dem Eigentümer macht das Projekt sichtlich Spaß, wie sein lächelnder Blick auf das Daten-Display seines Tablets zeigt. Hier informiert er sich laufend, wie viel Strom erzeugt und wie viel verbraucht wird. „Ein tolles Gefühl!“
Zur Person
RAPHAELA STEFANDL war zehn Jahre lang SchweizKorrespondentin des ORF, seit Oktober 2021 freie Journalistin und Medientrainerin, langjährige Moderatorin und Sendungsverantwortliche von „Vorarlberg-Heute“, Redakteurin mit Schwerpunkt politische Berichterstattung.
FOTOS: BEIGESTELLT
Gerade die Kühlung mit Sonnenstrom wird in Zukunft immer wichtiger werden. Im Sommer erzeugt die Sonne sowieso genügend Strom.
17 | FEBRUAR 2024 | AUSGABE 95 | THEMA VORARLBERG | ENERGIE
UNTERBERGERS TAGEBUCH
WAS SOLLEN UNSERE POLITIKER „NACHHER“ MACHEN?
Zur Person ANDREAS UNTERBERGER
75, ist Kolumnist und schreibt unter www. andreas-unterberger.at, Österreichs meistgelesenen Internet-Blog. Er ist Jurist und hat zehn Jahre an der Universität Wien Politikwissenschaft vorgetragen. Er war 20 Jahre Außenpolitik-Journalist und 14 Jahre Chefredakteur von „Presse“ und „Wiener Zeitung“. Sein jüngstes Buch heißt „Schafft die Politik ab“.
Es ist eine lange fällige Diskussion, die wir jetzt endlich ehrlich führen sollten. Der Anlass wäre klar: Die Herren Gusenbauer und Kurz waren nach ihrer politischen Karriere unter anderem für René Benkos Imperium tätig und haben dabei Millionenumsätze gemacht – vor allem Gusenbauer, der sich überdies auch noch für ein paar mittelasiatische Diktaturen verdingt hat. Das ist, ebenso wie die Aktivitäten auch noch weiterer Politiker für den Immobilienspekulanten, sehr unerquicklich, war dieser doch schon vor seiner nunmehrigen Pleite erkennbar jemand, an den man besser nicht anstreifen sollte. Und die Diktatoren waren und sind das sowieso. Zugleich ist der Verdacht groß, dass jene Ex-Politiker bei ihren Beratungs- und Lobby-Tätigkeiten ihre in Regierungsjobs erworbenen Kontakte eingesetzt haben. Jenseits der großen Insolvenz-Debatte bleiben daher sehr politische Fragen: Kann Sebastian Kurz jemals noch in die Politik zurück (bei Gusenbauer stellt sowieso niemand diese Frage)? Was erwarten wir von unseren Politikern? Und welche Rahmenbedingen schaffen die beste Chance, dass wir die bestmöglichen bekommen, und dass sich zugleich keiner von ihnen an suspekte Auftraggeber andienert?
Rund um diese Fragen agieren die Medien ziemlich verlogen. Denn einerseits verlangen sie jetzt von allen Politikern, dass sie nach der Politik eine jahrelange Abkühlphase haben, in der sie praktisch nichts tun, außer Wohltätigkeitsbasare zu veranstalten. Andererseits waren es ebenfalls die Medien (vor allem die Kronen Zeitung zusammen mit dem Millionenerben Jörg Haider), die Ende des letzten Jahrtausends vehement die Abschaffung der früher ansehnlichen Politikerpensionen verlangt und durchgesetzt haben. Und überdies ist aus wieder anderen Gründen recht unbeliebt, wenn Menschen lebenslang in der Politik bleiben; deshalb gibt es in manchen Parteien etwa die Bestimmung, dass man
beim dritten Antreten eine qualifizierte Mehrheit braucht.
Was aber sollen nun ehemalige Politiker konkret tun, wenn sie sich nicht in Salzsäure auflösen und wenn sie sich nicht mit einem Straßenkehr-Job abfinden wollen?
Das ist nicht nur eine persönliche Frage für sie selbst. Denn viele Politiker haben in steuerfinanzierten Jobs einen wertvollen Schatz an Wissen und Können angesammelt, den es eigentlich im Interesse der Gesellschaft zu nutzen gilt.
Ein Beispiel? So wäre der Wechsel aus der Politik in die Wissenschaft für alle Seiten ein Gewinn – vor allem für Studenten und Universitäten. Es ist hundertprozentig sicher, dass Ex-Politiker Politik-Studenten viel mehr beibringen könnten als die wirklichkeitsfremden Ideologen, die dort ihr Unwesen treiben. Einen ähnlichen Gewinn könnte es auch für Wirtschafts-, Zeitgeschichte-, Publizistik-Studien oder die Rechtswissenschaften geben. Speziell amerikanische Spitzenunis reißen sich um Ex-Politiker, die bereit sind, ihre Erfahrungen mit den Studenten zu teilen. Ähnliches gilt für die Diplomatie.
Eigentlich bräuchten wir ein unabhängiges Gremium, das bei jeder Berufswahl eines ausgeschiedenen Politikers während der ersten fünf Jahre nach Mandat oder Ministeramt seinen Segen oder seine Ablehnung aussprechen muss, je nach konkreter Tätigkeit. Aber bei jeder Variante, die besser ist als die gegenwärtige Situation, wird eines unumgänglich: Wenn wir aus guten Gründen anfangen, Politikern eine längere Abkühlphase zu verordnen, in der sie bestimmte Berufe nicht ergreifen dürfen, dann müssen wir ihnen dafür auch einen ordentlichen Bezug während dieser Phase garantieren. Entgegen der primitiven Stammtisch- und Journalisten-Attitüde: In Sack und Asche mit ihnen! Österreich sollte über all die hier angeschnittenen Aspekte und Ideen eingehend diskutieren. Denn ein besserer Umgang mit Politikern brächte uns auch bessere Politiker.
Aber ebenso sicher ist, dass diese Diskussion nicht stattfinden wird. Denn alle Parteiapparate sind nur daraufhin konditioniert, die anderen anzupinkeln. Würde ein Politiker einen Vorstoß in die skizzierten Richtungen machen, wird er schon als Abkassierer hingestellt. Alle fürchten die Kronenzeitungs-Schlagzeile (obwohl sich deren Leserquote praktisch halbiert hat): „Jetzt erhöhen sich die Politiker auch noch die Pensionen.“
Dennoch wäre es richtig. Denn es geht ja vor allem darum, anständige junge Menschen zum Einstieg in die Politik und zum Dienst an der Allgemeinheit zu motivieren, wofür die Perspektive der persönlichen Lebensplanung neben einigen anderen Faktoren jedenfalls sehr wichtig ist.
Ein besserer Umgang mit Politikern brächte uns auch bessere Politiker.
Genauso wichtig wäre es freilich auch, wenn Nachwuchspolitiker schon VOR der politischen Karriere etliche Erfahrung in einem ganz normalen Beruf gesammelt hätten, der außerhalb des geschützten, direkt oder indirekt von Steuern lebenden Sektors liegt. Das wäre übrigens auch für andere wichtige Berufe sehr wünschenswert: für Richter etwa oder Lehrer. Wie sollen Letztere den Jugendlichen ein realistisches Weltbild vermitteln, wenn sie ihr ganzes Leben immer nur in Klassen und Hörsälen verbracht – und dort lediglich die Plätze gewechselt haben?
Zurück zur anfangs gestellten Frage nach einer Rückkehr von Kurz in die Politik. Da muss die wahrscheinliche Antwort erstmals lauten: Nein, er wird nicht mehr zurückkehren – auch wenn außer vielleicht dem Finanzminister niemandem unter den gegenwärtigen Schwarzen so etwas wie eine positive Ausstrahlung zuzuschreiben ist. Einziger Trost für die ÖVP: Auch bei den anderen Parteien herrscht totale Ebbe an herzeigbaren Persönlichkeiten.
All das sind Gründe auch für die Parteien, mehr über die direkte Demokratie nachzudenken. Was sie aber im Glauben an die eigene Wichtigkeit natürlich weiterhin nicht tun werden.
FOTOS: THINKSTOCK, BEIGESTELLT
Eine ausführlichere Version des Artikels finden Sie auf www. andreas-unterberger.at
TAGEBUCH | THEMA VORARLBERG | AUSGABE 95 | FEBRUAR 2024 | 18
ES WAR SCHON SCHLIMMER?
Von Markus Hagen
Das Jahr 2024 wird ein hartes Jahr für die österreichische Immobili en- und Bauwirtschaft. Was Ar chitekten, Bauträger, Banker und Mak ler schon seit Monaten spüren, kommt nun zeitverzögert auch bei jedem kleinen Handwerksbetrieb an: Auf den Baustel len des Landes geht nicht mehr viel. Zu groß ist die finanzielle Ver unsicherung bei den Men schen, zu groß die finanzielle Hürde, Eigentum anzuschaffen. Warum? Eine einfache Rechnung zeigt die eklatante Schieflage, mit der neue Eigentümer konfrontiert sind. Für eine 3-Zimmer-Neubauwohnung mit 74 Quadratmetern Wohnfläche und 150 Quadratmetern Garten sind 550.000,– Euro aufzubringen. Hinzu kommen rund 35.000.–Euro Nebenkosten und 28.000,– Euro für einen Auto-Abstellplatz. Gesamt kosten: 613.000,– Euro. Geht man davon aus, dass noch eine Küche und ein paar Einrichtungsge genstände dazu kommen, summiert
Rechtsanwalt Markus Hagen ist Präsident der Vorarlberger Eigentümervereinigung.
sich die Gesamtinvestition auf 650.000,–Euro. Und die Finanzierung? Hier fangen die Bauchschmerzen wirklich an. Laut KIM-Verordnung sind 20 Prozent Eigenmittel erforderlich – im konkreten Fall 130.000,– Euro. Bei einer Laufzeit von 30 Jahren ergibt sich dadurch aktuell eine monatliche Rückzahlungsrate von rund 2700,– Euro. Die Rate darf aber maximal 40 Prozent des Nettohaushaltseinkommens ausmachen. Heißt: Ein Paar, das sich diese Wohnung kaufen will, muss gemeinsam netto mindestens 6750,– Euro pro Monat verdienen, um sie sich leisten zu können. Wie viele junge Vorarlberger zu Beginn ihres Erwerbslebens mehr als 3000,– Euro netto pro
Falsch verstandene „Musterschüler-Mentalität“
Vorarlberg wird sich in Zukunft einer steigenden Zahl an Umweltverträglichkeitsprüfungen stellen müssen, sei es nach landes- oder bundesgesetzlichen Vorschriften. Eine Anpassung der landesrechtlichen Vorschriften an vorgelagerte Regelungen ist notwendig, um die Verfahren unions- und völkerrechtskonform durchführen zu können.
Die Ausweitung der verfahrenstechnischen Rechte von Umweltorganisationen bei Bewilligungsverfahren wird daher aktuell auf Landesebene diskutiert. Dabei geht es um die verfahrenstechnischen – nicht aber die inhaltlichen – Rechte von in Österreich anerkannten Umweltorganisationen.
Sollten Unternehmerinnen und Unternehmer in Vorarlberg nun aber geglaubt haben, dass ihre in den vergangenen Jah-
ren immer lauter vorgebrachten Forderungen hinsichtlich kürzeren und unkomplizierteren Bewilligungsverfahren und weniger Bürokratie erhört werden, so werden sie mit diesem Gesetzesvorschlag enttäuscht.
Besonders den geplanten Wegfall der Präklusion sehen wir kritisch. Angemessene Fristen helfen, zeitraubende Wiederholungen und Verfahrensverschleppungen durch bewusst späte Vorbringungen zu unterbinden. Fällt das weg, kann das zu erheblichen Verfahrensverzögerungen führen. Zudem entspricht das keineswegs dem Grundsatz der Zweckmäßigkeit, Raschheit, Einfachheit und Kostenersparnis.
Jede Umweltorganisation und die betroffene Öffentlichkeit sind angehalten, sich rechtzeitig mit ihren Bedenken ge-
gen das Vorhaben an die Behörde zu wenden. Den sehr gut organisierten Umweltorganisationen ist es sehr wohl auch weiterhin zumutbar, sich bereits in erster Instanz an einem Bewilligungsverfahren zu beteiligen.
Damit stellen wir die Bedeutung von Umweltorganisationen keineswegs in Abrede, vor allem dann nicht, wenn es darum geht, Wege aufzuzeigen, wie man Dinge umwelttechnisch und ökologisch besser machen kann. Aber noch mehr Rechte in die Hand zu bekommen, mit denen die Wirtschaft und damit unsere Unternehmen behindert werden, ist nicht akzeptabel.
Wird die Novelle umgesetzt, übererfüllen wir einmal mehr EU-Vorgaben. Dieses „Gold Plating“ führt zu weiteren bürokratischen Belastungen und ist ein
Monat verdienen, kann sich jeder selbst ausmalen.
Wenig überraschend also, dass die Vergabe von Wohnkrediten um mehr als 50 Prozent eingebrochen ist. Aber es war auch schon schlimmer. Wie die RBI (Raiffeisenbank International) in einer jüngsten Analyse feststellen konnte, musste man 1992 70 Prozent des Haushaltseinkommen für die Finanzierung einer Wohnung aufwenden, während es heute im Schnitt 55 Prozent sind. Die Zinsen beliefen sich damals auf zehn Prozent und waren somit zweieinhalb Mal höher als heute. Auch die gestiegenen Ansprüche an das Wohnen lassen die Preise steigen, was wir oft vergessen. Wir müssen eben wieder lernen, den Gürtel etwas enger zu schnallen, das hören viele nicht gerne. Dennoch ist die Politik weiterhin gefordert. Gerade die überschießende KIM-Verordnung blockiert nicht nur Junge, die Eigentum anschaffen wollen. 2024 wird in Vorarlberg gewählt. Warten wir ab, ob es in Vorarlberg gelingen wird, strukturelle und zukunftsweisende Ideen aufzugreifen und umzusetzen.
Dieser Text ist zuvor im Magazin der Vorarlberger Eigentümervereinigung „Haus & Grund“ erschienen. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.
Hemmschuh im internationalen Wettbewerb. Anstelle einer „Musterschüler-Mentalität“ mit Übererfüllung von EU-Recht braucht Österreich mehr Freiräume. Wie sagte es doch Präsident Wilfried Hopfner so passend: „Europa und auch Vorarlberg müssen aufpassen, nicht zu einem ökologischen Riesen und zu einem ökonomischen Zwerg zu werden.“
19 | FEBRUAR 2024 | AUSGABE 95 | THEMA VORARLBERG | WIRTSCHAFT
Zur Person CHRISTOPH JENNY Direktor der Wirtschaftskammer Vorarlberg
FOTOS: MARKUS GMEINER, DIETMAR WALSER
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Betriebswirtschaft
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Sie möchten sich fundierte betriebswirtschaftliche Kenntnisse aneignen und wissen, wie Unternehmen und Märkte funktionieren? Mit diesem Lehrgang gewinnen Sie ein fundiertes Verständnis, Sie lernen unternehmerisch zu handeln und stärken so Ihre Position in Ihrem Unternehmen.
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Diverse Trainer:innen
Trainingseinheiten: 102
Beitrag: € 2.165,-
Termin
26.2 - 13.6.2024
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Kursnummer: 23510.15
Barista Basics mit Röstereibesichtigung
Inhalt
Eine Einführung in die Welt des Kaffees. Lernen Sie, wie man einen echten Espresso mit einer Siebträgerkaffeemaschine herstellt und daraus einen leckeren Cappuccino, Cafe Latte, Cafe Americano und weitere italienische Kaffeespezialitäten kreiert.
Trainerin Christina AmannThurnher
Trainingseinheiten: 8
Beitrag: € 310,- inkl.
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Termin 18.3.2024
Mo 8:00 - 17:00
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Kursnummer: 77513.15
Online-Info-Abend
Executvie MBA
Business Manager:in - Unilehrgang
Inhalt
Bereit zum Sprung in die Managementebene?
Der Universitätslehrgang „Executive MBA Business Manager:in“ am WIFI Vorarlberg zündet Ihren Karriereturbo mit aktuellem FührungsKnow-how. Mit dem Unilehrgang können Sie es bis ganz an die Spitze schaffen - berufsbegleitend in vier Semestern zum Executive MBA (EMBA).
Trainer Prof. Dr. Gernot Mödritscher
Trainingseinheiten: 1,5
Beitrag: kostenlos
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7.2.2024
Mi 17:30 - 19:00 Uhr
Online
Kursnummer: 12508.15
Lehrgang Krisenmanagement
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Eine Krise ist eine absolute Stresssituation für die Organisation, unabhängig ob diese von externen oder internen Ursachen ausgelöst wurde. Diese Ausnahmesituation kann mit bestehenden Strukturen und Prozessen nicht zweckmäßig gemanagt werden. Die Vorgehensweise in der Krise entscheidet aber über den Fortbestand der Organisation.
Trainer:innen Diverse Trainer:innen
Trainingseinheiten: 24 Beitrag: € 990,- zzgl. Prüfungsgebühr € 400,-
Termin
25.4 - 10.5.2024
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Weitere WIFI-Kurstipps:
Einnahmen-Ausgaben-Rechnung Basis
Dornbirn, 1.3.2024, Fr 9:00 - 17:00 Uhr, 8 Trainingseinheiten, € 335,-, K.Nr. 28525.15
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Dornbirn, 13. - 14.3.2024, Mi + Do 18:00 - 22:00 Uhr, 8 Trainingseinheiten, € 315,-, K.Nr. 23517.15
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Dornbirn, 7. + 8. + 22.3.2024, Do + Fr + Fr 9:00 - 17:00 Uhr, 24 Trainingseinheiten, € 680,-, K.Nr. 12523.15
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Dornbirn, 14. + 15.3.2024, Do + Fr 9:00 - 17:00 Uhr, 16 Trainingseinheiten, € 445,-
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WIFI | THEMA VORARLBERG | AUSGABE 95 | FEBRUAR 2024 | 20
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IM RÜCK-SPIEGEL
IM RÜCK-SPIEGEL
Vorarlbergs Wirtschaft im Dezember 2023 und Jänner 2024
Von Herbert Motter
Lichtspezialist und Hauptlieferant Zumtobel stattet Frankfurts inno vatives Bauprojekt, die vier Hochhäu ser FOUR Frankfurt, mit einer maßge schneiderten Beleuchtung im Innenund Außenbereich aus. Realisiert wird das Projekt von der Groß & Partner Grundstücksentwicklungsgesellschaft mbH. Mit den vier ikonischen Hochhäusern – mit einer Höhe von bis zu 233 Metern –erhält die Main-Metropole ein neu es, innerstädtisches Quartier zur mul tifunktionalen Nutzung. Die Bauarbei ten laufen seit 2019, bis 2025 sollen die Türme weitestgehend bezugsfertig sein.
Der international tätige Verpackungsund Recyclingspezialist ALPLA schließt das Geschäftsjahr mit einem Umsatz von 4,7 Milliarden Euro ab. Gesunkene Material- und Energiekosten sorgten in Verbindung mit Wechselkurseinflüssen für einen moderaten Rückgang des Um satzes. Die Wertschöpfung blieb stabil. Starkes Wachstum in Afrika stand einer schwächeren Nachfrage in Nord- und Zentralamerika sowie China gegenüber. Beim Einsatz von Recyclingmaterial in seinen Produkten ist ALPLA auf Kurs in Richtung 25 Prozent.
Mit einem beeindruckenden Umsatz wachstum von 16,3 Prozent auf 158 Millionen Euro und neuen Innovationen setzt das Unternehmen Henn Connector Group seinen Expansionskurs fort. Das Jahr 2024 steht ganz im Zeichen von Transformation, Digitalisierung und Expansion.
ratmetern realisiert.
Auch Meusburger ist trotz aktueller Herausforderungen am Markt weiterhin Vorreiter im Werkzeug- und Formenbau. Der Normalienhersteller setzt auch dieses Jahr darauf, seine Kernkompetenzen weiter zu optimieren, um seine Position als Marktführer auszubauen. Im Jahr 2023 verzeichnete Meusburger einen Umsatz von 327 Millionen Euro.
HERBERT MOTTER
Stellvertretender Chefredakteur
Thema Vorarlberg
Am Newark Liberty International Airport (New Jersey/USA) plant die „Port Authority New York and New Jersey“ die Umsetzung einer neuen Mobilitätslösung. In einem mehrstufigen Vergabeprozess wurde Doppelmayr nun als der favorisierte Partner für die Umsetzung eines Cable Liners® ausgewählt. Im nächsten Schritt wird Doppelmayr gemeinsam mit der Port Authority weitere Rahmenbedingungen für die Projektumsetzung festlegen – mit dem Ziel, den neuen AirTrain Newark 2029 in Betrieb zu nehmen.
Die Rondo Ganahl AG wurde auch in diesem Jahr wieder mit einem der begehrten WorldStar Packaging Awards ausgezeichnet. Die Verpackung für Verbindungsträger überzeugte die Jury in
Der WorldStar Packaging Award wird auch als „The Oscars of Packaging” bezeichnet und gilt als wichtigster Verpackungspreis der Branche. Für den diesjährigen Wettbewerb wurden 435 Innovationen aus 41 Ländern eingereicht.
Vor 60 Jahren begann die Erfolgsgeschichte von Dorner in Egg. Angetrieben vom Pioniergeist der Gründer entwickelte sich das Bregenzerwälder Familienunternehmen vom regionalen Elektrobetrieb zum internationalen Technologiepartner für Betonhersteller. Mit Jahresbeginn bilden Kilian Dorner und Matthias Droop das neue Führungsteam.
Neue Geschäftsführer hat seit vergangenen Dezember auch die Feuerstein Gruppe in Nüziders. David Hager übernahm die Geschäftsführung für Technik
und Winfried Brandstätter die Geschäftsführung für Montage und Kundenservice des marktführenden Traditionsunternehmens in der Tischlerbranche.
Der Mercedes- und Smart-Handelspartner Schneider Automobil mit Hauptstandort in Dornbirn-Schwefel übernahm im Zuge einer Nachfolgevereinbarung das benachbarte Autohaus Blum Sämtliche Anteile des seit bald 65 Jahren bestehenden Autohaus Blum GmbH & Co KG gehen dadurch an die Schneider Automobil GmbH Sämtliche Markenverträge bleiben aufrecht, für die Kundinnen und Kunden ändert sich nichts.
Ralf Oesingmann, der frühere Geschäftsführer von Meier Verpackungen in Hohenems, hat sich mit seinem Unternehmen MFLEX Verpackungen selbstständig gemacht und verkauft jetzt flexible Verpackungen für die Lebensmittelindustrie. Die Gründung erfolgte im Spätherbst 2023.
Mit 1200 Ausstellern und rund 120.000 Besucherinnen und Besuchern konnte sich das Messequartier Dornim vergangenen Jahr erneut als bedeutende Plattform zur Förderung der regionalen Wirtschaftsentwicklung behaupten. Den Jahresumsatz steigerte die Messe Dornbirn 2023 trotz schwieriger Marktverhältnisse im Vergleich zum Vorjahr leicht auf 5,1 Millionen Euro.
Rundum neu eröffnete das altehrwürdige Posthotel Taube in Schruns vergangenen Dezember als Vier-Sterne-Superior Hotel wieder seine Pforten. Vorausgegangen waren zweieinhalb Jahre, in denen das historische Gebäudeensemble von Rhomberg Bau als Generalunternehmen grundlegend saniert und erweitert wurde.
Die erfolgreiche Übernahme des ehemaligen Bregenzer Installationsunternehmens Bechter GmbH markiert einen weiteren Meilenstein des Dorfinstallateurs. Sie bietet eine Fortführungslösung für die bewährte Mannschaft, bestehend aus 19 qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, darunter auch sechs Lehrlingen.
FOTOS: ZUMTOBEL GROUP, STUDIO FASCHING 21 | FEBRUAR 2024 | AUSGABE 95 | THEMA VORARLBERG | WIRTSCHAFT
Zumtobel ist Lichtpartner von FOUR Frankfurt.
DIE FAULE GENERATION –NUR EIN MYTHOS
Von Andreas Dünser
Sind die Jungen, die Vertreter der Generationen Y und Z, tatsächlich so faul und arbeitsunwillig, wie medial stets kolportiert? Sind, wie ein deutscher Headhunter in einem Interview sagte, fehlende Arbeitsmoral, hohe Gehaltsforderungen und mangelnde Leistungsbereitschaft tatsächlich die Charakteristika dieser Generationen? Und unterschied sich bereits die Generation X in ihrer Arbeitsmoral negativ von den Babyboomern?
Martin Schröder, Soziologieprofessor an der Universität des Saarlandes, hat sich dieser Frage nun mit wissenschaftlichem Verve gewidmet und kommt – wie auf der Homepage der Universität nachzulesen ist – nach der Untersuchung von „hunderttausenden Datensätzen aus vier Jahrzehnten“ – zu einem ganz anderen Schluss: „Ich habe nichts gefunden, was darauf hindeutet, dass die Einstellung zu Arbeit und Beruf tatsächlich mit dem Geburtsjahr zusammenhängt.“ Soll heißen: Wie jemand zur Arbeitswelt steht, ist keine Frage des Geburtsjahres. Hier die faulen Jungen mit ihrer 20-Stunden-Woche, die von einem Strand aus mit dem Laptop arbeiten, dort die Mitfünfziger-Boomer, kurz vorm Burnout, dieses medial oft gezeichnete Bild ist für den Wissenschaftler „allenfalls ein Klischee, aber nicht mehr“.
Schröder zufolge variiert das Verhältnis zur Arbeit viel weniger nach der
Generationszugehörigkeit als nach der jeweiligen individuellen Lebenslage: „Es kommt auf den Zeitpunkt an, in welchem Lebensabschnitt die Menschen nach ihrer Leistungsbereitschaft und ihrer Einstellung zur Arbeit gefragt werden.“ Auch würden die Daten – ab 1981 wurde über 40 Jahre hinweg die Berufseinstellung von mehr als einer halben Million Menschen in 113 Ländern erfasst – zeigen: Dass die Bedeutung, die Arbeit zugemessen wird, generationenunabhängig zuerst steigt und mit zunehmendem Alter sinkt. Und dass uns allen, egal ob wir 15 oder 50 sind, die Arbeit heute nicht mehr ganz so wichtig ist, wie sie der Gesellschaft vor 50 Jahren noch war: „Wir denken heute alle anders als früher.“ Laut dem Wissenschaftler lassen sich aus den Daten auch keine Generationenunterschiede in Bezug auf die subjektiv empfundene Wichtigkeit von Freizeit, guten Arbeitszeiten oder interessanten Aufgaben ableiten. Und warum hält sich die Mär von den Generationsunterschieden in der Arbeitswelt trotzdem so hartnäckig? Unter anderem deswegen, weil Menschen mit dieser Behauptung Geld verdienen, sagt Schröder: „Diese ‚Jugendforscher‘
Im Land der Lehre
Dass die duale Ausbildung in Vorarlberg unverändert ein wichtiger Ausbildungsweg für Jugendliche ist, das zeigt die Lehrlingsstatistik der Wirtschaftskammer Vorarlberg für das vergangene Jahr: Demnach waren mit Ende 2023 insgesamt 6664 Lehrlinge in einem aufrechten Lehrverhältnis, zudem absolvierten 71 Personen ihre Ausbildung gemäß dem Berufsausbildungsgesetz in der sogenannten Teilqualifikation. 48,73 Prozent der 15-Jährigen in Vorarlberg haben sich 2023 für eine Lehre entschieden, insgesamt wurden 3282 neue Lehrverträge abgeschlossen (-0,27 Prozent im Vergleich zu 2022). Doch scheint die Lehre weiterhin männ-
lich zu sein: Zwei Drittel der 15-Jährigen, die im Vorjahr in eine duale Ausbildung eingetreten sind, waren Burschen und nur ein Drittel Mädchen.
Warum aber entscheiden sich mehr Burschen für eine Lehre? Wie Thomas Mayr, Geschäftsführer des Instituts für Bildungsforschung der Wirtschaft, im März 2023 dieser Zeitung sagte, handle es sich bei einem Großteil der Lehrausbildungen um technisch gewerbliche Berufe, und damit um Berufe, für die sich Burschen traditionell stärker interessieren. Laut Mayr kommen – auch hier –gesellschaftlich verankerte Geschlechterrollen zum Tragen: „Sowohl bei Mäd-
chen als auch bei Burschen kommt es vor, dass sie sich aufgrund gelernter Rollenbilder selbst selektieren und in eine gewisse Richtung entwickeln. In Folge sehen wir dann eine Überrepräsentanz der männlichen Jugendlichen in den technischen Berufen und eine Unterrepräsentanz dieser bei manch anderen Lehrausbildungen.“ An dieser Stelle wird übrigens im Rahmen der MINT-Strategie angesetzt, bereits in frühem Alter soll das Interesse auch von Mädchen an Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik stärker gefördert werden.
Die Top-Lehrberufe bei den weiblichen Lehrlingen in Vorarlberg sind ge-
ignorieren wissenschaftliche Erkenntnisse, die ihrem Geschäftsmodell widersprechen, weil ihr Einkommen davon abhängt, dass sie weiterhin ‚generationensensible‘ Coachings, Bücher und Vorträge verkaufen.“
Die „NZZ“ urteilte übrigens mit kritischem Blick auf die Autoren, die aus den GenerationenDiagnosen ein einträgliches Genre gemacht haben: „Das Praktische war, dass man nie eine Meinung haben musste, sondern einfach sagen konnte, dass eine Gruppe von Menschen das aufgrund ihres Lebensalters eben so sieht.“
Die faule Generation, ein Mythos. Geht es nach Martin Schröder, sind die populären Annahmen, die Generationen würden sich in ihrer Einstellung zur Arbeitswelt unterscheiden, widerlegt.
Originalpublikation: Schröder, M. Work Motivation Is Not Generational but Depends on Age and Period. J Bus Psychol (2023).
Die Generationen, eingeteilt nach den Geburtsjahren:
Babyboomer geboren 1945 bis 1964
Generation X geboren 1965 bis 1980
Generation Y geboren 1981 bis 1995 und
Generation Z geboren 1995 bis 2010
Generation Alpha ab 2011
Von Sabine Barbisch und Andreas Dünser
mäß der aktuellen Lehrlingsstatistik: Einzelhandelskauffrau, Bürokauffrau und Metalltechnikerin; gefolgt von Friseurin (Stylistin), Pharmazeutisch-kaufmännische Assistentin, Hotel- und Gastgewerbeassistentin, Restaurantfachfrau, Verwaltungsassistentin, Elektrotechnikerin und Betriebslogistikkauffrau. Bei den männlichen Lehrlingen sind die Berufe Metalltechniker, Elektrotechniker und Kraftfahrzeugtechniker am beliebtesten. Dahinter folgen Installations- und Gebäudetechniker, Einzelhandelskaufmann, Mechatroniker, Zimmerer, Koch, Informationstechnologe (Systemtechnik) und Betriebslogistikkaufmann.
FOTO: ISTOCKPHOTO ÜBERBLICK | THEMA VORARLBERG | AUSGABE 95 | FEBRUAR 2024 | 22
FEHLVERHALTEN IM BERUF UND DIE UNTERSCHIEDLICHEN FOLGEN FÜR MÄNNER & FRAUEN
Auf Arbeitsmärkten gibt es nach wie vor Unterschiede zwischen Männern und Frauen im Hinblick auf deren Gehälter und Aufstiegschancen. Gilt das auch im Hinblick auf Sanktionen im Fall von Fehlverhalten? Daten aus der Finanzbranche lassen diesen Schluss zu.
Von Matthias Sutter
Zur Person MATTHIAS SUTTER
* 1968 in Hard, arbeitet auf dem Gebiet der experimentellen Wirtschaftsforschung und Verhaltensökonomik, ist Direktor am Max Planck Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern in Bonn und lehrt an den Universitäten Köln und Innsbruck.
Der Harder war davor auch an der Universität Göteborg und am European University Institute (EUI) in Florenz tätig. Bekannt wurde er durch seine Bestseller „Die Entdeckung der Geduld“ und „Der menschliche Faktor oder worauf es im Berufsleben ankommt“.
In meinen vergangenen Beiträgen habe ich über Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen, die Auswirkungen von Gehaltstransparenz oder Bedeutung von weiblichen Führungskräften geschrieben. Grob zusammengefasst ging es also um Gehälter und Aufstiegschancen von Frauen und Männern. Diese sind in vielen Fällen und Branchen nach wie vor nicht gleich und sowohl politische Entscheidungsgremien als auch Unternehmen versuchen, Fortschritte bei der Gleichstellung zu machen. Im Vergleich zu früheren Jahrzehnten ist schon viel erreicht, aber am Ziel sind wir als Gesellschaft ziemlich sicher noch nicht.
Während aber Fragen von ungleichen Gehältern oder Aufstiegschancen zwischen Männern und Frauen relativ viel mediale und politische Aufmerksamkeit bekommen, sind andere Aspekte von Geschlechterunterschieden auf Arbeitsmärkten nach wie vor zu wenig erforscht und auch zu wenig bekannt. Das betrifft beispielsweise die Frage, ob es Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt, wenn sie sich in einer Firma eines Fehlverhaltens schuldig gemacht haben. Man würde spontan denken, dass es bei gleichen Verfehlungen und gleichen Tätigkeiten eigentlich keinen Unterschied machen sollte, ob ein Mann oder eine Frau die Verfehlung begangen hat. Eine aktuelle Studie von Mark Egan, Gregor Matvos und Amit Seru zeigt, dass dem aber nicht so ist.
Egan und Koautoren werteten Daten der amerikanischen „Financial Industry Regulatory Authority“ (FINRA) aus den Jahren 2005 bis 2015 aus. Die FINRA erfasst sehr detaillierte Daten über Finanzberater (Broker, Investmentberater, und dergleichen) in US-amerikanischen Finanzfirmen. Insbesondere gelten strenge Berichtspflichten im Hinblick auf Fehlverhalten von Finanzberatern. Dazu zählen beispielsweise das Handeln ohne Einverständnis des Klienten, das mehrmalige Kaufen und Verkaufen, um die Kommissionen zu erhöhen, die falsche Darstellung von Investment-Risiken oder auch Betrug am Kunden. Firmen sind zum Melden solchen Fehlverhaltens verpflichtet, weil andernfalls hohe Strafen drohen. Dadurch enthält die Datenbank der FINRA sehr detaillierte Aufzeichnungen über mögliches Fehlverhalten von Finanzberatern. Zusätzlich sind Daten über die Karrierewege, Jobwechsel, Kündigungen, Beförderungen et cetera vorhanden.
In der Studie von Egan und Koautoren wurden die Daten von rund 1,2 Millionen Finanzberatern verwendet. Die Autoren waren daran interessiert, ob Fehlverhalten von Männern und Frauen – selbst wenn es sich um die gleiche Art handelt – zu unterschiedlichen Konsequenzen führte. Insgesamt hatten sieben Prozent der 1,2 Millionen analysierten Finanzberater einen Eintrag wegen Fehlverhaltens. Im Durchschnitt führte solches Fehlverhalten zu einer Entschädigungszahlung von über 500.000 Dollar von der Firma des betreffenden Beraters an den betroffenen Klienten. Es ging also nicht um Kleinigkeiten. Von den 1,2 Millionen Beratern waren ungefähr drei Viertel Männer und ein Viertel Frauen. Die Wahrscheinlichkeit von Fehlverhalten war deutlich geringer bei Frauen – nur drei Prozent von ihnen hatten einen Eintrag – als bei Männern, bei denen neun Prozent ein Fehlverhalten gezeigt hatten. Auch die Wahrscheinlichkeit, dass nach einem registrierten Fehlverhalten innerhalb von zwölf Monaten ein weiteres folgte, war ungefähr doppelt so hoch bei Männern wie bei Frauen. Angesichts dieser Daten könnte man vermuten, dass Männer häufiger nach einem Fehlverhalten ihre Stelle verlieren würden als Frauen, bei denen deutlich weniger
Fehlverhalten festgestellt wurde. Zudem ist das Ausmaß des Fehlverhaltens bei Frauen nicht größer; ganz im Gegenteil, Männer begehen im Schnitt sogar schwerwiegendere Verstöße.
Trotzdem verloren Männer mit Fehlverhalten nur in 46 Prozent der Fälle ihre Stelle, während das bei 55 Prozent der Frauen zutrifft. Das macht einen Unterschied in der Kündigungswahrscheinlichkeit von circa 20 Prozent zuungunsten von Frauen aus. Die schlechtere Behandlung von Frauen war besonders stark in Firmen, in denen im Top-Management (auf der Vorstandsebene) keine Frauen saßen. Waren im Top-Management hingegen im Wesentlichen gleich viele Männer wie Frauen vertreten, unterschieden sich die Kündigungswahrscheinlichkeiten bei Fehlverhalten nicht mehr zwischen männlichen und weiblichen Finanzberatern.
Dieses Ergebnis deutet daraufhin, dass Männer im Top-Management ihren Geschlechtsgenossen systematisch mehr nachsehen als Frauen. Damit ist auch ein weiteres wichtiges Ergebnis der Studie von Egan und Koautoren erklärbar. Männliche Finanzberater, die aufgrund eines Fehlverhaltens gekündigt wurden, fanden in 47 Prozent der Fälle innerhalb eines Jahres einen neuen Job in der Finanzbranche. Bei weiblichen Finanzberatern liegt dieser Anteil nur bei 33 Prozent. Frauen mit Fehlverhalten verlieren also nicht nur häufiger ihren Job, sondern sie finden auch weniger schnell wieder einen neuen. Die Autoren erklären diese Ergebnisse im Wesentlichen durch bevorzugte Behandlung von Männern durch andere (einflussreiche) Männer, während Frauen diese wichtigen Netzwerke häufiger fehlen würden. Auch das ist eine Form ungleicher Behandlung von Männern und Frauen auf Arbeitsmärkten, wenngleich eine seltener wahrgenommene als wenn Männer mehr verdienen als Frauen oder schneller die Karriereleiter hinaufsteigen.
23 | FEBRUAR 2024 | AUSGABE 95 | THEMA VORARLBERG | FORSCHUNG
FOTOS: MARC THÜRBACH, ISTOCKPHOTO
VORARLBERG IN ZAHLEN
Von singenden Königen, Unfällen in den Bergen, der Kinderbetreuungsquote, selbstverteidigenden Vorarlbergern, leistbarem Essen und wachsenden Gemeinden – Fakten zu Vorarlberg.
Von Herbert Motter
HÖRBRANZ hatte bis 1935 kein Wappen.
RANKWEIL hat 125 Vereine.
ZÜRS 1906 bot Skipionier Viktor Sohm den ersten Skikurs für Einheimische an.
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In Vorarlberg sind im Jahr 2023 bei Unfällen in den Bergen 17 Menschen ums Leben gekommen. Bunt gemischt
Ranking
WACHSTUMSRATEN
Heuer beteiligten sich wieder rund 4000 Mädchen und Burschen an der landesweiten Sternsingeraktion.
Im Dezember 2023 musste die Bergrettung in Vorarlberg 32 Mal ausrücken.
Kinderbetreuungsquote
Nahezu 100 Prozent aller 4- und 5-Jährigen, über 90 Prozent der 3-Jährigen und rund 35 Prozent der Unter-3-Jährigen besuchen eine Kinderbetreuungseinrichtung. Damit liegt Vorarlberg bei den Unter-3-Jährigen an dritter Stelle nach Wien und dem Burgenland.
Mehr als 20.500 Menschen haben 2023 das Jüdische Museum in Hohenems besucht.
Städte/Gemeinde Vorarlberg 2023 in zehn Jahren/Personen
HOHE SCHADENSSUMME
Um gesamthaft 3,3 Millionen Euro sind
ABTREIBUNGEN wurden am LKH Bregenz zwischen November 2023 und Anfang Jänner 2024 durchgeführt.
GESUNDES, REGIONALES UND LEISTBARES ESSEN
Im Jahr 2024 stehen aus Erlösen der IllwerkeHeimfallsrechte 1,5 Millionen Euro zur Verfügung, um Gemeinden zu fördern, die an ihren Volksschulen eine „körige“ Ernährung bieten. 40 der 96 Vorarlberger Gemeinden haben bereits ihr Interesse bekundet.
FAKTEN | THEMA VORARLBERG | AUSGABE 95 | FEBRUAR 2024 | 24
01 02 03 04 05
06 Quelle: Bundesministerium für Inneres
1] Dornbirn +4911
2] Feldkirch +4845
3] Lustenau +2560
4] Hohenems +1740
5] Götzis +1234 ÖBB-BAUPROGRAMM FOTOS: ÖBB/ROBERT DEOPITO, ISTOCKPHOTO QUELLE: STATISTIK LAND VORARLBERG
Hauptwohnsitz
Die illwerke vkw senkt zum 1. April den Strompreis um rund fünf Prozent auf 12,2 Cent netto
Kilowattstunde. Die ÖBB-Infrastruktur AG plant für ihr Bauprogramm 2024 bis 2029 in Vorarlberg Investitionen von insgesamt 598 Millionen Euro, das Land wird zu diesen Projekten einen Zuschuss in der Höhe von voraussichtlich 47,5 Millionen Euro leisten. In Vorarlberg nutzen knapp 50.000 Menschen täglich das Angebot der ÖBB.
2019 2020 2021 2022 2023 2024 9055 9294 9753 10.239
ZAHL DER
in
Zum Stichtag 31. Dezember 2023 waren in Vorarlberg 410.307 Personen mit
gemeldet.
je
30
10.893 11.325 Die Zahl der Waffenbesitzer in Vorarlberg ist in den vergangenen fünf Jahren um knapp 30 Prozent gestiegen. Auch die Zahl der registrierten Schusswaffen ist deutlich nach oben gegangen.
WAFFENBESITZER
Vorarlberg
Gesellschaft
THEMA VORARLBERG
SchreibenSieuns! info@themavorarlberg.at WirlegenWertaufIhre
Naturschauspiel
Leserbrief zum Artikel von David Stadelmann „Kampf den Schleppern“, aus Thema Vorarlberg, Ausgabe 94, Dezember 2023
Ein interessanter Artikel im Thema Vorarlberg von Prof. Stadelmann, Universität Bayreuth, wonach ein Einreisepreis Migranten eine legale Einreise ermöglichen soll, mit bestimmten Zusicherungen und korrekter Rückführung bei Ablehnung des Einreiseantrags. Zusätzlich soll der Grenzschutz verstärkt werden, was den Einreisepreis, der sich an den üblichen Schlepperhonoraren orientieren soll, in die Höhe treiben würde. Das könnte einen Teil der Immigranten betreffen. Andere, die sich keine legalen Chance erhoffen, würden wahrscheinlich immer noch auf die illegale Einreise setzen und sich mit Hilfe schon Angekommener durchschlagen. Der Schönheitsfehler: Dieser Einreisepreis würde für entstandene Kosten verwendet werden. Erscheint logisch, aber ethisch unschön. Dieses Geld kommt aus einem armen Land. Wir sind reich und hätten die Verantwortung für einen finanziellen Ausgleich. Die interessante Idee sollte um eine Facette erweitert werden. Das Geld sollte für eine gezielte Förderung in den Herkunftsländern eingesetzt werden, um den Menschen Perspektiven zu bieten und ein Emigrationswunsch schon gar nicht entsteht. Man könnte diese Einnahmen staatlicherseits gar verdoppeln. Dass ein solches Ansinnen sehr viel Engagement erfordert, liegt auf der Hand, wäre aber ein guter Beitrag zu dieser Problematik und kann nur auf höchster Ebene, wenn überhaupt, gelöst werden.
Doris Hämmerle, Lustenau
Leserbrief zum Artikel von Andreas Unterberger „Plastikpfand –Gewesslers Danaergeschenk“, aus Thema Vorarlberg, Ausgabe 93, November 2023
Der gute Herr Unterberger sollte sich zum Thema Plastikmüll und Pfand vielleicht eine zweite Meinung einholen. Ich habe selten so einen Nonsens zu diesem Thema gelesen wie in diesem Beitrag.
Peter Biegger, Hörbranz
FOTO: ANDREAS DÜNSER
Schönwetterwolken „cumulus humilis“ – fotografiert in Bregenz, am 23. Dezember 2023. 25 | FEBRUAR 2024 | AUSGABE 95 | THEMA VORARLBERG | RUNDBLICK
MEINUNG!
Kunst Vorarlberg
PETER LEDERER
in
lebt und arbeitet in Feldkirch Bildender Künstler
KUNST | THEMA VORARLBERG | AUSGABE 95 | FEBRUAR 2024 | 26
; KURATOR: EDGAR LEISSING; © PETER LEDERER
*1963
Bregenz,
„Ohne Titel“
Die gute Entscheidung oder gut entscheiden?
Snooze oder aufstehen? Honig oder Marmelade? Rock oder Hose? Glauben wir der Verhaltensforschung, dann treffen wir mehr als 20.000 Entscheidungen am Tag. Unzählige davon schnell und ohne bewusste Aufmerksamkeit. Der Philosoph Peter Bieri bezeichnet derlei Entscheidungen als „instrumentell“. Wir versehen diese Entscheidungen selten oder nie mit dem Attribut „gut“ –wir treffen sie einfach. Die Entscheidungen, die „gut“ sein sollen, das sind die anderen, für die wir uns eher Zeit nehmen, weil sie eben nicht alltäglich sind. Bieri spricht hier von „substanziellen Entscheidungen“. Sie sind entweder nicht umkehrbar, mit einem Risiko verbunden oder haben das Potenzial, etwas Substanzielles im Leben zu verändern. Und weil wir möchten, dass es am Ende gut kommt, auch wenn wir dieses Ende schwer einschätzen können, soll die Entscheidung „gut“ sein. Eine nachvollziehbare, aber keine sinnvolle Erwartung, die dazu führen kann, dass das Leiden an nicht getroffenen Entscheidungen zunimmt. Denn je weniger die Qualität einer Entscheidung vorausschauend festzumachen ist, desto eher tendieren wir dazu, die Entscheidung hinauszuzögern. Das ist in unserer Zeit, die gekennzeichnet ist von zunehmender Komplexität, Dynamik und Unberechenbarkeit ein ernstes Problem.
Was können wir dagegen tun? Wir können umfokussieren von „die Entscheidung soll gut sein“ auf „der Entscheidungsprozess soll gut sein“. Dieser beginnt mit einer sorgfältig formulierten Entscheidungsfrage und endet mit einem klaren Beschluss. Dazwischen können wir mit diversen Entscheidungsmethoden unsere menschlichen Kompetenzen des Denkens, Fühlens und Wollens gezielt einsetzen. Mehr können wir nicht tun – aber weniger sollten wir auch nicht tun, wenn es um das Substanzielle geht.
Nachgedacht
Kommentare zu Gesellschaft, Wirtschaft und Politik
Alpwirtschaft versus Großraubtier
Seit gut 20 Jahren stehen wir in Europa und seit einigen Jahren auch in Österreich vor der Herausforderung Wolf. Steigende Zahlen bei Rissen von Nutztieren, vor allem im Alpbereich zeigen, dass man das Problem Wolf im wahrsten Sinne des Wortes am Schopf packen muss. Die Mär, der Wolf sei gefährdet, und müsse deshalb geschützt werden, entspricht nicht der Realität. Es geht nicht um eine Ausrottung, aber wir müssen den Wolf in Schach halten. Er hat weltweit riesige Verbreitungsgebiete, und muss nicht auch noch auf dicht besiedeltem Raum heimisch werden, auch wenn mancher „Wolfsversteher“ das anders sieht. In unseren Alpenregionen bedroht er Weidewirtschaft, Jagdwirtschaft, Tourismus, Kulturland und Biodiversität. Klar sein muss: Die Alpwirtschaft ist höherwertig als die Wiederansiedlung von Raubtieren. Die Alpen sind kein Naturraum, sondern ein über Jahrhunderte geschaffener Kulturraum für Mensch und Tier mit einer vielfältigen Biodiversität an Tieren und Pflanzen, die durch die Aufgabe der Alpwirtschaft verloren gingen. Deshalb drängen wir, dass der Schutzstatus beim Wolf herabgesetzt wird, damit ein Wolfsmanagement, so wie bei anderen Wildarten, umgesetzt wird. Wir sollten von den Erfahrungen der Schweizer lernen. Trotz Millioneninvestitionen in alle Arten von Herdenschutz haben unsere Nachbarn nach 20 Jahren eine mehr als ernüchternde Bilanz gezogen.
Der Herdenschutz hat nicht funktioniert. Die Wölfe sind lernfähig und passen sich an, ohne Bejagung verlieren sie die Scheu vor dem Menschen. Um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten haben die Eidgenossen beschlossen, die Anzahl der Wölfe und Wolfsrudel durch Bejagung stark zu reduzieren und auch in unserer dicht besiedelten alpinen Welt, dort wo Alp- und Weidewirtschaft sowie touristische- und Freizeitnutzung stattfinden, hat dieses Großraubtier keinen Platz.
Die Welt ist in Bewegung
Die Welt ist in Bewegung. Wir sind es auch. Gewohntes wird auf den Kopf gestellt, hinterfragt, ausgelotet. Was wir dabei immer wieder feststellen, ist, dass Veränderungen und Umbrüche großartige Möglichkeiten bieten, dass etwas neu gedacht, neu verhandelt werden kann –und in Anbetracht der Herausforderungen unserer Zeit auch muss. Kürzlich erschien im Magazin der „SZ“ ein Interview mit Paola Antonelli, Kuratorin für Design und Architektur im MoMA. Dabei kam die Frage auf, ob Designer:innen in Zukunft eine neue gesellschaftliche Rolle einnehmen sollen. Antonellis Reaktion darauf war eindeutig: Sie setze sich dafür ein, dass Designer:innen zukünftig in Gremien der EU sitzen und als integraler Bestandteil politischer Entscheidungen behandelt werden. Um neue Beziehungen zwischen Menschen und Objekten zu schaffen. Objekte, die besser entworfen, länger haltbar, wiederverwendbar und updatebar sind. Die als Plattform für Wandel wahrgenommen werden.
Mit der Entwicklung des Programmes für das designforum Vorarlberg behandeln wir ähnliche Fragestellungen. Wie können wir zu den nötigen Transformationsprozessen einen Beitrag leisten? Gemeinsam mit unserer Trägerin, der Fachgruppe für Werbung und Marktkommunikation, schaffen wir unter dem Titel „Aufbruch“ Formate, bei denen wir bestehende Ressourcen nutzen, um neu zu denken, formen und gestalten. Die CampusVäre – Creative Institute Vorarlberg, der neue Standort des designforum Vorarlberg, ist dabei das ideale Umfeld und Sparringpartner. Mit der Transformation alter Industriehallen zu einer „Werkstatt zur Entwicklung der Zukunft“ entsteht eine breitgefächerte Plattform des Wandels. An diesem Ort gemeinsam zu diskutieren, Neues anzustoßen und in die Zukunft zu denken – welch gute Aussichten.
Was ist „normal“?
Der Begriff der „Normalität“ als politisches Deutungskriterium im Sinne einer Bewertung, beziehungsweise mehr einer Abwertung anderer, beschäftigt mich nun schon seit längerer Zeit mit zunehmendem Unwohlsein. Bin ich nun anormal, wenn ich diesem ideologisch eingefärbten Kriterium von Normalität nicht entspreche? Die Antwort muss dann wohl ein klares „Ja“ sein. Muss ich dann den Preis der Ausgrenzung bezahlen? Bin ich dann nicht mehr Teil dieser „normalen“ Gemeinschaft?
An dieser Stelle beruhigt mich dann aber wieder die Aussage von Richard von Weizsäcker, der sagt, „es ist normal, verschieden zu sein. Es gibt keine Norm für das Menschsein.“ Also ist Verschiedenheit das Kriterium für die Normalität einer Gesellschaft. Das gefällt mir und ich fühle mich wieder aufgenommen.
In der Natur bedeutet Normalität das Vorkommen und die verlässliche Abfolge von Regelmäßigem und Unregelmäßigem, von Gewohntem und Ungewohntem. Das ist das Erfolgsrezept der Evolution. Somit benötigt also eine gelingende Weiterentwicklung unserer Gesellschaft den selbstverständlichen und respektvollen Umgang mit der Verschiedenartigkeit. Da fällt mir auch gleich der Begriff eines würdigen Umgangs miteinander ein. Also ist es normal, die Würde jedes Menschen zu achten. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ steht ja auch im Artikel 1 des Grundgesetzes. Dies ist die Leitlinie des zwischenmenschlichen Zusammenlebens und soll in einer Zeit mit großen Unsicherheiten auch im Sinne des gesellschaftlichen Klimas zu Respekt, Solidarität und Mitmenschlichkeit auffordern und der Normalität entsprechen. Ein guter Mensch zu sein ist somit normal.
Es ist normal, verschieden zu sein.
Richard von Weizsäcker
27 | FEBRUAR 2024 | AUSGABE 95 | THEMA VORARLBERG | MEINUNGEN
FOTOS: ULLA WAELDER, ANGELA LAMPRECHT, CHRISTOPH SCHÖCH, BEIGESTELLT
Andrea Spieth Organisationsentwicklerin und Coach
Josef Moosbrugger Landwirtschaftskammer-Präsident
Von Sabine Barbisch
NIKOLA J HALLER UND DIE GABE DES KOCHENS
Über einen jungen Mann aus Mellau, der sich als privater Koch und Gastronom in die höchsten Kreise Londons kocht. Warum er das Kochen als wunderbare Gabe empfindet und welche Speisen seine britischen Freunde bevorzugen, erzählt Nikolaj Haller im Gespräch mit „Thema Vorarlberg“.
Für Nikolaj Haller hat mit dem neuen Jahr auch das 13. begonnen, das er in Großbritannien verbringt. Fährt er zurück in seine Heimat nach Mellau, ist es, als wäre er nie weg gewesen, der Wälder Dialekt geht ihm leicht von den Lippen, auch wenn er manchmal überlegen muss, wie der passende Ausdruck lautet. 2011, nach einem erfolgreichen Lehrabschluss als Koch im Hotel Engel in Mellau und nach einigen Monaten im Adler in Schwarzenberg, wollte Nikolaj Haller vor allem eines: Raus in die Welt!
Er hatte zwei Jobangebote für die USA, doch ein fehlendes Visum verhinderte die Reise. London war als alternative Destination schnell gefunden und der junge Koch reiste ab. Offiziell mit Job und Wohnung, „aber eigentlich hatte ich noch keine Zusage“, erzählt der Mellauer. „Aber innerhalb von einer Woche habe ich mein neues Leben in London inklusive Wohnmöglichkeit und Arbeit organisiert.“
Dort arbeitete er in einem französischen Lokal in der Patisserie. „Neben dem Kochen war das schon immer eine meiner Leidenschaften.“ Nach einem Jahr in der britischen Metropole ging es für den heute 30-Jährigen aber wieder zurück in den Bregenzerwald: „Ich leistete meinen Zivildienst im Sozialzentrum in Bezau ab und kochte nebenbei bei meinem ehemaligen Arbeitgeber in Schwarzenberg, Spitzenkoch Engelbert Kaufmann war mein Mentor.“ Die Rückkehr nach Großbritannien stand für den jungen Mann trotzdem fest: „Ich habe mich in London seit dem ersten Tag wohlgefühlt. Vor allem wegen der Haltung, dass jeder akzeptiert ist und alles möglich ist. Im Bregenzerwald habe ich das leider nicht so empfunden, das konnte ich aber hinter mir lassen. Diese Offenheit ist ein sehr wichtiger Wert für mich geworden.“
Der Mellauer arbeitete in verschiedenen Restaurants als Koch, später wechselte er auch in den Service, managte ein Lokal, erste Events kamen dazu.
Vor sechs Jahren war es ein Treffen mit Susanne Kaufmann, das der Karriere des Wahl-Briten nochmal eine Wendung gab: „Sie kommt aus einer Bezauer Hoteliersfamilie und hat – inspiriert von Kräutern und Pflanzen – vor rund 20 Jahren eine Hautpflegemarke gegründet, die Kundinnen auf der ganzen Welt begeistert. Sie bot mir einen Job an und ich landete damit ganz unverhofft in der Kosmetikbranche.“ Über vier Jahre
bereiste der Bregenzerwälder fortan für die Kosmetikmarke aus seiner Heimat die Welt. Er führte den Department Store von Susanne Kaufmann im „Liberty“, einem exklusiven Kaufhaus in London, übernahm später alle Departments in Großbritannien und reiste als Brand & Retail Training Manager regelmäßig nach Asien und in die USA. Mit der Covid-Pandemie, die ab 2020 die Welt in Atem hielt, ging von all dem nichts mehr.
Nikolaj Haller aber sagt, er habe sich in dieser außergewöhnlichen Zeit selbst gefunden.
Lebenslauf
Nikolaj Haller, *18. Juli 1993, ist in Mellau aufgewachsen. Dort besuchte er die Volksschule, dann die Hauptschule Bezau und die Polytechnische Schule, bevor er die Lehre zum Koch im Hotel Engel in Mellau absolvierte. Anschließend arbeitete er im Adler in Schwarzenberg. Von dort ging er nach London, machte den Zivildienst aber im Bregenzerwald, und kehrte wieder nach Großbritannien zurück.
Sechs Jahre arbeitete er in London in der Gastronomie, die folgenden fünf Jahre (2017 – 2022) bei Susanne Kaufmann. 2022 gründete er mit „haller’ssocialdiningtable–privatechef& events“ sein eigenes Unternehmen. Mit seinem Partner lebt er in London.
Privatkoch für alle Fälle
Ein wichtiger Teil dieses Prozesses war die Rückkehr zu seiner ursprünglichen Passion: Der Mellauer machte sich unter dem Namen „haller’s social dining table – private chef & events“ als Privatkoch selbstständig. Der Jungunternehmer hat sich persönlich und beruflich stetig weiterentwickelt: er kocht mit Herzblut, sucht außergewöhnliche Locations, pflegt sein großes Netzwerk, erstellt Menü- und Ablaufpläne für private Dinnerabende oder große Feierlichkeiten, er organisiert und instruiert die Mitarbeitenden und hat neuerdings eine eigene kleine Kosmetiklinie etabliert.
Von der Stange kommt bei ihm nichts, wie der Unternehmer erklärt: „Das Konzept und Design wird für jeden Kunden neu erdacht.“ Dieser hohe Anspruch nimmt viel Zeit in Anspruch: „Ich veranstalte solche Abende im Schnitt zwei bis drei Mal in der Woche, da kommt einiges an Arbeit zusammen, denn jedes Event ist individuell auf die Kundenwünsche angepasst.“
Auch spezielle Anlässe richtet er gerne aus. „Aber an bestimmten Tagen arbeite ich nicht, so sind die Weihnachtsfeiertage für meine Familie und meine Freunde im Bregenzerwald reserviert.“ Insgesamt
hat ihn seine Kindheit und Jugend dort sehr geprägt, besonders seiner Mama ist er dankbar für ein unbeschwertes Aufwachsen, das Spielen in und mit der Natur. „Das war wunderschön, aber ich wollte immer schon weit weg gehen“, erinnert sich Nikolaj Haller zurück.
Die Gabe des Kochens
Auch seine ersten kulinarischen Erfahrungen sind mit dem Bregenzerwald verbunden: „Das Kochen ist in meiner Familie ein fester Bestandteil der Kultur, viele haben etwas mit Essen zu tun, sind oder waren Köchinnen oder Metzger. Diese Verbundenheit hat mir immer schon gefallen. Deshalb schätze ich es, Koch zu sein. Das ist ein toller Beruf. Ich empfinde es als wunderbare Gabe, kochen zu können und mir Wissen über Zutaten anzueignen.“
Davon profitieren Hallers Kundinnen, die „in einer anderen Liga spielen“, das sei mitunter „beeindruckend, aber auch amüsant. Zu mir kommen Menschen, die absolut keine Zeit haben, weil sie beruflich viel reisen, die meistens keinen Plan vom Kochen haben, aber gerne Menschen zu sich nach Hause einladen.“ Sein beruflicher Fokus liegt dabei auf London, immer öfter arbeitet er aber auch in den USA. Seine Kundinnen schätzen seine Verschwiegenheit, deshalb können an dieser Stelle keine Namen genannt werden. Und wie finden diese vielbeschäftigen Leute den Privatkoch aus Mellau? „Ich freunde mich gerne mit neuen Menschen an, mir ist aber auch die Pflege meiner Kontakte und Netzwerke wichtig.“
An einem perfekten Essen schätzt der passionierte Koch beste Zutaten und eine perfekte Zubereitung, „das Essen soll Freude machen, das möchte ich auch mit meinem Beruf vermitteln“. Seine Küche beschreibt er als sehr vielfältig und inspiriert von den vielen Reisen, die er macht. „Nur meine Freunde in London wünschen sich immer eins – meine Käsknöpfle“, lacht der Privatkoch.
IM AUSLAND | THEMA VORARLBERG | AUSGABE 95 | FEBRUAR 2024 | 28 Unternehmer in London
FOTOS: NINA TSCHORN, DANIEL MAUCHE
ltig und inspiriert von vielen Reisen. „Nur meine Freunde in London wünschen sich immer eins – meine Käsknöpfle“.
s e ine Küchealssehrvielfä Zur Person SABINE BARBISCH Redakteurin Thema Vorarlberg
Nicolaj Haller beschreibt
ONLY GOOD NEWS ARE GOOD NEWS
Kriege, Pandemie, Teuerung, Energiekrise und Klimakatastrophe: Das Bild der aktuellen Lage erscheint düster, der Welt geht es schlecht. Und über den täglichen Konsum an negativen Nachrichten sind auch wir in einen permanenten Krisenmodus geraten. Wie konstruktiver Journalismus dagegen ankämpft.
Von Herbert Motter
HERBERT MOTTER Stellvertretender Chefredakteur
Thema Vorarlberg
Kein geringer wie Schriftsteller Michael Köhlmeier bestätigte das jüngst in einem Profil-Interview. Auf die Frage, ob er zuweilen an der Ausschließlichkeit schlechter Nachrichten verzweifle, meinte er: „Durchaus. Es gibt diese Sehnsucht nach der Idylle, und sei es nur die Meldung, dass aus dem Donaukanal ein Hund gerettet wurde … der Overkill an negativer Berichterstattung führt bei mir dazu, dass ich an Weltdepression laboriere, was wiederum zu einer Art Desinteresse führt, das in Weltaggression mündet.“
Überforderung, Hilflosigkeit, Apathie, Ohnmacht, Erschöpfung und Angst sind vielfache Reaktion darauf. Zusätzlich sind Gefühle ansteckend – positive wie auch negative. Welche Art der Nachrichten wir konsumieren, wirkt also auf unser Wohlbefinden. Nachrichten beeinflussen, inwieweit wir uns mit Themen auseinandersetzen wollen.
Skandalgeschichten ganz nach oben
Für die deutsche Journalistin und Autorin Ronja von Wurmb-Seibel schafft es ein Ereignis in die Medien, wenn es in der Nähe (geographisch und kulturell) passiert, ungewöhnlich oder noch nie dagewesen ist, konfliktgeladen ist, weitreichende Konsequenzen hat oder Persönlichkeiten betrifft.
„If it bleeds, it leads!“ ist ein bekannter Ausspruch im Journalismus. Übersetzt heißt das in etwa: Wenn es blutet, dann steht es ganz oben (in den Schlagzeilen)!
Dieser Spruch illustriert, wie die Zeitungen ihre Themen auswählen und uns lokale Ereignisse oder das Weltgeschehen täglich präsentieren. Mit Artikeln, die sich vor allem auf die bloße Effekthascherei konzentrieren, streben sie nach dem kommerziellen Erfolg.
Medien neigen aus verschiedenen Gründen zur Skandalisierung: Menschen sind oft fasziniert von sensationellen und kontroversen Ereignissen, das erhöht die Quote. Dazu kommt, dass in einem stark umkämpften Medienmarkt verschiedene
Nachrichtenorganisationen um die begrenzte Aufmerksamkeit der Zuschauer und Leser konkurrieren. Und, der Druck in der heutigen schnelllebigen Medienlandschaft, als Erster mit einer Geschichte herauszukommen, ist oft hoch. Dies kann zu ungenauen oder sensationellen Berichterstattungen führen, da die Fakten möglicherweise nicht ausreichend überprüft wurden. Die journalistische Maxime der Objektivität „audiatur et altera pars“, „man höre auch die andere Seite“, geht dabei immer wieder verloren. Nachrichten verfolgen uns immer und überall. Morgens im Radio, abends im Fernsehen und zwischendrin als Push-Nachricht auf dem Handy. Doomscrolling oder Doomsurfing bezeichnet etwa das exzessive Konsumieren negativer Nachrichten im Internet. Nachrichten prägen unser Leben –viel mehr, als wir es ahnen. Nachrichten beeinflussen, wen wir wählen, wofür wir unser Geld ausgeben oder wie wir unsere Kinder erziehen. Sie bestimmen, wie wir uns fühlen, wenn wir morgens aufwachen und worüber wir nachdenken, wenn wir abends ins Bett gehen. Tägliche Krisenmeldungen drücken nicht nur unsere Stimmung, sie verzerren unseren Blick auf die Welt. Sie führen zu einem Zustand „gelernter Hilflosigkeit“ – wie der amerikanische Psychologe und Begründer der Positiven Psychologie Martin Seligman es nennt. Autorin Ronja von Wurmb-Seibel formuliert es in ihrem Buch „Wie wir die Welt sehen“ folgendermaßen: „Wenn wir ständig gezeigt bekommen, dass die Welt schlecht ist und wir nichts daran ändern können, dann glauben wir es irgendwann auch.“ Das liege auch an einer systemischen Fehleinschätzung.
Konstruktiver Journalismus
Der alten Formel „Only bad news are good news“ (schlechte Neuigkeiten verkaufen sich dieser Annahme nach besser) wurde in den vergangenen Jahren etwas entgegengestellt: der konstruktive Journalismus. Er beruht auf den Techniken
der positiven Psychologie von Seligman, die sich wissenschaftlich mit einem lebenswerten Leben auseinandersetzt und richtet den Blick verstärkt in die Zukunft, sucht nach Lösungen für die dargestellten Probleme und integriert positive Emotionen, wie Hoffnung und Inspiration. Gemäß der Broaden-and-Build-Theory (Barbara Fredrickson, 2001) erweitern positive Emotionen das Denk- und Handlungsrepertoire.
Ronja von Wurmb-Seibel gießt konstruktiven Journalismus in eine kurze Formel: „Scheiße + X = bessere Welt!“ Zunächst wird das Problem genau analysiert (die schlechte Welt: soziale Ungleichheit, Klimakrise, Krieg), so wie es der herkömmliche Journalismus macht. Der Konstruktive Journalismus geht nun aber einen Schritt weiter: Er stellt sich den Idealzustand vor (die bessere Welt: Frieden, Klimaneutralität, gleiche Chancen für alle) und sucht danach, wie dieser erreicht und das Problem beseitigt werden kann, das X in der Formel.
Konstruktive Berichterstattung ist in den USA schon recht verbreitet. Auch in Europa, allen voran in Dänemark, erfährt sie Aufwind. Deutschsprachige Redaktionen experimentieren immer häufiger neben der „normalen“ Berichterstattung bereits mit konstruktiven Formaten.
Studien zeigen, dass wir anders auf lösungsorientierte als auf negative, konfliktgeladene Berichterstattung reagieren. Nicht umso geschockter, sondern umso so positiver wir gestimmt sind, umso so mehr wird das Interesse und die eigene Handlungsfähigkeit gesteigert. Das belegt eine Studie der Southampton Universität aus dem Jahre 2018 (The Impact of Constructive News on Affective and Behavioural Responses).
Konstruktive Journalisten sollten aus Gründen der Glaubwürdigkeit sorgfältig darauf achten, nicht unkritisch und distanzlos zu agieren. Durch ihre Haltung geben sie uns aber die Chance, optimistischer und resilienter zu werden, und im besten Fall die Welt durch das eigene Handeln ein wenig besser zu machen.
29 | FEBRUAR 2024 | AUSGABE 95 | THEMA VORARLBERG | ESSAY FOTOS: STUDIO FASCHING, BEIGESTELLT
Von Klaus Feldkircher
VOM VFV VOLLEY INS INTERNATI NALE FUSSBALLGESCHEHEN
Seit Horst Lumper im Jahr 2006 das Amt des Präsidenten des Vorarlberger Fußballverbandes (VFV) übernommen hat, hat er nicht nur die lokale Fußballlandschaft mitgeprägt, sondern sich auch als Funktionär im regionalen und internationalen Fußball etabliert. Seine Reise begann in Vorarlberg und führte ihn zum Weltfußballverband FIFA und anschließend zum europäischen Verband UEFA.
* 1967 in Bregenz, hat als Autor, Texter und Konzepter diverse Sachbücher veröffentlicht. Der ausgebildete Germanist und klassische Philologe ist in der Erwachsenenbildung tätig, lehrt(e) an der AHS und an der FH Vorarlberg. Daneben ist er als Agenturpartner in der Kommunikationsbranche tätig.
Als VFV-Präsident war Lumper nicht nur in Vorarlberg tätig, sondern übte auch verschiedene Funktionen im Österreichischen Fußball-Bund (ÖFB) als Präsidiumsmitglied aus, aktuell bekleidet er das Amt des Vorsitzenden der Finanzkommission.
Nach Zürich zur FIFA
Die internationale Bühne betrat Lumper erstmals 2010, als er vom ÖFB für die Disziplinarkommission der FIFA vorgeschlagen wurde. Über sechs Jahre war er in dieser Position tätig, die ihn nicht nur an den FIFA-Sitz in Zürich führte, sondern auch zu den unterschiedlichsten Turnieren und Wettkämpfen, die der Weltverband ausrichtete. Seine Aufgabe waren unter anderem die Verfolgung und Verhandlung von Fällen, in denen Spieler, aber auch Verbände gegen das Regelwerk verstießen. „Dabei mussten oft schnelle Entscheidungen getroffen werden, die unmittelbare Auswirkungen auf Teams und Spieler hatten“, erzählt der Rechtsanwalt. Und erwähnt dabei die WM in Südafrika, wo er mit dem Fall des Spaniers David Villa befasst war, der im Spiel gegen Honduras ordentlich austeilte. Das nachträgliche Ergebnis: Gnade vor Recht und keine Sperre. Übrigens: Villa erzielte in diesem Spiel beide Treffer zum 2:0 Sieg der Spanier.
Nach sieben spannenden Jahren wechselte Lumper 2017 in die FIFA-Rechtskommission, die für rechtliche Fragen, Statutenänderungen und vieles mehr zuständig war, was ihm weitere tiefe Einblicke in die komplexe Struktur des Weltfußballs ermöglichte. „Gerade bei FIFA-Kongressen, wo über 700 Mitglieder zur Wahl gerufen werden, darf dir als einem der Wahlverantwortlichen kein Fehler passieren“, berichtet Lumper.
Von der FIFA zur UEFA
Nach dem Ausscheiden aus der FIFA wurde Lumper vom ÖFB als UEFA-Inspektor nominiert. Bei diesem Amt lag der Fokus seiner Arbeit auf Vergehen von Spielern, Funktionären und Vereinen im europäischen Fußball. „Das umfasst so bekannte Bewerbe wie die Champions League oder Europameisterschaften“ erklärt der Jurist. Seine Aufgaben: „Vorbereitung von Anklagen und Entscheidung über Strafen für Verstöße, beispielsweise gegen das Financial Fairplay oder rassistisches Verhalten.“
Doch Fußball ist für Horst Lumper nicht nur eine Sportart wie viele andere, sondern auch ein gesellschaftlicher Faktor. Dabei spricht er unter anderem die Bedeutung des Frauenfußballs an: „Die zunehmende Popularität des Frauenfußballs ist ein positives Zeichen. Wichtig ist, dass immer mehr Frauen nicht nur spielen, sondern auch in Führungspositionen im Fußball aktiv sind.“
Fußball als Antwort auf soziale Fragen
In den vergangenen Jahren habe sich außerdem eine weitere Herausforderung im Fußball herauskristallisiert: Soziale Probleme haben verstärkt Einzug gehalten, da der Sport Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten zusammenbringt. Der Fußball, der im Grunde genommen wenig kostet – lediglich ein Ball und Schuhe sind nötig –, bietet eine universelle Plattform, auf der sich jeder wiederfindet. Um hier eine erfolgreiche Integration zu gestalten, wurden im VFV verschiedene Maßnahmen ergriffen. Die Festlegung, dass die gemeinsame Sprache Deutsch ist, wurde als grundlegend festgeschrieben, um eine funktionierende Kommunikation auf und neben dem Platz zu ermöglichen.
„Leider zeigten sich vor allem im Nachwuchsbereich verstärkt Probleme wie Rudelbildungen, sodass hier verstärkt Handlungsbedarf besteht“, sagt der VFV-Präsident.
Als Antwort auf diese Herausforderungen hat der VFV 2021 das Projekt „Team Play – vom Gegeneinander zum Miteinander“ ins Leben gerufen. Die Grundidee besteht darin, aktiv gegen soziale Probleme und Konflikte im Fußball anzugehen. Ein Blick auf die VFV-Homepage sowie ein Video verdeutlichen die Vielschichtigkeit dieses Ansatzes, der Trainer, Spieler, Schiedsrichter, Vereine und Zuschauer gleichermaßen anspre chen soll.
Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Qualifikation der Nachwuchstrai ner. Sie werden in Kursen nicht nur in ihren fußballerischen Fähigkeiten, son dern auch im Umgang mit den jun gen Sportlern geschult.
Insgesamt spiegelt die ses Engagement die Wich tigkeit wider, als Verband nicht nur auf sportlicher, sondern auch auf sozialer Ebene zu agieren.
VFV-Präsident und Ex-FIFA-Kommissionsmitglied Horst Lumper mit Ex-FIFA-Präsident Sepp Blatter im
Die Schaffung einer integrativen Umgebung, in der jeder Spieler gleichermaßen respektiert wird, ist ein zentrales Anliegen, das weit über den Rasen hinausreicht, und wird auch von der Politik unterstützt.
Vom Judo zum Fußball
Horst Lumper investiert mindestens einen Tag pro Woche in seine Tätigkeiten. Dabei ist jede Position, sei es beim VFV, beim ÖFB oder der UEFA, ehrenamtlich. „Mein Weg zum Fußball begann eigentlich nicht mit Fußball“, blickt der Präsident zurück. Ursprünglich ein über die Grenzen Vorarlbergs hinaus erfolgreicher Judoka, wechselte er zum runden Leder, spielte für Viktoria und SW Bregenz und wechselte schließlich in die Schweiz. Als Spielertrainer war er außerdem im Leiblachtal beim SC Hohenweiler tätig, bis ein Kreuzbandriss seine aktive Karriere beendete. Als Anwalt erhielt er die Anfrage, den VFV als Rechtsbeistand zu unterstützen. Es folgte die Vizepräsidentschaft und schließlich – mehr oder weniger freiwillig – die Präsidentschaft.
Seine Karriere als Funktionär brachte nicht nur Begegnungen mit Fußballlegenden wie David Villa, Ronaldinho oder Luis Figo mit sich, sondern auch mit Funktionären und Vertretern verschiedenster Staaten, mit Botschaftern und sogar mit gekrönten Häuptern. Doch für Lumper bietet seine Rolle nicht nur die Möglichkeit, mit prominenten Persönlichkeiten in Kontakt zu treten. „Sie ermöglicht es mir, etwas von dem zurückzugeben, was ich im Sport erleben durfte“, erklärt er seine Beweggründe, so lange als Funktionär die Geschicke des Fußballs und seiner Akteure mitzuprägen.
Lumpers Ziele für die nächste Zukunft reichen über lokale Veranstaltungen hinaus. Er strebt unter anderem die Ausrichtung einer Nachwuchs-Europameisterschaft in Vorarlberg an und plant die Organisation der alle 27 Jahre in Vorarlberg stattfindenden Generalversammlung des ÖFB. Damit bleibt Horst Lumper nicht nur ein bedeutender Akteur im Vorarlberger Fußball, sondern auch ein Botschafter für den Sport, dem er – wie er es selbst formuliert – so viel zu verdanken hat.
FOTOS: PRIVAT
PORTRÄT | THEMA VORARLBERG | AUSGABE 95 | FEBRUAR 2024 | 30
KLAUS FELDKIRCHER
Zur Person
Zur Person
ANGELIKA SCHWARZ
* 1975 in Feldkirch, ist Journalistin, studierte Germanistin und Anglistin, langjährige ORF-Redakteurin und -Moderatorin (Radio und Fernsehen). Angelika Schwarz arbeitet in der Unternehmenskommunikation der Landeskrankenhäuser Vorarlberg.
MEISTERLEISTUNG INTERDISZIPLINÄRER ZUSAMMENARBEIT
Ein interdisziplinäres Operationsteam hat am Schwerpunktkrankenhaus Feldkirch einen äußerst seltenen Eingriff erfolgreich gemeistert: Weil bei einem 48-jährigen Patienten nach behandeltem Kehlkopfkrebs neuerlich ein bösartiger Tumor aufgetreten war, musste unter anderem der obere Teil seiner Speiseröhre entfernt werden. Als Ersatz wurde dem Mann ein Teil des mittleren Abschnitts seines Dünndarms eingenäht.
„Die radikale Tumorresektion mit Gewebeersatz und Gefäßanschluss war seine einzige Chance“, erklärt Primar Dr. Wolfgang Elsäßer die Motivation für den Eingriff. „Man kann es durchaus als eine Meisterleistung der interdisziplinären Zusammenarbeit bewerten“, resümiert der Leiter der HNO-Abteilung am LKH Feldkirch. An der rund zehnstündigen Operation waren Spezialisten und Spezialistinnen aus drei medizinischen Bereichen beteiligt: aus der Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, der Allgemein-, Viszeral- und Thoraxchirurgie sowie aus der Plastischen, Rekonstruktiven und Ästhetischen Chirurgie. Der Eingriff selbst verlief komplikationslos, der Patient ist inzwischen beschwerdefrei. „Voraussetzung für so einen Eingriff ist eine entsprechend körperliche Fitness“, sagt Primar Prof. Dr. Ingmar Königsrainer, Leiter der Abteilung für Allgemein-, Viszeral- und Thoraxchirurgie. „Genauso wie viel Motivation, Vertrauen in das gesamte Betreuungsteam und Rückhalt durch die Familie“, ergänzt Primar Elsäßer.
Dünndarmteil als Ersatz
Um sicherzustellen, dass keine Tumorzellen im Körper verbleiben, müssen die Ärzte nicht nur den Tumor selbst, sondern – je nach Größe und Stadium – über dessen Grenzen hinaus Gewebe entfernen. Im konkreten Fall war es notwendig, den Schlund, die Schild- und Nebenschilddrüsen sowie den oberen Teil der Speiseröhre operativ zu entfernen. Das HNO-Team hat zunächst diese Tumorentnahme durchgeführt. Eine sofortige Gewebeanalyse noch während des Eingriffs hat ergeben, dass der Tumor vollständig entfernt werden konnte.
Danach galt es, den gesunden Teil der Speiseröhre wieder anzufügen. Die Speiseröhre verbindet den Schlund mit dem Magen, sie ist beim gesunden Menschen zwischen 25 und 35 Zentimeter lang. Um fehlende Abschnitte zu ersetzen, kann auf
Teile des Magens, des Dick- oder Dünndarms zurückgegriffen werden. Die Ärzte in Feldkirch haben sich für eine Überbrückung mit einem Dünndarmsegment entschieden, eine Maßnahme, die äußerst selten zum Einsatz kommt: „Da es sich um einen Tumor im Halsbereich handelte, wäre die Strecke für einen Magenschlauch zu lang, und ein Dickdarminterponat wäre hier funktionell schlechter und mit eingeschränkteren Lebensqualität verbunden gewesen“, führt Primar Königsrainer aus: „Daher fiel unsere Wahl auf ein freies Dünndarminterponat.“
Sämtliche Eingriffe erfolgten innerhalb eines einzelnen Operationstermins: „Die sogenannte Schnitt-Naht-Zeit begann um 8.20 Uhr und endete um 15.50 Uhr“, blickt Primar Priv.-Doz. Dr. Gabriel Djedovic auf den intensiven OP-Tag zurück; der Mediziner leitet die Abteilung für Plastische, Rekonstruktive und Ästhetische Chirurgie. Alles in allem spannte sich die Operation samt Wundverschluss über zehn Stunden hinweg und war damit auch organisatorisch herausfordernd: „Die dafür in Frage kommenden Operateure mit entsprechend viel Erfahrung müssen am Tag X Zeit haben“, erläutert Primar Elsäßer. „Und an diesem Tag muss auch ein Intensivbett frei sein. Bis es überhaupt zur Operation kommt, leisten alle Beteiligten viel Vorarbeit: Tumorboard, Aufklärung, Bildgebung, Vorbesprechungen – nicht nur innerhalb der ärztlichen und pflegerischen Teams, sondern auch mit dem Patienten selbst und dessen Familie.“
Jeder Schritt ist entscheidend
Während des Eingriffs läuft die Zusammenarbeit der Spezialisten Hand in Hand nach einer exakt abgesprochenen Reihenfolge ab: Bei solch hochtechnischen Eingriffen ist jeder geplante Schritt entscheidend für den Erfolg der Operation:
›› Nach der Tumorentfernung durch die HNO-Spezialisten sorgte das Team der Allgemeinchirurgie zunächst für die Entnahme eines passenden Dünndarmteils: „Wir haben in einer Mini-Laparotomie ein Segment mit einer geeigneten und ausreichend langen Gefäß-Arkade gewonnen“, berichtet Primar Königsrainer. „Die beiden Dünndarmenden wurden anschließend wieder zusammengefügt und der Bauch verschlossen.“
›› Dann war das Team der Plastischen Chirurgie an der Reihe, um den
Anschluss an den Halsgefäßen durchzuführen: „Nach der Einnaht des Dünndarminterponates durch Primar Königsrainer haben wir mit Hilfe einer Lupenbrille geeignete Anschlussgefäße gesucht, um die Durchblutung wiederherzustellen. Das war wegen der zahlreichen Voroperationen und der vorangegangenen Bestrahlung eine besondere Herausforderung“, erklärt Primar Djedovic. Unter dem Mikroskop wurden schließlich die passenden Dünndarmgefäße an die freigelegten Halsgefäße angeschlossen: „Hier werden Fäden eingesetzt, die dünner sind als das menschliche Haar“, verdeutlicht der Primar.
›› Nachdem die Durchblutung wiederhergestellt war, musste aufgrund der fehlenden Haut am Hals der große Brustmuskel auf der linken Seite abgehoben und auf den Hals hochgeschlagen werden: „Dabei wird der Muskel so weit abgesetzt, dass nur mehr die versorgenden Blutgefäße des Muskels eine Verbindung zum Brustkorb haben“, erklärt der plastische Chirurg. „Der Muskel selbst wird vollständig unter der Haut der Schlüsselbeinregion in die Halsregion hochgezogen, bis er das Dünndarminterponat bedeckt. Im Anschluss haben wir ein Hauttransplantat vom Oberschenkel über diesen Muskel gelegt.“
›› Nach sorgfältiger Einpassung und Vernähen des Hauttransplantates konnte das Fachteam abschließend eine Tracheostoma-Kanüle in die Luftröhre einsetzen. Am 20. Tag nach der OP konnte der Patient das Spital bereits verlassen. „Und das mit ungestörtem Schluckakt, ohne Wundheilungsstörung und in einem sehr guten Allgemeinzustand. Er war gerade bei mir zur Kontrolle“, freut sich Primar Djedovic: „Es geht ihm sehr gut, er ist beschwerdefrei, er kann essen und trinken.“ Und obwohl eine neuerliche Stimm prothese nicht mehr eingesetzt werden kann, besteht laut Pri mar Elsäßer „mithilfe von Logo päden und speziellen Übungen die Möglichkeit, eine Ersatzsprache zu entwickeln“. Der Patient wol le jedenfalls bald wie der beruflich ein steigen: „Er ist voll mo tiviert und sehr zuver sichtlich.“
Ein OP-Team hat am LKH Feldkirch einen sehr seltenen Eingriff gemeistert: Ein Tumorpatient hat ein Dünndarmteil als Ersatz für einen entfernten Speiseröhrenabschnitt erhalten.
„Bis es überhaupt zur Operation kommt, leisten alle Beteiligten viel Vorarbeit.“
Primar Wolfgang Elsäßer
FOTOS: VORARLBERGER KRANKENHAUS-BETRIEBSGES.M.B.H., KARIN NUSSBAUMER, LISA MATHIS, MATTHIAS WEISSENGRUBER 31 | FEBRUAR 2024 | AUSGABE 95 | THEMA VORARLBERG | MEDIZIN
Von Angelika Schwarz
DAS ÖSTERREICHISCHE MINERAL DES JAHRES IST EIN MASSENROHSTOFF
Auf das Mineral des Jahres 2024 kann die Menschheit nicht mehr verzichten. Magnesit ist Ausgangsstoff für hochfeuerfeste Materialen, die überall dort zum Einsatz kommen, wo Öfen und Wannen in industriellen Brennund Schmelzprozessen hohen Temperaturen über 1.200 °C standhalten müssen. Ohne Magnesit könnten Stahl, Zement und Glas nicht im großen Maßstab gewonnen werden. So werden für die Herstellung eines Autos immerhin rund zehn Kilo, für die Fertigung eines Flugzeuges rund 1,1 Tonnen Feuerfestprodukte benötigt.
Von J. Georg Friebe
Magnesit ist ein häufiges Mineral. In reinem Zustand besteht es aus 28,83 Prozent Magnesium, 14,25 Prozent Kohlenstoff und 56,93 Prozent Sauerstoff. Es ist also ein Magnesiumkarbonat. Allerdings bildet Magnesit eine lückenlose Mischreihe mit dem Eisenkarbonat Siderit, wobei das Magnesium teilweise durch Eisen ersetzt wird. Je nach Eisengehalt werden die Mischglieder mit eigenen Mineralnamen belegt. In den Lagerstätten aber ist Magnesit oft mit anderen Mineralen vermengt. Das heute nicht mehr abbauwürdige Vorkommen Sunk bei Hohentauern in der Obersteiermark ist berühmt für sein Mineralgemenge aus Magnesit, Dolomit und Graphit. In den vom Graphit schwarz gefärbten Dolomit sind große weiße Magnesitkörner eingelagert. Weil diese an Pinienkerne erinnern, kam das Gestein unter dem Namen Pinolit als Dekor- und Schmuckstein in den Handel.
Dolomit ist das wichtigste Ausgangsmaterial, wenn es um die Entstehung fast aller österreichischen Lagerstätten geht. Wahrscheinlich schon vor der Auffaltung der Alpen wurden in der vorausgehenden variszischen Gebirgsbildung manche Kalke und Dolomite des Erdaltertums durch magnesiumreiche Fluide umgewandelt. Bei den Fluiden handelt es sich um überheißes Porenwasser, das unter so hohem Druck steht, dass es nicht mehr ordnungsgemäß verdampfen kann. Die Grenzen zwischen Gas und Flüssigkeit verschwinden, und die beiden Aggregatzustände lassen sich nicht mehr unterscheiden. Solche Fluide verhalten sich chemisch sehr aggressiv: Sie zersetzen Gesteine und reichern sich mit den gelösten Stoffen an. Andernorts sorgen diese mitgeführten Stoffe für die
Umwandlung anderer Gesteine. Woher das Magnesium der Fluide kam, wird widersprüchlich diskutiert. Während es manche aus dem (Begleit-)Gestein selbst beziehen wollen, nehmen andere eine Herkunft aus Umwandlungsprozessen in größerer Tiefe an. Egal, welches Modell man bevorzugt: Für Chemiker sind die Rechnereien und Modellierungen der Mineralogen schlichtweg nicht nachvollziehbar. Sie denken in geschlossenen Systemen, zu denen nichts zugeführt, aus denen nichts abgeführt werden kann. Dass in der Mineralogie gelöste Stoffe von irgendwo kommen und andere ins Ungewisse verschwinden, lässt sich mit ihrer Denkweise kaum vereinbaren. Und ja, Österreich ist reich an Magnesit-Lagerstätten. Auch wenn einige von ihnen heute nicht mehr rentabel abgebaut werden können, gehört Österreich – neben der Slowakei und Spanien – zu den Hauptproduzenten von Magnesit in Europa. Die Lagerstätte Breitenau in der Steiermark ist gar einer der größten untertägigen Magnesitbergbaue der Welt. Im globalen Vergleich liegt Österreich – so das Bundesministerium für Finanzen – bei der Weltproduktion an fünfter Stelle. Der größte Produzent ist – wie nicht anders zu erwarten – China, gefolgt von Brasilien. Betrachtet man aber die internationalen Konzerne, so liegt Österreich an erster Stelle. Die aus dem Zusammenschluss des österreichischen Unternehmens RHI mit Stammwerk in Radenthein (Millstätter Alpe, Kärnten) mit dem brasilianischen Konkurrenten Magnesita entstandene RHI Magnesita GmbH mit Sitz in Wien gilt als Weltmarktführer im Feuerfestbereich. Um Magnesit in der Feuerfestindustrie nutzen zu können, muss er gebrannt
werden. Bei Temperaturen bis etwa 1800 °C wird der Kohlenstoff-Anteil aus dem Mineral ausgetrieben, und es entsteht kristallines Magnesiumoxid. Sintermagnesit-Ziegel werden nicht nur zur Auskleidung von Hochöfen verwendet –ihr Schmelzpunkt liegt mit über 2.800° C weit über den in den Hochöfen erzielten Temperaturen. Sie sind auch gute Wärmespeicher und kommen daher unter anderem in Nachtspeicherheizungen und Elektrokaminen zum Einsatz. Wird Magnesit bei niedrigeren Temperaturen gebrannt, so ändern sich seine Eigenschaften und damit die Anwendungsbereiche – bis hin zum Bindemittel in der Baustoffindustrie und als Futtermittelzusatz. Ungebrannter Magnesit hingegen wird gänzlich anders vermarktet. Um ihn als Schmuckstein verwenden zu können, ist er eigentlich zu weich. Dennoch wird wasserklarer Magnesit manchmal gleich einem Brillanten geschliffen – um dann kratzsicher verwahrt als Besonderheit in einer „Edelstein“-Sammlung zu liegen. Häufiger wird er chemisch bearbeitet: Er nimmt sowohl Farbstoffe als auch Kunstharze gut an. Wird er blau gefärbt und mit Kunstharz vor dem Zerkratzen geschützt, kommt er (manchmal unter der Phantasiebezeichnung „Turkenit“) als Imitation von Türkis in den Handel. Aber auch sämtliche anderen Farbtöne sind möglich. Ob gefärbt oder nicht: Die Esoterik schreibt dem Magnesit die unterschiedlichsten – und selbstverständlich zum Teil auch widersprüchliche –Wirkungen zu. Welchen Anteil aber der künstliche Farbstoff und das Kunstharz im „Türkis Magnesit“ am vermeintlichen Einfluss auf den menschlichen Körper haben, wird aus gutem Grund verschwiegen.
Das heute nicht mehr abbauwürdige Vorkommen Sunk bei Hohentauern in der Obersteiermark ist berühmt für sein Mineralgemenge aus Magnesit, Dolomit und Graphit.
FOTOS: ROBERT KRICKL/WISSENSCHAFT –FORSCHUNG –TECHNIK, BEIGESTELLT
Zur Person J. GEORG FRIEBE * 1963 in Mödling, aufgewachsen in Rankweil. Studium der Paläontologie und Geologie in Graz. Seit 1993 Museumskurator an der inatura Erlebnis Naturschau in Dornbirn.
NATUR | THEMA VORARLBERG | AUSGABE 95 | FEBRUAR 2024 | 32
Zur Person MANFRED TSCHAIKNER * 1957 in Bludenz, war Archivar und Historiker am Vorarlberger Landesarchiv in Bregenz.
Im Zuge des aufkommenden Interesses am Funkenbrauchtum in der Mitte des 19. Jahrhunderts ergaben bereits die ersten Untersuchungen, dass sich die Bevölkerung die Ursprünge und die inhaltliche Bedeutung des Treibens am ersten Sonntag in der Fastenzeit nicht mehr erklären konnte. Die Freude am Festgeschehen stand im Vordergrund, während sowohl weltliche als auch geistliche Autoritäten bereits seit Generationen bestrebt waren, das Funkenbrennen zu unterbinden. Ihrer Ansicht nach war es mit einer unnützen Verschwendung von Holz verbunden und bot den Leuten bedenkliche Möglichkeiten der Ausschweifung. Zudem wurde der Brauch als ein heidnisches Relikt abgelehnt.
Genauere Angaben zu diesem Thema sind im Behördenschrifttum nicht zu finden, und auch andere Geschichtsquellen bieten dazu nicht viel Brauchbares. Eine bemerkenswerte Ausnahme stellen die Aufzeichnungen des Rotgerbers Johannes Häusle dar, der in seiner „Rankweiler Chronik“ aus der Mitte des 18. Jahrhunderts näher darauf einging.
Der Autor hielt zunächst fest, dass zu Zeiten der Heiden Menschen, die etwas Besonderes geleistet hätten, nach ihrem Ableben als Götter in Gestalt von Götzenbildern durch „wunderliche und narrische Zeremonien“ verehrt worden seien. Anschließend heißt es:
Die Abgöttin Rätia hat gewohnet zue Ranckhweil zu der Zeit der Haidenschaft. Dise hat durch ihr Zauberkunst vil Gauglereien getriben. Sie hat von dem Teüffel nathürlich erfahren Eißen und Stachel zusammen zu schwaizen. Wegen disem zwar nüzlichen Werckh haben die Haiden hie nach ihrem Absterben ihr zur Danckhbarkait ihren Leib verbrenth und die Aschen vergraben. Und das ist geschechen zur Fasnathzeith. Haben auch ihr zu Ehren den Gözentempel gebaueth, und ist als ain Göttin darin vererth worden, biß der Heilige Apostel Pettrus ihr Bildnus zertrümerth und den Tempel Christo Jesu eingewichen. Die Haiden haben ale Jahr in der Fasnacht auff dem Plaz, alwo die Aschen vergraben, ihr zu Ehren Feür auffgemacht, Funckhen und Fackhlen gebrenth, auch feürige Scheiben geworffen. Welches Scheibenschlagen an von den Althen genanthen Alten oder Khüeckhle Fachtnacht geschechen. Noch ieziger Zeit geschieht also noch ein Funkhen, der Abgötterey ist.
Daß Palmenbrenen ist zwar ain christlicher Brauch, weilen sie gewichen und ain beßere Meinung darbey gemacht würdt. Nach Häusles Bericht entzündete man in Rankweil alljährlich an jenem Sonntag, den man seit jeher als die „Alte Fasnacht“ oder „Küachle-Fasnacht“ bezeichnete, Feuer, brannte Funken und Fackeln ab und schleuderte glühende Holzscheiben durch die Nacht. „Alte Fasnacht“ nannte man den ersten Sonntag in der Fastenzeit, weil deren Beginn im Mittelalter auf den Aschermittwoch vorverlegt worden war. Der Name „Küachle-Fasnacht“ bezog sich auf das an diesem Tag üblicherweise zubereitete Schmalzgebäck, womit auch die Mädchen das erfolgreiche Scheibenschlagen ihrer Verehrer belohnten. Gegen Ende seiner Ausführungen erklärte Häusle, dass das Abbrennen von Funken eigentlich immer noch „Abgötterei“ oder Götzendienst darstelle. Er vertrat also wie die Obrigkeiten die Auffassung, dass es sich um einen heidnischen Brauch handelte. Als Gegenbeispiel führte der Chronist das verbreitete Verbrennen von Palmenzweigen – etwa zum Räuchern oder zur Gewitterabwehr – als einen christlichen Brauch an, denn dabei werde geweihtes Material verwendet und somit „eine bessere Meinung gemacht“, also eine andere Einstellung zum Ausdruck gebracht.
Wäre auf den Funken des 18. Jahrhunderts schon – wie heutzutage – eine menschliche Figur verbrannt worden, hätte sie der Chronist gewiss als sichtbarsten Beweis für die erwähnte „Abgötterei“ angeführt. Von einer Funkenhexe oder Ähnlichem konnte damals aber noch keine Rede sein. Als heidnisch galt zu Häusles Zeiten allein der Umgang mit dem zur Verbrennung vorgesehenen symbolischen Holzgebilde, das mit der „Abgöttin Rätia“ in Verbindung gebracht wurde.
Obwohl diese mit ihrer Zauberkunst viel Gaukelei, also Vorspiegelung oder Vortäuschung, getrieben und besonderes Wissen über die Eisen- und Stahlverarbeitung sogar vom Teufel erlangt haben soll, sei ihr „nützliches Werk“ von Häusles heidnischen Vorfahren hoch geschätzt worden. Daher hätten sie Rätias „Leib“ nach ihrem Tod als Dankesbeweis („ihr zur Dankbarkeit“) verbrannt und die Asche vergraben. Die Verbrennung erfolgte damals – wie auch noch lange später – also nicht aus aggressiven
Rotgerber Johannes Häusle geht in seiner „Rankweiler Chronik“ näher auf das aufkommende Interesse am Funkenbrauchtum ein.
DIE GÖTTIN RÄTIA UND DIE FUNKENFEUER
EINE ERKLÄRUNG DES BRAUCHTUMS
AUS DEM 18. JAHRHUNDERT
Von Manfred Tschaikner
Beweggründen. Sie drückte vielmehr die Wertschätzung einer als nützlich betrachteten Macht aus, deren Erinnerung die Christianisierung überdauert habe.
Die dankschuldige Verbrennung der „Abgöttin“ Rätia nach ihrem Tod galt offensichtlich als Bedingung und Auftakt für ihre kultische Wiederauferstehung beziehungsweise für ihr kultisches Weiterleben in dem Tempel, der ihr zu Ehren in Rankweil errichtet worden sei. Obwohl ihr Götzenbild später der St. Peter-Kirche habe weichen müssen, wurde das Verbrennen als Voraussetzung für das Weiterwirken des nützlichen Wesens jährlich am selben Ort feierlich wiederholt. Das dabei ebenfalls stattfindende Fackelschwingen und Scheibenschlagen fielen bei Häusles Darlegungen nicht ausdrücklich unter das Verdikt der „Abgötterei“.
Bezeichnenderweise stellte der Chronist aus dem Handwerkerstand die beim Funkenbrauch angeblich verehrte mythische Gestalt als Kulturheros der Metallverarbeitung vor und benannte sie entsprechend seinen geschichtlichen Kenntnissen von Rankweil als dem ehemaligen Hauptort von Unterrätien. Ein bäuerlicher Schreiber aus einem anderen Landesteil hätte zweifellos agrarische Fruchtbarkeitsvorstellungen in den Vordergrund gerückt und sich bei der Namenswahl möglicherweise auf andere regionale Narrative bezogen.
Unabhängig davon weist das Funkenbrauchtum, wie es Johannes Häusle um die Mitte des 18. Jahrhunderts beschrieb, einen grundlegend anderen Charakter auf als die heute verbreiteten Vorstellungen von einem „uralten Brauch“, der in Wirklichkeit im ausgehenden 19. Jahrhundert als Hexenverbrennung neuorganisiert worden ist. Nicht nur in Rankweil ging es ursprünglich aber keineswegs um die Vernichtung eines weiblichen Wesens, sondern – ganz im Gegenteil – um die dankbare Verehrung von Kräften des Wohlergehens und der Fruchtbarkeit.
33 | FEBRUAR 2024 | AUSGABE 95 | THEMA VORARLBERG | LANDESARCHIV
FOTOS: LANDESARCHIV, BEIGESTELLT
Liest man die Frage „Ist Vorarlbergerisch überhaupt Deutsch?“, lässt sich schon erahnen, dass der Fragesteller oder die Fragestellerin die Meinung vertritt (oder zumindest die Vermutung hat), dass Vorarlbergerisch in der Tat nicht zur Deutschen Sprache gehört. Damit streift die Frage bereits meine eigenen linguistischen Forschungsinteressen, insofern ich mich damit beschäftige, welche Einstellungen Personen zu verschiedenen Sprachen und ihren Sprechern haben. Als gebürtiger Vorarlberger handelt es sich aber auch um eine Frage, die mich persönlich „betrifft“. Wenn man sich in Wien als Vorarlberger outet, wird einem häufig gesagt, wie „lustig“ doch der Dialekt sei oder wie „schlecht“ man ihn verstehe. Die augenzwinkernde Frage, ob Vorarlbergerisch denn überhaupt Deutsch sei, überrascht mich dementsprechend wenig und ich freue mich hier ein wenig darüber schreiben zu dürfen.
Warum ist Vorarlbergerisch (angeblich?) für viele Österreicher so schwer zu verstehen?
Vorarlbergerisch ist Teil des alemannischen Dialektraumes, während in den restlichen Bundesländern Österreichs (fast überall) bairische Dialekte gesprochen werden (bairisch (mit ›i‹!). Vorarlbergerisch ist somit aus linguistischer Sicht näher verwandt mit Schwäbischen und Schweizerdeutschen Dialekten als etwa mit Kärntnerisch oder Wienerisch. Gleichzeitig gehören sowohl alemannische als auch bairische Dialekte zu den sogenannten oberdeutschen Dialekten, die einander in vielen Hinsichten mehr ähneln als den niederdeutschen Dialekten im Norden Deutschlands (häufig auch „Plattdeutsch“ genannt).
Die Zugehörigkeit zu einer anderen Dialektgruppe als den bairisch-österreichischen Dialekten ist wohl der primäre Grund, warum Vorarlbergerisch im restlichen Österreich so schwer verständlich ist, da damit nämlich eine Vielzahl sprachlicher Unterschiede einhergeht. Dabei kann es sich um besondere Wörter (z. B. Häs für ‚Kleidung‘ oder tschutta für ‚Fußball spielen‘) oder auch spezielle lautlich Merkmale (so heißt es etwa min Hus statt ‚mein Haus‘) handeln. Selbstverständlich sind aber die Unterschiede zwischen Vorarlbergerisch und (Standard-)Deutsch („Hochdeutsch“) bei Weitem nicht so groß wie etwa zwischen Deutsch und Englisch.
VORARLBERGERISCH IST
Wie lassen sich Einzelsprachen voneinander abgrenzen?
Die Frage bezüglich Vorarlbergerisch mag scherzhaft gemeint sein, die Abgrenzung verschiedener Sprachen (sprachwissenschaftlich auch Einzelsprachen genannt) voneinander ist aber keineswegs trivial. Grundsätzlich kann man hier zwischen sprachinternen und sprachexternen Faktoren unterscheiden, anhand derer verschiedene Sprachen abgegrenzt werden können.
Sprachinterne Faktoren betreffen den Aufbau der Sprache selbst, also zum Beispiel den Wortschatz oder das Lautinventar. Sprachexterne Faktoren wiederum
Zur Person JAN HÖLL
* 1993 in Bregenz, ist seit 2020 am Institut für Germanistik der Universität Wien im Fachbereich für Sprachwissenschaft tätig. Dieser Artikel entstand im Kontext des FWF finanzierten Spezialforschungsbereichs „Deutsch in Österreich. Variation – Kontakt – Perzeption“, in welchem die Vielfalt und der Wandel der deutschen Sprache in Österreich erforscht wird. https://www.dioe.at
umfassen Dinge wie das Vorhandensein von Wörterbüchern für eine Sprache (denn nicht alle Sprachen verfügen über eigene Wörterbücher), die Verwendung einer Sprache in den Medien (wird eine Sprache etwa auch geschrieben oder gibt es sie nur im mündlichen Sprachgebrauch?) oder auch ihren rechtlichen Status (viele Länder haben etwa anerkannte Amtssprachen oder auch Minderheitensprachen, was Sprecher und Sprecherinnen mit bestimmten Rechten ausstattet wie zum Beispiel das Recht auf Unterricht oder Gerichtsverfahren in der jeweiligen Sprache). Welche Faktoren man für die Einteilungen von Sprachen heranzieht und welche Wichtigkeit man ihnen beimisst, hängt jedoch von dem verwendeten theoretischen Modell ab. Oft ist es auch eine ideologische Frage, wo man die Grenzen zwischen Sprachen ansetzt. Eine Systematik (unter vielen), die für die Abgrenzung von Sprachen in der Wissenschaft herangezogen wird, ist jene von
VORARLBERG | THEMA VORARLBERG | AUSGABE 95 | FEBRUAR 2024 | 34 FOTOS: VORARLBERGER LANDESBIBLIOTHEK/PLAKATSAMMLUNG WIRTSCHAFTSARCHIV VORARLBERG, BEIGESTELLT
Winter-Fremdenverkehrsplakat aus dem Jahr 1954, gestaltet von Sylvester Licka (1925–2020) – aus der Plakatsammlung des Wirtschaftsarchivs Vorarlberg.
ARCHIVALE DES MONATS ZAHLREICHE EINGESPRENGTE SPLITTER
Von Ulrich Nachbaur mit Anna Mödlagl
ÜBERHAUPT DEUTSCH?
Von Jan Höll
„Abstand- und Ausbausprachen“. Diesem Modell nach kann eine Varietät entweder dann als (eigene) Sprache gelten, wenn sie sich ausreichend weit von einer anderen Sprache unterscheidet, also in Bezug auf sprachinterne Faktoren genügend Abstand besteht. Demzufolge wären etwa Deutsch und Chinesisch in Relation zueinander eigene Sprachen, da sie quasi auf allen linguistischen Ebenen erheblich voneinander abweichen.
Manche Varietäten jedoch sind sich in ihrer Struktur sehr ähnlich, werden aber dennoch als eigene Sprachen wahrgenommen, beispielsweise (Standard-) Norwegisch und Dänisch. Hier wird diesem Modell nach von Ausbausprachen gesprochen: Durch eine Kombination bestimmter außersprachlicher Faktoren werden Varietäten zu Einzelsprachen „ausgebaut“. Häufig spielen dabei nationale Emanzipationsbewegungen und Fragen der Identität eine Rolle. Ein Beispiel, wie das konkret aussehen kann, liefert die luxemburgische Sprache. Aus linguistischer Sicht basiert die Luxemburgische Standardsprache auf moselfränkischen (und somit deutschsprachigen) Dialekten, wie sie auch in den anliegenden Gebieten Belgiens, Frankreichs und Deutschlands noch gesprochen werden. Seit dem 20. Jahrhundert wird dieser Dialekt in Luxemburg jedoch zunehmend normiert (unter anderem erschienen verschiedene Wörterbücher), die Bedeutung als Schriftsprache (zum Beispiel in Literatur und Presse) nimmt zu und das Luxemburgische erhielt 1984 den Status einer Amtssprache. Luxemburgisch wird also aktiv zu einer eigenen Sprache „ausgebaut“. Das ändert selbstverständlich nichts an der Sprachstruktur, die weiterhin große Ähnlichkeit mit moselfränkischen Dialekten auf der anderen Seite der Luxemburgisch-Deutschen Grenze aufweist, aber zumindest auf Basis sprachexterner Faktoren erfüllt Luxemburgisch zunehmend die Kriterien einer Einzelsprache.
Letztendlich ist es aber oft auch mit dem vorgestellten Modell nicht immer zweifelsfrei festzulegen, was nun eine eigene Sprache ist und was nicht.
Könnte Vorarlbergerisch eine eigene Sprache werden?
Mit den bisher angestellten Überlegungen können wir nun ein kleines Gedankenexperiment wagen: Wie könnte
Vorarlbergerisch zu einer eigenen Sprache werden?
Es ist nicht vorstellbar, dass Vorarlbergerisch über seinen innersprachlichen Abstand (siehe voriger Abschnitt) zum Standarddeutschen als eigene Sprache definiert werden könnte, dazu sind sich die Varietäten im deutschsprachigen Raum länderübergreifend – Verständlichkeit hin oder her – zu ähnlich.
Was jedoch – zumindest theoretisch –durchaus möglich wäre, ist eine Emanzipierung des Vorarlbergerischen (oder auch jeder beliebigen anderen Varietät des Deutschen) von der deutschen Standardsprache im Sinne einer Ausbausprache, so wie dies beim Luxemburgischen geschieht beziehungsweise schon geschehen ist. Ein paar Grundlagen für Ausbauschritte sind durchaus vorhanden: Vorarlbergerisch wird in nahezu allen Alltagssituationen verwendet, in geringem Ausmaß findet der Dialekt auch in (mündlichen) Nachrichtenformaten Verwendung (beispielsweise in Interviews des Vorarlberger Nachrichtenportals vol.at). Durch die digitalen Medien nimmt auch die Verwendung von Vorarlbergerisch in geschriebener Form zu. Dem gegenüber spielt jedoch Vorarlbergerisch als Sprache der Literatur und in Printmedien kaum eine Rolle, eine gemeinsame Rechtschreibung, Grammatik oder Ähnliches ist unwahrscheinlich und der Wunsch, Vorarlbergerisch als Amtssprache anzuerkennen, steht wohl nicht im Raum. Gäbe es in Vorarlberg ein entsprechendes Bestreben, könnte aber auch der Vorarlberger Dialekt ausgebaut werden. Wie beim Luxemburgischen wäre dies aber eine politisch-gesellschaftliche Entwicklung und keine innersprachliche.
Zurück zur eigentlichen Frage: Ist
Vorarlbergerisch nun Deutsch?
Beim Vorarlbergerischen (in all seinen Ausformungen) handelt es sich um einen oberdeutschen Dialekt und es ist als solcher Teil der deutschen Sprache. Aufgrund der vergleichsweise vielen Unterschiede zum Standarddeutschen („Hochdeutsch“) und auch zu den im restlichen Österreich üblichen bairischen Dialekten ist es jedoch für viele Menschen schwer verständlich und mag schon einmal wie eine „andere Sprache“ wirken. Dass Vorarlbergerisch tatsächlich einmal den Schritt zu einer Einzelsprache macht, ist aber eher unwahrscheinlich.
HBAUR geb 1962i
U L RICHN
dkirch
… ist Jurist und Historiker und leitet seit 2019 als Landesarchivar das Vorarlberger Landesarchiv. Archivalien des Monats gestaltet er gemeinsam mit der Historikerin Anna Mödlagl.
Röntgenbild k. u. k. Garnisonsspital Nr. 4 Linz, Dezember 1916
Wilhelm Springer, geboren 1877, stammte aus Mähren und ließ sich 1906 als Seidenweber in Bregenz nieder. 1898 bis 1901 hatte er Präsenzdienst im k. u. k. Heer geleistet. Bei der Mobilmachung im August 1914 wurde er zum k. k. Landwehrinfanterieregiment Olmütz Nr. 14 eingezogen. Im November erlitt er in Russisch-Polen eine Schussverletzung an der rechten Hand und wurde in Znaim und Innsbruck, im Reservespital Bregenz (Hotel Post) und im Rekonvaleszentenheim Rankweil behandelt. Ab Mai 1915 diente Springer zunächst in Böhmen, dann in Kleinmünchen bei Linz bei k. k. Landsturmwachbataillonen, die Kriegsgefangene bewachten. Zur Abklärung seiner Verwendungsfähigkeit wurde Springers Hand Anfang Dezember 1916 im k. u. k. Garnisonspital Linz geröngt. Das Röntgenbild ist samt Befund in seinen militärischen Personaldokumenten überliefert: frakturierte Mittelhandknochen (Os multangulum maius, os multangulum minus und os capitatum), zahlreiche eingesprengte Splitter in den Metakarpalräumen.
1885 hatte der Physiker Wilhelm Conrad Röntgen die „X-Strahlen“ entdeckt, die eine rasche und sichere Diagnose ermöglichten und die Medizin revolutionierten. Der Erste Weltkrieg verhalf der Röntgentechnik zum Durchbruch. Zu den Ärzten, die sie besonders erfolgreich einsetzten, zählte der aus Wolfurt stammende Lorenz Böhler (1885 bis 1973), der sich auf Knochenschussbrüche und Gelenkschüsse spezialisierte und in seinem Lazarett in Bozen mit wissenschaftlicher Systematik eine Grundlage für die moderne Unfallchirurgie schuf.
Feldwebel Springer befand eine Kommission in Olmütz schließlich weiterhin zum Landsturmdienst ohne Waffe für geeignet. In der Posamentenherstellung werde er aber aufgrund der Bewegungseinschränkung des rechten Daumens und Zeigefingers nicht mehr arbeiten können, diagnostizierte der Chefarzt seines Bataillons, und lag offenbar falsch. Springer starb 1931 als Posamentierer in Bregenz.
www.landesarchiv.at
FOTOS: VORARLBERGER LANDESARCHIV/LANDESEVIDENZSTELLE P 1877-SPRIN, ALEXANDRA SERRA 35 | FEBRUAR 2024 | AUSGABE 95 | THEMA VORARLBERG | LANDESARCHIV
Zur Person
THOMAS FEURSTEIN
* 1964 in Bregenz, Studium der Germanistik und Geografie, Bibliothekar und Leiter der Abteilung
Vorarlbergensien an der Vorarlberger Landesbibliothek seit 1998.
Es ist an sich nicht weiter bemerkenswert, wenn zu der umfangreichen Fotosammlung der Landesbibliothek 4000 Fotos hinzukommen, wenn sie aber eine Zeitperiode und ein Thema beleuchten, zu denen es nur vereinzelt fotografisches Material gibt, könnte das ein Meilenstein für die Bilddatenbank volare werden. Der Neuzugang betrifft Fotos des Bregenzer Fotografen Werner Schlegel (1908-1945), die zwischen 1936 und 1941 aufgenommen wurden und fast ausschließlich Aufmärsche und andere Aktivitäten der Nationalsozialisten in Vorarlberg zeigen. Es handelt sich dabei um Propagandafotografie der Nazis, bei der nur glückliche, begeisterte Gesichter bei den verschiedensten Gelegenheiten zu sehen sind. So etwa beim Erntedankfest, im Kindergarten, im Turnverein, im Theater, beim enthusiastischen Empfang von Parteigrößen und bei vielerlei anderen Anlässen.
Es ist ungewöhnlich, dass eine so reichhaltige und historische wertvolle Sammlung so viele Jahre unentdeckt bleibt. Sie befand sich wohl jahrelang in Familienbesitz und erst nach dem Tod der Tochter Schlegels wurde sie ab 2016 von einer entfernten Verwandten nach und nach auf einem Flohmarkt angeboten. Glücklicherweise war der Käufer der Bregenzer Restaurator Arno Gehrer, der sich der Bedeutung der Fotos von Anfang an sehr wohl bewusst war und die originalen Postkarten, Glasplatten, Negative und andere persönliche Dokumente sorgsam verwahrte. Anlässlich einer Ausstellung im vorarlberg museum, die die Fotos von Norbert Bertolini –einem Freund Werner Schlegels – zeigte, verfasste Gehrer einen sorgfältig recherchierten, ausführlichen Artikel über das Leben und Werk Schlegels. Auf dieser Veröffentlichung beruht auch der biografische Teil des vorliegenden Textes. Im Zuge der Ausstellung entstand der Kontakt zur Vorarlberger Landesbibliothek, die sich sehr interessiert an der Sammlung zeigte. Vor einiger Zeit überließ dann der besagte Sammler den zeitgeschichtlich interessanten Teil der Schlegel-Fotos der Bibliothek, um die Digitalisierung und in weiterer Folge den Zugang für die Öffentlichkeit und die Forschung zu ermöglichen.
Die Qualität und der Inhalt der Sammlung ist eng mit der Biografie des Fotografen Werner Schlegel verknüpft, die
VORARLBERG UNTERM AKENKREUZH
Von Thomas Feurstein
LANDESBIBLIOTHEK | THEMA VORARLBERG | AUSGABE 95 | FEBRUAR 2024 | 36
FOTOS: VORARLBERGER LANDESBIBLIOTHEK/SAMMLUNG WERNER SCHLEGEL
Baldur von Schirach bei der Kundgebung in der Bregenzer Römerstraße.
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mithilfe von persönlichen Dokumenten aus dem Nachlass teilweise rekonstruiert werden konnte.
Schlegel wurde als drittes von vier Kindern in Bregenz geboren und wuchs in der Gallusstraße auf. Er begann eine Fotografenlehre im renommierten Bregenzer Fotohaus Risch-Lau, verbrachte nach bestandener Gesellenprüfung einige Zeit im deutschen Ausland, kehrte aber bereits 1926 wieder nach Vorarlberg zurück. Hier begann er zuerst als Angestellter, später als Kompagnon von Pankraz Sonntag im Fotogeschäft Immler seine Karriere als Fotograf in Bregenz. 1936 legte Schlegel die Meisterprüfung ab und erhielt 1938 seinen Gewerbeschein. Schon früh identifizierte er sich mit den Ideen der aufstrebenden Nationalsozialisten, so trat er schon 1933 der damals in Österreich noch illegalen NSDAP bei, und wurde auch Mitglied der SA (Sturmabteilung). Auch beruflich profitierte er nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich von seiner Gesinnung, wurde er doch 1939 zum Innungsmeister der ideologisch geprägten „Handwerkerinnung für das Photografengewerbe“ ernannt. Trotzdem erhielt er keine Freistellung für den Kriegsdienst und wurde am 1. November 1941 zur Wehrmacht einberufen. Obwohl es bisher kaum Angaben zu seiner Zeit beim Militär gibt, lassen sich die Zugehörigkeit zur „Stabskompanie des Schweren Werferregiments 1“ und später zur „Panzer-Propaganda-Kompanie 691“ nachweisen, wo er vermutlich in seiner Funktion als Fotograf tätig war. Unteroffizier Werner Schlegel starb am 10. Jänner 1945 beim Rückzug der Ostfront im ostslowakischen Dorf Budimir, nahe Košice.
Wenn auch hier nur der historisch bedeutsame Teil der Schlegel-Fotos behandelt wird, sollen aber andere sehr bemerkenswerte Genres in seinem Werk nicht unerwähnt bleiben. Er produzierte unter seinem Namen kommerzielle Ansichtskarten, steuerte originelle Fotografien von Wintersportlern für touristische Publikationen bei und versuchte sich sogar als Aktfotograf. Spektakuläre Bilder entstanden in seiner Funktion als Bildreporter: so sind aus dem Jahr 1932 etwa 700 Fotos erhalten, die bei einer Motorradtour aufgenommen wurden, die Schlegel mit drei weiteren Vorarlbergern bis nach Nordafrika führte. Das öffentliche Interesse an den Abenteurern war enorm, und ihre Rückkehr wurde in Bregenz wie ein Volksfest zelebriert.
An zwei exemplarischen Beispielen aus dem Jahr 1939 soll gezeigt werden, wie Schlegel mit seinen Propagandafotos die Nationalsozialisten buchstäblich ins rechte Licht rückte. Ob die Fotos im Auftrag der Partei entstanden sind, ist bisher unbekannt und könnte Inhalt weiterer Nachforschungen sein. Zur Datierung und Beschreibung der Fotos dient die Berichterstattung des „Vorarlberger Tagblatts“, das zwischen 1933 und 1945 das Sprachrohr der heimischen Nationalsozialisten und ab März 1938 die einzige Tageszeitung Vorarlbergs war, nachdem alle anderen Medien ausgeschaltet worden waren. Dort wird am 7. Juli 1939 in großer Aufmachung berichtet, dass Reichsjugendführer Baldur von Schirach zum Abschluss einer mehrtägigen Besichtigungsfahrt am Tag zuvor den Gau Tirol-Vorarlberg besucht hat und – wie
die Fotos zeigen – dabei offensichtlich auf der ganzen Reise von Werner Schlegel begleitet wurde. Der Tag begann mit dem Empfang der aus Tirol kommenden Wagenkolonne am Arlbergpass, worauf Kundgebungen in Langen am Arlberg, Dalaas, Schruns, Bludenz und schließlich in Schlins folgten, wo von Schirach den Grundstein für das erste HJ-Heim der Ostmark legte, das dann allerdings nie gebaut wurde.
Weiter ging die Fahrt über Bludenz, Feldkirch, Dornbirn in den Bregenzerwald, wo der Besuch mit einem nächtlichen Aufmarsch in Bezau endete. Das „Tagblatt“ berichtete damals, dass dieser Tag „in der Geschichte der Hitlerjugend unseres Landes für immer ein festlicher Erinnerungstag bleiben wird“ Am nächsten Morgen zeigte sich der Reichsjugendführer, der im Hotel „Weisses Kreuz“ in Bregenz abgestiegen war, noch einmal den hauptsächlich jugendlichen
bekannte Schriftsteller Ferdinand von Schirach, fällte 2011 ein vernichtendes Urteil über seinen Großvater: „Seine Verbrechen waren organisiert, sie waren systematisch, kalt und präzise.“
Das zweite Beispiel ist der Besuch von Robert Ley, dem Führer der DAF (Deutsche Arbeitsfront), der am 24. Mai 1939 die Baumwollspinnerei und Weberei Kastner in Thüringen besuchte. Nach seiner Ansprache, in der er eine glorreiche Zukunft für die Arbeiterschaft unter nationalsozialistischer Führung ankündigte, wurde in ein „dreifaches Sieg-Heil auf den Führer eingestimmt“ („Vorarlberger Tagblatt“). Robert Ley nahm sich als einer der Hauptangeklagten der Nürnberger Prozesse 1945 in Haft das Leben.
Die Vorarlberger Landesbibliothek hat es sich nun zum Ziel gesetzt, die circa 4000 Fotos zu veröffentlichen und damit der Forschung zugänglich zu machen. Dabei stellen sich viele Fragen,
Besuchern. „HJ, BDM, JM und Pimpfe hatten vor dem Hotel Aufstellung bezogen, um dem Reichsjugendführer zu huldigen.“ Damit sind die nationalsozialistischen Jugendorganisationen Hitler-Jugend, Bund Deutscher Mädchen, Jungmädelbund sowie die Jüngsten, die Pimpfe, gemeint.
Schirach soll sich im Rückblick sehr lobend über seinen Besuch in Vorarlberg geäußert haben, lauschten doch etwa in Schruns 700 Besucher seiner Ansprache. Die NS-Propagandamaschinerie hatte ganze Arbeit geleistet, denn es waren Sonderzüge organisiert worden, die Jugendliche aus dem ganzen Land zu den Kundgebungen transportierten.
Der auf den Fotografien so umjubelte Baldur von Schirach wurde 1931 zum Deutschen Reichsjugendführer ernannt. Von der ihm anvertrauten Hitler-Jugend verlangte er „letzte Einsatzbereitschaft“, die „keine Frage nach dem privaten Schicksal stellt“ und die für Hitler „auch gegen die Hölle marschieren wird, wenn er das will“. 1940 wurde er Gauleiter und Reichsstatthalter von Wien und war dort als überzeugter Antisemit für die Deportation der Wiener Juden verantwortlich, da er sich zum Ziel gesetzt hatte, Wien als erste Großstadt „judenfrei“ zu machen, wofür er auch in den Nürnberger Prozessen zu 20 Jahren Haft verurteilt wurde. Er verbüßte die Haft in Berlin-Spandau und verstarb 1974 in Freiheit. Sein Enkel, der
deren Beantwortung sich auch schon eine wissenschaftliche Tagung der Österreichischen Nationalbibliothek in Zusammenarbeit mit dem Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien zum Ziel gesetzt hat. Würde etwa ein seriöser Verlag NS-Propaganda unkommentiert und unkritisch wieder veröffentlichen? Wohl kaum, denn sonst würde er sich der Wiederbetätigung oder anderer Vergehen schuldig machen. Ebenso wenig können dies Bibliotheken in ihrer ungewohnten Rolle als Herausgeber digitaler Texte und Fotografien kritischen Inhalts tun. Sie werden daher eine ausgewogene Balance finden müssen – zwischen dem freien Zugang zu Information und der Verantwortung für die korrekte Präsentation und Interpretation von sensiblen historischen Materialien. Die Fotos dürfen demnach nicht isoliert veröffentlicht werden, sondern müssen immer in den historischen Kontext gestellt werden. In der Landesbibliothek bietet sich die Chance, die Sammlung Schlegel nach diesen Prinzipien beispielhaft zu erschließen und zu veröffentlichen, da mit Severin Holzknecht ein Mitarbeiter zur Verfügung steht, der bibliothekarisches und historisches Fachwissen in sich vereint. Das Resümee der Tagung an der Österreichischen Nationalbibliothek könnte durchaus auch für das aktuelle Projekt der Landesbibliothek gelten: „Spannende Zeiten für die Kultureinrichtung und Gedächtnisinstitution Bibliothek.“
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Robert Ley – rechts oben – bei seinem Betriebsbesuch in der Textilfabrik Kastner in der Gemeinde Thüringen.
AKENKREUZ Feurstein >>
DER FEBRUAR 1934 – S DER ÖSTERREICHISCH DER FEBRUAR 1934
Von Peter Melichar
In der österreichischen Zwischenkriegszeit folgte eine Krise auf die nächste, zu den furchtbarsten Ereignissen dieser Ära gehört der Februaraufstand 1934. Wenn auch medizinische Begriffe für historische Ereignisse problematisch sind, kann man hier wohl den Begriff des Traumas anwenden. Für die Sozialdemokraten steht es für eine bittere Niederlage und die endgültige Zerstörung der Demokratie, begonnen schon ein Jahr zuvor, im März 1933. Für die Anhänger der Volkspartei hat der Februar 1934 die Gewaltbereitschaft der Arbeiterbewegung unter Beweis gestellt. Obwohl immer weniger Leute überhaupt wissen, was damals geschehen ist, scheinen doch viele der heutigen Verständigungsschwierigkeiten zwischen den politischen Gegnern, insbesondere der ÖVP und der SPÖ mit den damaligen Auseinandersetzungen zu tun zu haben.
In den unmittelbaren Jahren nach dem Ersten Weltkrieg versuchte eine Koalition aus Sozialdemokraten, Christlichsozialen und Großdeutschen die Kriegsfolgen zu bewältigen. Eine Schuldenlast musste abgetragen werden, das hatte eine gewaltige Inflation zur Folge, es galt eine enorme Überzahl an Beamten abzubauen. Nach knapp zwei Jahren zerbrach diese Koalition an der Frage des Heerwesens und die großen Parteien begannen, einander mit immer größerem Misstrauen zu belauern. Die sozialdemokratische Partei war zwar die stärkste Partei, konnte aber keine absolute Mehrheit erreichen. Umgekehrt waren die Christlichsozialen gezwungen, mit den Großdeutschen und anderen Kleinparteien zu koalieren. Die Konservativen warfen den Sozialdemokraten vor, dass Partei und Gewerkschaften immer wieder – in Form von Demonstrationen
und Streiks – Arbeitermassen einsetzten, um politische Forderungen durchzusetzen. Insbesondere bei Post und Bahn galt dies als höchst bedrohlich und Einheiten einer technischen Nothilfe wurden aufgestellt, um bei Streiks Gegenmaßnahmen einleiten zu können. Die Formationen der technischen Nothilfe wurden zu bewaffneten Einheiten des Heimatschutzes oder der Heimwehren ausgebaut, mit Unterstützung durch Gelder des Bankenverbandes und der gewerblichen und industriellen Wirtschaftsverbände. 1923 stellte die sozialdemokratische Partei diesen Heimwehren bewaffnete Formationen des „Republikanischen Schutzbundes“ entgegen. Die Bewaffnung dieser Verbände war nach dem Staatsvertrag von St. Germain verboten, wurde aber von den staatlichen Organen mehr oder minder geduldet. Hin und wieder wurden die Waffenverstecke der Heimwehrverbände oder des Schutzbundes von Polizei oder Gendarmerie ausgehoben und die Waffen, allesamt aus Beständen der alten Armee, beschlagnahmt. Während der Schutzbund immer der sozialdemokratischen Partei unterstellt blieb, entwickelten sich die Heimwehrverbände zu einer eigenen politischen Bewegung, die ganz unverhohlen gegen die Demokratie auftrat.
In den regierenden Parteien dominierten anfangs die demokratischen Kräfte, im Zuge der sich zuspitzenden wirtschaftlichen Krise mehrten sich Stimmen, die für eine Modifikation der parlamentarischen Demokratie eintraten. Mehrfach gab es Versuche, die in der Verfassung festgeschriebenen Rechte der Opposition zu schmälern. Dagegen verwahrte sich die sozialdemokratische Partei und verlautbarte 1926 in ihrem „Linzer Programm“:
Die Bourgeoisie wird nicht freiwillig ihre Machtstellung räumen. Findet sie sich mit der ihr von der Arbeiterklasse aufgezwungenen demokratischen Republik ab, solange sie die Republik zu beherrschen vermag, so wird sie versucht sein, die demokratische Republik zu stürzen, eine monarchistische oder faschistische Diktatur aufzurichten […]. Wenn es aber trotz allen diesen Anstrengungen der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei einer Gegenrevolution der Bourgeoisie gelänge, die Demokratie zu sprengen, dann könnte die Arbeiterklasse die Staatsmacht nur noch im Bürgerkrieg erobern. […] Wenn sich aber die Bourgeoisie gegen die gesellschaftliche Umwälzung, die die Aufgabe der Staatsmacht der Arbeiterklasse sein wird, durch planmäßige Unterbindung des Wirtschaftslebens, durch gewaltsame Auflehnung, durch Verschwörung mit ausländischen gegenrevolutionären Mächten widersetzen sollte, dann wäre die Arbeiterklasse gezwungen, den Widerstand der Bourgeoisie mit den Mitteln der Diktatur zu brechen. Zur
Um diese Passage entzündete sich ein Streit um die Frage, wie das auszulegen sei. Allein das Bekenntnis, „mit den Mitteln der Diktatur“ gegen das „Bürgertum“ vorzugehen, falls man sich dazu gezwungen sähe, weckte die schlimmsten Angstfantasien. Und dann kam der 15. Juli 1927. An diesem Tag fand in Wien eine Großdemonstration statt – begleitet von einem Streik der städtischen E-Werke – ausgelöst durch ein Gerichtsurteil, das tags zuvor drei Mitglieder der Frontkämpfer (auch ein bewaffneter Wehrverband, bestehend aus Offizieren und ehemaligen Soldaten) freigesprochen hatte. Sie waren angeklagt, weil sie im burgenländischen Schattendorf auf Demonstranten geschossen hatten. Dabei waren ein Erwachsener und ein Kind getötet worden. Unter bis heute ungeklärten Umständen kam es zum Brand des Justizpalastes. Gegen die Demonstranten, die Feuerwehr und Rettungskräfte blockierten, wurde die Polizei eingesetzt, die in die Menge schoss. Dabei wurden etwa 90 Personen getötet. Die Führung der sozialdemokratischen Partei scheiterte an diesem Tag sowohl mit ihrem Versuch, die Demonstranten zu bändigen, es gelang auch nicht, die für den Schießbefehl Verantwortlichen zum Rücktritt zu bewegen.
Dieses Ereignis – als „Justizpalastbrand“ oder „Julirevolte“ bezeichnet – wurde von Manchen als misslungener Putschversuch der Sozialdemokraten gedeutet, obwohl klar war, dass weder die Demonstration noch der Streik von der Parteileitung geplant war. Den Heimwehren und ihren Förderern war der
ZEITGESCHICHTE | THEMA VORARLBERG | AUSGABE 95 | FEBRUAR 2024 | 38 FOTOS: BUNDESARCHIV DEUTSCHLAND/BILD 102-00329, BEIGESTELLT
Person PETER MELICHAR ist Historiker im vorarlberg museum. ›
EIT 90 JAHREN EIN TRAUMA EN GESCHICHTE
15. Juli 1927 ein Signal. Sie hatten die Schwäche der sozialdemokratischen Partei erkannt und gingen daran, ihr Ziel zu verwirklichen: die Errichtung einer faschistischen Diktatur nach dem Vorbild Mussolinis. Sie planten – auch von Geldern aus Ungarn und Italien unterstützt – nach dem Muster des „Marschs auf Rom“ einen „Marsch auf Wien“.
Der Zusammenbruch der beiden größten Banken Österreichs, zuerst im Herbst 1929 der Bodencreditanstalt, dann im Mai 1931 der Creditanstalt, verschärfte die Lage: Um einen Staatsbankrott zu vermeiden, war eine große Anleihe notwendig, über die im Sommer 1932 im Nationalrat abgestimmt werden musste. Mit Müh und Not erreichte die Regierung Dollfuß die nötige Mehrheit, eine Erfahrung, die dem ohnedies geringen Vertrauen in das parlamentarische System nicht zuträglich war. Zwischen 1931 und 1933 erstarkte zudem die Nazibewegung. Die NSDAP eroberte nicht nur Gemeinderäte und Landtage, sondern versuchte auch die etablierten Parteien und ihre Funktionäre durch Gewaltaktionen einzuschüchtern. Vor allem die Christlichsozialen befürchteten, bei den nächsten Nationalratswahlen Stimmen an die Nazis zu verlieren. Es mehrten sich in der Partei die Stimmen, die eine Verhinderung der Wahlen um jeden Preis forderten. Unterstützt wurden sie dabei von den Heimwehren, deren Putschversuch im September 1931 kläglich gescheitert war und nun Dollfuß bei der Zerstörung der Demokratie unterstützten.
Als sich im März 1933 der Nationalrat bei einer Abstimmung durch den Rücktritt aller drei Nationalratspräsidenten selbst blockierte, nutzte Bundeskanzler Dollfuß diese Geschäftsordnungspanne
aus und ließ das neuerliche Zusammentreten des Nationalrates mit Gewalt verhindern. In der Folge regierte er mit Verordnungen und hebelte den Verfassungsgerichtshof aus, der das hätte verurteilen müssen. Gleichzeitig wurden die Maßnahmen gegen die Arbeiterschaft und insbesondere gegen den Republikanischen Schutzbund intensiviert. Laufend kam es zu Durchsuchungen von Arbeiterheimen und anderen Einrichtungen der Partei. Sämtliche Vermittlungsversuche zwischen gemäßigten Sozialdemokraten und dem demokratisch gesinnten Flügel der Christlichsozialen scheiterten. Unter den Sozialdemokraten hatte es seit Jahren Meinungsverschiedenheiten über die Rolle des Republikanischen Schutzbundes gegeben. General Theodor Körner, der für die Sozialdemokraten im Bundesrat saß, war 1929 empört aus dem Schutzbund ausgetreten, weil er dessen Militarisierung ablehnte. Er wusste als Experte, dass eine militärisch aufgerüstete und ausgebildete Formation mit immerhin 80.000 Mitgliedern bei einer Konfrontation mit regulärem Militär, bewaffneter Polizei und Gendarmerie machtlos sein würde und lehnte diese „Soldatenspielerei“ ab. Seine Überlegungen zu Bürgerkriegsszenarien wurden von der Parteiführung nicht berücksichtigt und es hatte den Anschein, als hätte die Partei den Schutzbund wegen seiner Funktion als Überlaufventil für die jungen Hitzköpfe in der Partei eher halbherzig am Leben erhalten, auch nach seinem Verbot durch die Regierung im März 1933.
Während die Regierung autoritär regierte und eine entsprechende Verfassung vorbereitete, Versuche der sozialdemokratischen Führung, mit Funktionä-
ren der Christlichsozialen ins Gespräch zu kommen, erfolglos blieben, kam es laufend zu Zusammenstößen zwischen der Heimwehr und den Schutzbündlern. Bei einer Veranstaltung der Heimwehr am 11. Februar 1934 verkündete der Heimwehrführer Emil Fey in Langenzersdorf provokant: „Wir werden morgen an die Arbeit gehen und wir werden ganze Arbeit leisten!“ Am gleichen Tag informierte Richard Bernaschek, seit 1926 Landesleiter des oberösterreichischen Schutzbundes, die Parteileitung in Wien von einem Beschluss, dass man auf weitere Durchsuchungen mit bewaffnetem Widerstand reagieren würde. Die Parteileitung versuchte das zu verhindern und zitierte Bernaschek nach Wien. Doch Bernaschek kam nicht und als am nächsten Tag, übrigens der Rosenmontag, das „Hotel Schiff“ in Linz, Parteizentrale der Sozialdemokraten, durchsucht werden sollte, reagierten Funktionäre des Schutzbundes tatsächlich mit Waffengewalt und initiierten damit einen Bürgerkrieg. Die Nachrichten vom bewaffneten Widerstand verbreiteten sich und lösten vor allem in Industriestädten und in Wien Kämpfe aus. Gegen die Exekutive, das Militär und die Heimwehren hatte der Schutzbund keine Chance, nach drei Tagen war der Aufstand beendet.
Selbst um die Opferzahlen entstand ein Streit: 350 Tote waren nach amtlicher Zählung zu beklagen (112 Angehörige des Militärs, der Exekutive oder der Heimwehren, der Rest Schutzbündler und Zivilisten), Sozialdemokraten sprachen von wesentlich höheren Opferzahlen (2000 Tote, 5000 Verletzte). 24 Kämpfer wurden zum Tode verurteilt, neun wurden hingerichtet, 15 begnadigt. Alle prominenten Politiker der
Sozialdemokraten, die nicht ins Ausland geflüchtet waren, wie etwa der ehemalige Staatskanzler Karl Renner und Karl Seitz, der amtierende Bürgermeister von Wien, wurden verhaftet und meist viele Monate im Gefängnis festgehalten, obwohl sie persönlich nicht an den Kämpfen beteiligt waren. Die Partei wurde verboten, alle ihre Vereine aufgelöst, ihr Vermögen eingezogen, viele Mitglieder und Funktionäre verloren ihren Arbeitsplatz.
Die Regierung konnte nun ungehindert von lästiger Opposition ihr autoritäres Regime etablieren. Bundeskanzler Dollfuß wurde im Juli 1934 selbst bei einem Putschversuch der Nationalsozialisten ermordet, um seine Person in Folge ein Opferkult inszeniert. Noch heute diskutiert man, ob es sich um eine „‚halb-faschistisch‘-autoritäre Diktatur“ (Gerhard Botz) oder um ein „klerikalfaschistisches Regime“ (Klaus-Jörg Siegfried) gehandelt habe, um eine „Regierungsdiktatur“ (Helmut Wohnout), eine „Kanzlerdiktatur“ (Manfried Welan) oder um einen „Beamtenfaschismus“ (Ewald Wiederin). Mittlerweile scheint sich der nicht unumstrittene Begriff des „Austrofaschismus“ durchgesetzt zu haben und das Porträt von Dollfuß, das bis vor einigen Jahren in Räumlichkeiten des ÖVP-Parlamentsklubs zu sehen war, ist mittlerweile in einem Museumsdepot verschwunden. Wichtiger als die Entsorgung von problematischem Kulturgut und selbst wichtiger als das Engagement um die richtige Benennung eines Regimes, das sich durch Gewaltakte etablierte, wäre die Erforschung der Frage, wie man Kommunikationsprobleme zwischen politischen Gegnern oder gar Feinden im Ernstfall und – wenn möglich – auch schon davor beheben könnte.
39 | FEBRUAR 2024 | AUSGABE 95 | THEMA VORARLBERG | ZEITGESCHICHTE
Soldaten des Bundesheeres während des Aufstands der republikanischen Schutzbündler im Februar 1934 vor der Oper in Wien.
Zur Person
OTFRIED HÖFFE
* 1943 in Leobschütz, ist emeritierter Ordinarius für Philosophie an der Universität Tübingen, hat aber noch eine Teilprofessur an der renommierten Tsinghua Universität in Peking inne. Seine Forschungsschwerpunkte sind Aristoteles und Kant sowie Moralphilosophie, angewandte Ethik und Politische Philosophie. Von ihm sind mehr als dreißig Monographien erschienen, unter anderem der in diesem Interview thematisierte Essay: Otfried Höffe, „Was hält die Gesellschaft noch zusammen?“, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart, 2021. Sein aktuelles Buch trägt den Titel „Immanuel Kant heute“, S. Marix Verlag, Frankfurt/ Main, September 2023.
„Das ist doch eine Schande“
Von Andreas Dünser
INTERVIEW | THEMA VORARLBERG | AUSGABE 95 | FEBRUAR 2024 | 40 FOTO: ANDY RIDDER/VISUM/PICTUREDESK.COM
Der deutsche Philosoph Otfried Höffe, von der „FAZ“ anlässlich seines 80. Geburtstags „ein dringlicher Denker“ genannt, spricht im Interview über den Zusammenhalt in der Gesellschaft, aber auch über den Konformitätsdruck, der heutzutage von lautstarken Minderheiten ausgeht. Der renommierte Philosoph fragt: „Warum sind meinungsbildende Kräfte in der Gesellschaft derartig verbohrt?“
Herr Professor, Sie widmen sich in einem Essay der spannenden Frage, was die Gesellschaft noch zusammenhält. Von den Kirchen, den Familien, der Politik geht heute ja kaum noch gesellschaftliche Bindekraft aus …
Obwohl die Bindekräfte in gewissem Ausmaß in Kirchen und Familien noch geblieben sind, auch in den Betrieben, in denen man arbeitet, sind sie schwächer geworden. Sie haben an Kraft verloren.
Warum also halten moderne Gesellschaften, anstatt zu zerfallen, immer noch zusammen?
Die Antwort liegt auf der Hand. Weil es mindestens zwei religionsunabhängige Bindungen gibt: ein allen Menschen gemeinsames Moralbewusstsein und ein allen Menschen gemeinsames Gespür für Fairness und Anstand, obwohl immer wieder dagegen verstoßen wird.
Und doch scheint der Egoismus in der Gesellschaft zuzunehmen. Sie haben in Ihrem Essay ein bemerkenswertes Zitat angeführt: ‚Wo das Interesse allein regiert … … ist jedes Ich mit jedem anderen auf Kriegsfuß.‘ Das ist eine wunderbare Bemerkung von Emile Durkheim, einem der ersten Soziologen. Aber man muss fragen, ob es denn stimmt, was immer behauptet wird: dass zunehmend egoistische Menschen untereinander nur noch mit Ellbogen Kontakt pflegen und sich unfair und unsozial verhalten. Ich sehe darin eine Fehldiagnose, die einem Bemühen, alles zu kritisieren, allerdings sehr zupass kommt.
Eine Fehldiagnose?
Vergessen wir nicht das hohe Maß an ehrenamtlicher Tätigkeit, das viele Menschen pflegen. Das ist doch ein Zeichen, dass sich Menschen gleichwohl für die Interessen anderer einsetzen. In der Flüchtlingskrise beispielsweise wären unsere Gesellschaften längst zusammengebrochen, wenn nicht so viele Menschen mit so viel Engagement ehrenamtlich tätig wären. Wir haben also beides und beides zugleich: ein hohes Maß an Eigenbewusstsein und ein hohes Maß an sozialer Verantwortung.
Ihre gute Nachricht lautet: ‚Bislang haben die Demokratien noch alle Katastrophenszenarien als voreiligen Pessimismus entlarvt.‘
Das trifft glücklicherweise zu. Trotz Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Umweltkrise und anderer Krisen sind moderne Gesellschaften noch lange nicht zusammengebrochen. Das ist eine Tatsache, die Katastrophendiagnostiker zur Kenntnis nehmen sollten. Unter Soziologen ist es zwar verbreitet, eher das Auseinanderbrechen als das Zusammenhalten zu betonen. Darin zeigt sich jedoch eine fast ideologische Voreingenommenheit statt der von ihrem Fach her gebotenen Fähigkeit und Bereitschaft zur wirklichkeitsgerechen Diagnose.
Die Demokratie …
Der Demokratie gelingt es, gegen ihre immer wieder neuen Bedrohungen die zu deren Bewältigung erforderlichen Kräfte zu entfalten. Ungefährdet ist sie gleichwohl nicht. Sie hat beispielsweise mit einem neuartigen Problem zu kämpfen.
Einem neuartiges Problem?
Politische Denker wie einst John Stuart Mill warnten vor einer Diktatur der Mehrheit: vor ihrem die Freiheit bedrohenden Konformitätsdruck. Dieser Konformitätsdruck droht jedoch mittlerweile eher von der anderen Seite: von Minderheiten, die recht aggressiv und in großer Intoleranz das öffentlich-rechtliche Denken und Sprechen in ihre Richtungen nicht bloß zu drängen, sondern sogar zu zwingen versuchen. Der berechtigte Kampf gegen jede Diskriminierung schlägt um in beinahe Sonderrechte von Minderheiten. Nehme man als Beispiel die heikle Frage des Feminismus. Dass alle Frauen gleichberechtigt sein sollen, ist konkurrenzlos und kompromisslos richtig. Aber das darf nicht dazu führen, wofür es leider zahlreiche Beispiele gibt, bei der Vergabe von Professuren und anderen hochrangigen Positionen aufgrund ideologischer Vorentscheidungen der Qualifikation ein geringeres und dem biologischen Geschlecht ein größeres Gewicht zu geben.
Sie sagten zuletzt dem Magazin ‚Cicero‘, dass es unserer politischen Kultur sowohl an der Fähigkeit als auch an der Bereitschaft fehlen würde, sich für vernünftige Lösungen zu entscheiden…
Das trifft meines Erachtens bedauerlicherweise zu. Solange der Machterhalt und das Wohl der Partei wichtiger sind als das Gemeinwohl, fallen vernünftige Lösungen schwer. Das ist, man muss es so klar sagen, eine moralische und eine politische Schande. Die gewählten Politiker haben einen Eid geschworen, sich für das Wohl ihres Volkes einzusetzen und am Ende…
Steht diesen fehlenden vernünftigen Lösungen auch die Angst der Politiker entgegen, das Falsche zu formulieren, das Falsche zu tun? Und damit die zuvor erwähnten Minderheiten gegen sich aufzubringen?
Hier kann man mit einem Zitat antworten: „One man with courage is a majority“. „Ein Mensch mit Zivilcourage ist eine Mehrheit“, wie ein US-amerikanischer Präsident, Andrew Jackson, es formuliert hat. Was wir von jedem Bürger erwarten, Zivilcourage, können und müssen wir auch von jedem verantwortlichen Politiker erwarten. Wenn er stattdessen stärker am Erhalt seiner und am Wohl seiner Partei interessiert ist, pflegt er einen klaren Machiavellismus.
Sie verweisen im Essay auch auf Kant. Sie postulieren: ‚Statt sich aus Faulheit und Feigheit fremden Autoritäten zu unterwerfen, soll man selbst couragiert denken.‘
Kant hat die Frage, was Aufklärung ist, bekanntermaßen so formuliert: ,Sapere aude! Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen.‘ Wer sich seines eigenen Verstandes bedient, schaut auf die eigene Verantwortung, und schiebt sie nicht auf die Eltern, die Lehrer oder ,die Gesellschaft‘. Man ist vielmehr selbst gefragt und selbst gefordert. In der Wirklichkeit aber ist die Neigung, immer die anderen verantwortlich zu machen, viel zu groß. ,Natürlich‘ sind Intelligenz und wissenschaftliches Denken unterschiedlich verbreitet. Den Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, den kann freilich jeder aufbringen. Das ist ein Punkt, den Kant als zutiefst demokratischer Denker immer wieder betont.
Wobei denken lassen bequemer ist als selbst denken.
Das mag wahr sein. Viele halten es für bequemer, zum Beispiel sich in Fragen der Gesundheit nur an den Arzt und in Fragen der Moral – hier längst immer weniger – nur an den Pfarrer zu wenden.
Man hört es im Gespräch und liest es in Ihren Büchern: Sie sind ein Mann der klaren Worte. Aber der Raum für Argumente wird, überwacht von der Moral-Polizei, immer enger.
Ohne Frage darf es nirgendwo, vor allem jedoch in einer freiheitlichen Demokratie einen im Voraus festgelegten Meinungskorridor geben. Tatsächlich fehlt es häufig an Courage, dagegen anzugehen – und zu sagen, dass beispielsweise das öffentlich-rechtliche Fernsehen immer wieder seine Machtposition missbraucht. Man darf auch nicht vergessen, dass gewisse kirchliche Kreise von einer Moralpolizei nicht fern sind.
Diese Sprach-Tabus, dieser festgelegte Meinungskorridor, das wird doch den Philosophen in Ihnen immens ärgern.
Da haben Sie recht! Wobei mich das nicht nur als Philosophen, sondern auch als Staatsbürger, als mündigen Bürger ärgert.
Wer nicht gendert, ist frauenfeindlich. Wer die Klimakleber nicht mag, ein Umweltsünder. Wer gegen den unbegrenzten Zuzug argumentiert, ein Ausländerfeind. Es gibt genügend Beispiele.
Ja. Ein kleines, aber sprechendes Beispiel: von den drei Sternsingern darf nicht mehr wie bisher üblich einer schwarz angemalt sein. Wobei man darüber den Kopf schütteln muss: Symbolisiert werden doch die Weisen aus dem Morgenland. Wenn einer von ihnen als ein Schwarzer erscheint, so wird ihm doch ein Ehrentitel zugesprochen. Die Schwarzen werden hier nicht unterdrückt, sondern zu einem Vertreter der intellektuellen und geistigen Spitzenkräfte erklärt. Aber so weit denkt keiner. Manchmal schon hier, deutlicher mit anderen Ansichten, gilt man als rechtsextrem, sogar als verfassungsfeindlich. Wegen der Bedeutung darf man es wiederholen: Es ist eine Schande, dass eine Gesellschaft, die als Demokratie von den Debatten lebt, den Meinungskorridor im Voraus festlegt und immer enger macht. Da zeigt sich die Macht gewisser Gruppen, denen das gelungen ist – etwa beim Gendern, oder bei der absoluten Übermacht, die dem Klimaschutz über andere Politikfelder eingeräumt wird. Warum …
Ja, bitte?
gegeneinander abzuwägen und dann Vernünftiges zu beschließen.
Dort, bei den erwähnten Minderheiten, regiert das Motto: Wer nicht für mich ist, ist gegen mich.
Das ist wahr. Wobei der Satz, aus dem Neuen Testament bekannt, für eine allein seligmachende Religionsgemeinschaft zutreffen mag, aber in demokratischen Verhältnissen keinen Platz hat.
Mit Wohlwollen kann man diesen lauten Minderheiten zubilligen, die Welt nur verbessern zu wollen. Steht über all dem also der naive Wunsch, in der Welt dürfe es nur Gutes geben?
Das könnte, den Betreffenden aber nicht so bewusst, der Fall sein. Allerdings müssten zumindest die Vertreter christlicher Kirchen sich dem verschließen. ,Im Prinzip‘ kennen sie doch den Gedanken der Erbsünde und reden sie von Todsünden. Sie wissen um die Macht des Bösen, für dessen Überwindung sie den Kreuzestod und die Auferstehung ihres Gründers für notwendig halten. Also müssten sie wissen: Ein nur gutes Leben gibt es nur im Jenseits. Manche kirchlichen Kreise sind mittlerweile freilich mehr an Politik interessiert, als sich hinreichend für Spiritualität, Liturgie und weitere genuin religiöse Dinge verantwortlich zu fühlen. Dabei ist die Vorstellung eines Zusammenhalts in purem Einklang naiv. Eine Ameisenkolonie mit ihrem selbstverständlichen Altruismus ist als Vorbild weder wünschenswert noch existenzfähig. Und eine Welt, in der die Menschen nur einander umarmen und friedliche Lieder singen, ist nicht bloß wirklichkeitsfremd, sondern auch langweilig.
Sie haben für alle, die so denken, die schlechte Nachricht, dass es in der Welt eben nicht nur Schwarz und Weiß gibt und nicht nur Gut und Böse.
„Es ist eine Schande, dass eine Gesellschaft, die als Demokratie von Debatten lebt, den Meinungskorridor immer enger macht.“
Selbst für diese Alternative Gut oder Böse ist die Wirklichkeit viel zu komplex. Bevor wir gewisse Phänomene als weiß, weil gut oder schwarz, weil böse oder als etwas dazwischen einschätzen, müssen wir sehen, dass es für die facettenreiche Wirklichkeit noch andere Beurteilungen gibt, zum Beispiel elegant oder unelegant, schön oder hässlich und klug oder töricht.
Es braucht das offene Wort?
Warum sind meinungsbildende Kräfte in der Gesellschaft derartig verbohrt? Warum wird nicht mehr das gemacht, was die eigentliche Aufgabe der Politik wäre: die verschiedenen Aufgaben, also außer dem Umwelt- und Klimaschutz, auch das Bildungswesen, das Gesundheitswesen und die innere und die äußere Sicherheit, zu erkennen, zu nennen,
Ja klar. Aber ich würde nicht nur sagen, das offene Wort, sondern: den offenen Blick auf die Welt. Den sollten wir uns doch nicht nehmen lassen, wozu wir einmal mehr Kant zum Gewährsmann nehmen können: Es sollen uns nicht die Ärzte oder die Pfarrer oder die öffentlich-rechtlichen Rundfunk-Anstalten sagen, was wir zu denken haben. Wir sollten selbst denken und auch die Unvernunft überwinden, entweder alles schwarz zu malen oder alles gesund zu beten. Wir sollten die Welt nehmen, wie sie ist – aber auch, wo nötig, sie zu verbessern suchen.
Vielen Dank für das Gespräch!
41 | FEBRUAR 2024 | AUSGABE 95 | THEMA VORARLBERG | INTERVIEW
Von Kurt Bereuter
VOM STREIT IN DER DEMOKRATIE
Wesentlich für das Vorhandensein von Politik ist das Phänomen des Konfliktes, ohne Konflikt gibt es keine Demokratie“, konstatiert Politologe Anton Pelinka. Der Konflikt ist somit Wesensmerkmal und Voraussetzung für Demokratie. Einerseits geht es um die Verteilung von politischer Macht, andererseits um die Durchsetzung von Interessen, die in einer offenen Gesellschaft immer divergierend sind, wenn wir einen utopischen Gesellschaftszustand einmal realistischerweise außer Acht lassen.
„Die Unfähigkeit zu streiten, ist demokratiepolitisch zerstörerisch“, sagt die psychoanalytisch orientierte Konfliktberaterin Susanne Jalka, die in Wien ein Institut für Konfliktkultur gründete. Tatsächlich zeigen die „Verhandlungen“ im österreichischen Parlament oft ein unwürdiges Bild von Streitkultur. Zum einen, weil die Entscheidungen zu den einzelnen Abstimmungen schon im Vorfeld in den Klubs gefallen sind, zum anderen, weil es dann nur mehr um das Argumentieren für die eigene Entscheidung und gegen die der Opposition geht, ohne wirklich auf die anders Argumentierenden einzugehen. Eine gute Streitkultur sieht anders aus, hat sehr viel mit Offenheit, Zuhören und dem Suchen nach der besseren Lösung zu tun, die aus dem Streit heraus erst entwickelt wird. Oft wird es ein Kompromiss sein, manchmal ist auch ein Kompromiss nicht zu finden, und dann gilt es immer noch, die Rechte und Anliegen der unterlegenen Minderheit nicht unreflektiert zu übergehen.
Zur Person KURT BEREUTER * 1963, studierte BWL, Philosophie und Politikwissenschaften.
Organisationsberater und -entwickler, freier Journalist und Moderator, betreibt in Alberschwende das Vorholz-Institut für praktische Philosophie.
Literatur: Susanne Jalka, „Streitkompetenz“, Mandelbaum Verlag, 2023
Fehlende Streitkultur
In den Parlamenten fehlen auf allen Ebenen Unternehmerinnen und Unternehmer, weil sie erstens kein (finanziell sicherndes) Rückkehrrecht nach einem politischen Abstecher haben, auch nicht in ihren Markt, und zweitens – gerade in Gemeindeparlamenten – sie Angst haben, dass ihre unternehmerischen Aktivitäten darunter leiden könnten, weil Person und Sache nicht getrennt werden. Es bleibt dahingestellt, ob diese Angst berechtigt ist, aber sie zeugt von mangelnder Streitkultur in der Bürgerschaft.
In einer Demokratie sollte es zum guten Ton gehören, anderer Meinung sein zu dürfen, ohne Sanktionen erwarten zu müssen. Tatsächlich wird aber oft mit moralisch und persönlich abwertenden Haltungen und Aussagen reagiert, dass jemand unfähig oder unwillig ist, „richtig“ zu entscheiden. Der andere hat also nicht einfach eine andere Meinung zur Sache, sondern er wird aufgrund dieser anderen Meinung auch moralisch abgeurteilt. Nicht nur bei Politikern, sondern das lässt sich auch bei Bürgerinitiativen beobachten. Wer sich dort engagiert, hat nicht einfach eine andere Meinung, sondern ist gegen die Befürworter und deshalb ein „Gegner“, nicht nur auf der Sachebene, sondern auch auf der Beziehungsebene. So werden leider auch kritische Unternehmer, die sich gegen politische Entscheidungen engagieren, bei öffentlichen Stellen wie Land und Gemeinden „ausgelistet“ und müssen somit mit persönlichen Konsequenzen für ihr bürgerschaftliches Engagement „bezahlen“. Auch werden soziale Beziehungen bis hin zu Freundschaften gekappt und das ist einer Demokratie und einer zivilisierten Gesellschaft weder würdig noch zuträglich.
Eine andere Meinung zu haben, ist legitim, ist sogar Wesensmerkmal einer Demokratie und schafft oft die bessere Lösung. Dazu braucht es das Gespräch auf demokratischer Augenhöhe und wertschätzender Beziehungsebene.
Streit hat mit Macht und Gewalt zu tun, aber auch mit Rückgrat „Demokratie ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln“, sagt der Künstler Carsten Jost. Nämlich der Sprache und der verbalen Auseinandersetzung statt der physischen Gewalt. Es soll nicht die verbale Gewalt, soziale, strukturelle, physische und psychische Gewalt kleingeredet werden, sondern
im Gegenteil, als solche bezeichnet und angesprochen werden, um die Streitkultur auf möglichst hohes zivilisatorisches, gewaltfreies Niveau zu heben.
Jegliche Macht kann missbraucht werden, aber jeder Missbrauch kann auch benannt und angesprochen werden. Dazu braucht es die Reflexion in der Auseinandersetzung und das sogenannte Rückgrat neben dem Mut, die Dinge beim Namen zu nennen und sich bei manchen dafür – zumindest fürs Erste – oft unbeliebt zu machen. Meistens eben bei jenen, die (zu viel) Macht haben und Macht nützen. Ob es nun ein Unternehmer, ein Politiker, ein Beamter oder ein selbsternannter Bürgervertreter ist. Einerlei. Macht darf und soll zum Thema gemacht werden.
Deliberative Demokratie als Ausweg und Spielwiese?
„Deliberatio“ meint die Beratschlagung und beinhaltet die partizipative Demokratie, in der frühzeitig mit Bürgern in öffentlichen Diskursen wichtige politische Themen erörtert und beratschlagt werden. Damit soll die Bürgerschaft nicht nur gehört, sondern es sollen auch Entwicklungen von Lösungen und Meinungen ermöglicht werden. Gemeint sind damit aber weder pseudodemokratische Bürgerversammlungen, wenn eh schon alles klar ist und die vorgefertigte Entscheidung bürgergerecht „verkauft“ werden soll, noch aufwendige Bürgerbeteiligungsverfahren, die in der Schublade verschwinden. Auf der anderen Seite müssen gerade solche Partizipationsmöglichkeiten schon von einer gewachsenen demokratischen Alltagskultur getragen werden und gut und ehrlich moderiert sein: Neutral, aber auch in einem allparteilichen Sinne, dass jenen auch eine Stimme gegeben wird, die sich verbal oder emotional nicht gleichermaßen einbringen können.
Demokratische Streitkultur
Nur wer Demokratie verstanden hat, weiß, dass Streiten ein wesentlicher Bestandteil von Demokratie ist, diese sogar erst ausmacht, denn sie ist ein Ausfluss der Meinungsfreiheit und im besten Falle verantwortlich, die bessere Lösung zu generieren. So gehört zu jeder Demokratie Streitkultur, für die wir alle mitverantwortlich sind, im Kleinen wie im Großen.
DEMOKRATIE | THEMA VORARLBERG | AUSGABE 95 | FEBRUAR 2024 | 42 FOTOS: ISTOCKPHOTO, BEIGESTELLT
„Nicht alles, was umstritten ist, ist jenseits des Diskutierbaren“
Frau Professorin, was zeichnet eine gute Streitkultur aus?
Eine gute Streitkultur zeichnet aus, dass die zugrunde liegende positive Einstellung zur Meinungsvielfalt auch dann nicht zusammenbricht, wenn Meinungen im Einzelfall anstößig oder schwer erträglich sind. Eine gute Streitkultur ist gegeben, wenn Menschen unterschiedlicher Meinung miteinander in Austausch treten und sich nicht aus dem Diskurs zurückziehen oder aus ihm hinausgedrängt werden.
Und warum ist eine gute Streitkultur gerade in der heutigen Zeit so wichtig?
Streitkultur ist immer wichtig, aber viele Menschen haben gerade in den vergangenen Jahren den Eindruck gewonnen, dass nicht mehr sachlich über bestimmte „heiße Eisen“ gesprochen wird und Andersdenkende oft abschätzig behandelt werden. Ob bei Migration, Klima, Pandemie, Geschlecht oder Nahost, wir können, so meine Überzeugung, unsere Welt und unsere Mitmenschen nur verstehen, wenn wir auf Augenhöhe diskutieren. Und wir können als politisches Gemeinwesen Probleme nur dann lösen, wenn wir aus unterschiedlichen Sichtweisen und Vorschlägen die besten herausfiltern. Dazu aber muss alles auf den Tisch, oder anders gesagt: jeder muss eine Stimme haben.
Welche Rolle spielt Empathie in der Kommunikation, insbesondere wenn es um kontroverse Themen geht?
Eine entscheidende. Die Welt aus der Position einer anderen Person zu sehen, ist nicht möglich. Aber man kann sich durchaus bemühen. Und darum geht es. Es ist gerade bei heiklen Themen hilfreich, dem Gegenüber zu signalisieren, dass man am Verstehen der anderen Position und nicht einzig und allein am Widerlegen und Entgegnen interessiert ist. Häufig wird aneinander vorbei gestritten, wenn das Bemühen um Verstehen ausbleibt. Ein solcher Streit hat keinen Mehrwert, er führt höchstens zu emotionalen Verletzungen und Verhärtungen in den eigenen Ansichten. In Untersuchungen sagen Menschen, die mit Andersdenkenden debattieren mussten, es sei das Schönste für sie gewesen, dass man einander trotz der Unterschiede respektvoll begegnet ist und dass sie das nicht erwartet hatten.
Je unterschiedlicher die Meinungen, desto höher die Dankbarkeit für erwiesenen Respekt.
Welche Auswirkungen hat eine schlechte Streitkultur auf die Gesellschaft?
Ohne gute Streitkultur werden sich Menschen immer weiter voneinander abschotten, weil es auch emotional zu anstrengend ist, sich mit Diskurs-Rüpeln auseinanderzusetzen. Damit gehen der Gesellschaft Stimmen verloren, sie wird ärmer. Zugleich verstärkt sich die Lagerbildung, da laute Extrempositionen sich leichter Gehör verschaffen und medial auch besser verbreiten. Die Andersdenkenden sind dann oft bloß eine Karikatur, im schlimmsten Fall Feinde, die man verachten kann und die nicht wirklich dazugehören. Für eine intakte Demokratie sind nicht nur Institutionen wichtig, sondern auch Bürger, die miteinander respektvoll umgehen. Polemik, scharfe Kritik, das darf es natürlich geben, aber man sollte sich vor Feindbildern hüten, und davor, kein gutes Argument und keinen ehrlichen Vermittler auf der anderen Seite mehr gelten lassen. Hier können symbolische Respektbezeugungen auch in harten Auseinandersetzungen sehr viel bewirken.
Welche Maßnahmen können ergriffen werden, um den Dialog zwischen Menschen mit unterschiedlichen Ansichten zu fördern und dabei konstruktive Ergebnisse zu erzielen?
Von Eva Niedermair
Marie-Luisa Frick (40), assoziierte Professorin am Institut für Philosophie der Universität Innsbruck mahnt im Interview eine bessere Streitkultur ein. Die Tirolerin sagt unter anderem: „Ohne gute Streitkultur werden sich Menschen immer weiter voneinander abschotten, weil es auch emotional zu anstrengend ist, sich mit Diskurs-Rüpeln auseinanderzusetzen.“
„Respektbezeugungen auch in harten Auseinandersetzungen können sehr viel bewirken.“
Philosophin Marie-Luise Frick
Menschen brauchen Räume, um sich zu begegnen und auszutauschen. Virtuelle Räume haben bekannte Vorteile, aber auch gewichtige Nachteile, wie etwa die Simulation von Meinungen, Desinformations-Kampagnen und Anonymität. Ich halte es daher aus demokratischer Sicht für wichtig, neben virtuellen Foren auch klassische physische Räume bereitzustellen: Diskussionsabende, Vortragsrunden, Debattierclubs. In solchen Formaten können Menschen im Idealfall am guten Beispiel lernen, wie man miteinander umgeht und wie nicht. Es ist daher besonders schade, wenn solche Debattenräume unter Druck geraten, wenn Veranstalter sich zu sehr vor Gegenwind fürchten oder manche meinen, bestimmte Ansichten dürfen gar nicht gehört werden. Das stimmt bei einigen extremen Positionen oder Gewaltaufrufen, aber manchmal scheint mir, uns gehen die Proportionen verloren. Nicht alles, was umstritten ist, ist auch schon jenseits des Diskutierbaren.
Warum neigen Menschen dazu, sich in polarisierten Positionen zu verhärten?
Zur Person EVA NIEDERMAIR Redakteurin Thema Vorarlberg
Eine längere Version des Interviews findet sich unter wko.at/vlbg/news/start1
Zu dieser Frage wird derzeit weltweit von Psychologen, Politologen, Soziologen und Philosophen intensiv geforscht. Es scheinen viele Faktoren zusammenzukommen: Meinungsbildung ist ein sozialer Prozess und unterliegt oft Gruppendenken. Man spricht hier von moderner „Stammesbildung“ oder Tribalismus. Es ist auch schlicht einfacher, in Schwarz und Weiß zu denken, denn dadurch erscheint die Welt weniger kompliziert. Aber sie ist kompliziert und das sollte man sich auch selbst zumuten und zugestehen: Für die großen Probleme unserer Zeit gibt es keine einfachen Antworten. Und niemand ist allwissend und unfehlbar. Auch sollten wir nicht vergessen, dass die besten Gespräche immer noch von Angesicht zu Angesicht geführt werden. Wo Menschen sich zeigen und nicht hinter Pseudonymen verstecken und vielleicht nur jemandes PR erledigen. Und wo viel eher die angesprochene Empathie entstehen kann, die wir so dringend brauchen.
Vielen Dank für das Gespräch!
43 | FEBRUAR 2024 | AUSGABE 95 | THEMA VORARLBERG | INTERVIEW
FOTOS: ANDREAS FRIEDLE, DANIEL MAUCHE
Ich erinnere mich, wie mein Vater über Dich sprach, und auch wenn er Dich einen Verrückten nannte, schwang da doch immer große Wertschätzung mit für unseren Verwandten, für den Künstler, für das Andere, für das Kontroversielle, das lustvolle Ausbrechen aus Kleingeist und geistiger Genügsamkeit, ja für das Abenteuer, und so war in meiner Kindheit und Jugend Gottfried Bechtold meine erste und faszinierende Begegnung mit einem Künstler und der Kunst.
1972 lud der große Kurator Harald Szeeman den blutjungen Gottfried Bechtold zu seiner legendären Dokumenta V in Kassel ein. Schon damals zeigte sein Projektvorschlag, sich und seine Familie in einer Vitrine auszustellen, was er vom Gegensatz von Kunst und Leben, Museum und öffentlichem Raum hält, „nämlich rein gar nichts“.
Gottfried Bechtolds Karriere ist auch mit den Anfängen der international erfolgreichen und in Wien beheimateten Galerie Krinzinger verbunden. Sein Betonporsche, den er vor dem Galerienraum aufstellte, brachte „die zeitgenössische Kunst quasi als Skandal erstmals nach Bregenz“. Bechtolds Betonporsche setzte den Anfang einer ungewöhnlichen Künstlerlaufbahn, die vom Überfahren eines Schweinekörpers mit einer Plattwalze über seine wunderschöne Skulptur „readymaid“ („Mädchen!“) am Vorplatz des Festspielhauses bis hin zu seinem Signaturenprojekt reicht.
Früh löste sich Bechtold in Auseinandersetzung mit der amerikanischen Land Art, der Minimal und Concept Art von traditionellen Gestaltungsformen und fand zu einer multimedialen künstlerischen Sprache. So fühlt sich Bechtold im österreichischen Mainstream des expressiv Gestischen, des Psychoanalytischen, des Theatralen und Rituellen, das spritzt, übermalt, schreit, Possen reißt, nicht heimisch. Er sagt: „Es sind die Technik, die Philosophie, die Physik, die Mathematik, die Wissenschaften, die mich interessieren.“
Gottfried Bechtolds Liebe gilt dem Werk Marcel Duchamps, er paraphrasierte „Nu descendant un escalier no. 2“, in dem er Kim Basinger eine Treppe hinabsteigen ließ. Und mit seinem Meisterwerk „Signatur 02“, dem von ihm signierten Silvretta Staudamm befreit er Duchamps Idee des „Readymades“ von
GOTTFRIED BECHTOLD ODER DAS LUSTVOLLE AUSBRECHEN AUS GEISTIGER GENÜGSAMKEIT
Von Gerald A. Matt
ihrer musealen Auratisierung, stellt sie quasi auf den Kopf und vollendet sie dadurch.
Mit der Applikation seiner Unterschrift verwandelte er nicht nur den gigantischen Staudamm in ein Kunstwerk, sondern thematisierte auch die Zwangsarbeit bei der Erbauung des Staudammes. So lotet Bechtold immer wieder nicht nur die Grenzen des skulpturalen, sondern auch jene der gesellschaftlichen Konventionen und Gewissheiten aus.
Gottfried Bechtold blieb bei aller seiner inhaltlichen und medialen Vielfalt immer der Bildhauerei treu, ob er mit seiner 21 Meter langen, fast 1000 Kilogramm schweren Stahlschiene, der Skulptur „Kofler“, die Schwerkraft zum Maß der Form machte oder mit seiner – leider zerstörten – interkontinentalen Skulptur auf dem Vorplatz des UNO-Gebäudes in Wien Urgesteine zwischen 60 und 100 Tonnen installierte.
Auch wenn er mit unterschiedlichsten Medien von Fotografie, Film, Video, Performance, Aktionen, Objekten, Textarbeiten, objets trouvés arbeitete, Bechtold suchte immer den Bezug zur Skulptur, zum räumlich erfahrbaren Objekt, zur Wirklichkeit, zum Alltag, zum Leben. Bloße gedankliche Konstrukte oder weltfremde Konzepte genügten ihm nicht. „So war die Staumauer für mich ein vorgefundenes Objekt, in Form einer 660 Meter langen, 80 Meter hohen Betonskulptur, und die wurde von mir signiert. Ich habe das readymade aus dem Museum entfernt und in die Natur zurückgebracht.“
Seine Werke machen Bechtold zu einem österreichischen Ausnahmekünstler. Der verstorbene Medienkunstpionier und Direktor des Karlsruher ZKM Peter Weibel reihte ihn in die Reihe jener führenden internationalen Künstler wie Buren oder Smithson ein: „Bechtolds Werk steht exemplarisch für die radikale und nachhaltige Überwindung des traditionellen Skulpturbegriffs.“
Eine Hommage an Gottfried Bechtold –anlässlich der Verleihung des Titels „Professor“ durch den Bundespräsidenten.
Zur Person GERALD A. MATT
* 1958 in Hard, ist Kulturmanager, Publizist und Gastprofessor an der Universität für angewandte Kunst Wien.
Bechtold ist einer jener Künstler, die mit ihren Arbeiten virtuos den öffentlichen Raum zum künstlerisches Aktionsfeld machen, einer der politisch ist, ohne sich je politisch vereinnahmen zu lassen oder gar dem Korsett politischer Korrektheit zu unterwerfen. Mit „Unser Mann“ mischt er sich virtuos und spielerisch in den öffentlichen politischen Diskurs ein. „Unser Mann“, das Porträt eines Mannes in den besten Jahren, in Anzug und Krawatte, Vertrauen erweckend in die Zukunft blickend, freundliches Lächeln. Das Konterfei des Künstlers als Politiker, einer, dem man zutraut, die Probleme der Zeit zu lösen. Nur, dass in das gleichbleibende Bechtold-Porträt von Tag zu Tag immer wieder ein anderes Logo einer wahlwerbenden Partei einkopiert wird, FPÖ, SPÖ, ÖVP. Bechtold macht so das Plakat zum Symbolraum eines postideologischen entkernten Allerweltpolitikers. Es geht nicht um Inhalte, sondern um Affektmassage, nicht um Handeln, sondern um Repräsentation, nicht um den Dienst am Gemeinwesen, sondern um die hohle Konsumation einer Leere, die sich als Macht maskiert.
Bechtold ist einer, der keine kleine Brötchen bäckt, bei dem aber Megalomanie nichts mit Größenwahn, sondern mit Mut, unbändigem Gestaltungswillen
HOMMAGE | THEMA VORARLBERG | AUSGABE 95 | FEBRUAR 2024 | 44
FOTOS: WIKIPEDIA/DROMEDAR61, BEIGESTELLT
Mit „Unser Mann“ mischt er sich virtuos und spielerisch in den öffentlichen politischen Diskurs ein –Plakate in Linz im Jahr 2016.
und geistiger Brillanz zu tun hat. Seine Arbeiten in ihren intellektuellen und oft auch physischen Ausbrüchen sprengen oft alle Dimensionen. Bechtold zieht das grandiose Scheitern einem mittelmäßigen Kompromiss vor. So versuchte er über mehrere Jahre hinweg (ab 1980), den vorderen Teil einer Herkules Transportmaschine nach Wien zu bringen, um sie im Palais Liechtenstein, damals das Museum Moderner Kunst, mit dem barocken Illusionshimmel von Andrea Pozzo zu konfrontieren. Der Besucher aus dem Cockpit der Maschine sollte einen spektakulären Blick auf die barocken, über ihm schwebenden Engel werfen können. Treffen mit dem US-amerikanischen Verteidigungsminister Kaspar Weinberger, der Bechtold seine Unterstützung zusagte, bis zu dem Tod eines Waffenhändlers in Angola, der der Lieferung eines Cockpits am Ende im Wege stand, ließen die Idee dieses Kunstwerks zu einem realen Abenteuer werden. Bechtolds großer Obsession, gilt seinen Porsche-Projekten, seinem Lebensprojekt. Mit seinem „Betonporsche“ thematisierte er wie so oft in seiner Arbeit ein Paradoxon. Da ist das Phänomen Auto, Geschwindigkeit, Schönheit des Materials und der Form, menschlicher Erfindungsgeist, Wunder der Technik, andererseits quasi reziprok, Schwere, Stillstand, Unbeweglichkeit, Verkehrsinfarkt, Energieverbrauch, menschliche Destruktion zwischen Aggression, Unfall und Zerstörung der Umwelt.
Mit seiner Trilogie „Signatur“, dem signierten Staudamm, mit der durch die Sonne im Schnee schmelzenden Signatur und der mit einer tonnenschweren, durch Österreich fahrenden, signierten Lok, einem der wohl mobilsten und gleichzeitig schwersten Kunstwerke, die je geschaffen wurden, kehrt Gottfried Bechtold zu seinen Kernthemen zurück, der Beschäftigung mit unterschiedlichen Energiezuständen, mit Gewicht und Geschwindigkeit, Materialität und Immaterialität.
Gottfried Bechtold vergleicht seine Rolle als Künstler gerne mit der eines Testpiloten. Lieber Gottfried, ich wünsche Dir weiter viel Glück bei Deinen waghalsigen künstlerischen Flügen, Kapriolen und wie mein Vater sagte „Verrücktheiten“. Wie verklärte einst Hans Albers das Abenteuer Fliegen: Flieger grüß mir die Sonne und bring mir eine, in deinem Fall Gottfried, noch viele künstlerische Sternschnuppen mit nach Hause.
GEDANKENHAPPEN
Eine
Handvoll Meinungen, zitiert aus anderen Medien
D
er Angeber ist laut, vulgär, stolz auf das Erreichte. Der moralische Angeber geht subtiler vor. Er geht mit seiner moralischen, selbst attestierten Exzellenz hausieren.
Ulf Poschardt, Journalist, in der „Welt“.
Die Politik kann aus der Impfpflicht für künftige Krisen drei Dinge lernen: eine ergebnisoffene Debatte ermöglichen, nicht moralisieren – und nicht glauben, dass es einfache Lösungen für komplexe Probleme gibt.
Bogner, Soziologe,
A
ber wo der Geist des parlamentarischen Anstands schwach ist, dort triumphiert das Sitzfleisch.
Günter Traxler, Kolumnist, im „Standard“.
Hier meine Empfehlung: Hören Sie niemals zu, wenn andere etwas erzählen. Sie wissen es ohnehin viel besser.
Dobelli, Schriftsteller, in der „NZZ am Sonntag“.
Wann genau wurde beschlossen, dass man sich nicht mehr korrekt ausdrücken soll, sondern nur noch wattig-weichgespült reden darf?
Katharina Fontana, Journalistin, in der „NZZ“.
Womöglich wird es Zeit, dass sich die schweigende Mehrheit der Vernünftigen selbst zu Wort meldet. Den öffentlichen Diskurs den Rohen und Lauten zu überlassen, wäre jedenfalls keine gute Idee.
Hans Monath, Journalist, im „Tagesspiegel“.
D
as Bewusstsein, wie man von außen wahrgenommen wird, ist ein wichtiges Korrektiv im Leben.
Daniela Chana, Schriftstellerin, in der „Presse“.
Wir verwechseln Produktivität mit Gehetztheit, diesem rasenden Stillstand, der uns davon abhält, Entscheidendes zu hinterfragen und anders zu machen.
Hans Rusinek, Arbeitsforscher, in „Brand eins“.
45 | FEBRUAR 2024 | AUSGABE 95 | THEMA VORARLBERG | AUFGELESEN
Rolf
Alexander
auf den Österreich-Seiten der „Zeit“.
FOTO: THINKSTOCKPHOTO
WENN KÜNSTLICHE INTELLIGENZ DIE MASSE TRIFFT
Tristan Post ist KI-Experte, freier Berater und Vortragender an der Technischen Universität München. Mit Thema Vorarlberg spricht er über die Gefahren aber auch über die Chancen der generativen KI, die seit ChatGPT, Midjourney und weiteren Tools für die breite Masse verfügbar ist.
Von Eva Niedermair
Für Tristan Post begann sein Weg in die Welt der Künstlichen Intelligenz im Jahr 2018. Als er begann, sich mit dem Themenfeld auseinanderzusetzen, wurde ihm schnell klar, dass KI nicht nur eine technische, sondern vor allem eine strategische Herausforderung darstellen würde; die in Zukunft insbesondere managementbezogene Risiken aufwerfen wird. Bei verschiedenen beruflichen Stationen, vom Masterstudium und der Lehrtätigkeit in London bis hin zu Jobs als KI-Stratege und AI-Lead, in denen er half, Kompetenzen in Unternehmen aufzubauen und einzusetzen, verlor der Deutsche nie seinen Fokus aus den Augen: das Management von KI-Systemen. Heute arbeitet er als freier Berater, unterstützt Unternehmen zu Beginn ihrer KI-Transformation und strebt danach, mit minimalem Aufwand maximale Wirkung zu erzielen.
KI für die Masse
Generative KI und Tools wie ChatGPT, Midjourney und ähnliche brachten aktuelle Anwendungen von KI-Technologie in die breite Masse. „Wir erleben derzeit, wie KI zunehmend zu einem Gebrauchsgegenstand wird“, hält der Experte fest. Er erklärt: „Früher hatten Unternehmen eigene Experten beschäftigt, um Computer nutzen zu können. Heute benötigen sie nicht mehr zwingend ein eigenes Team, das KI-Technologien entwickelt, da oft bereits existierende Lösungen am Markt ausreichend vorhanden sind.“
Entscheidend ist laut Post also nicht die Frage, wie man KI in einem Unternehmen integriert, „sondern wie man mit KI Mehrwert schafft; denn der Fokus sollte immer auf dem Geschäftswert liegen – man muss mit dem Business Value beginnen.“
Langfristig wird KI auch unsere Lebens- und Arbeitsräume verändern, ist sich der Experte sicher: „Es ist wichtig festzustellen, dass die oft in den Zeitungen beschriebene Vorstellung, KI würde zahlreiche Jobs ersetzen, in der Realität keine unmittelbare Gefahr darstellt.“
Viel eher müsse zwischen zwei Arten der KI unterschieden werden: Schwache KI – die in spezifischen Aufgaben hervorragendes leisten kann und teilweise sogar besser als Menschen agiert, etwa beim Sortieren von E-Mails in Spam und Nicht-Spam oder dem Erkennen von Krankheiten auf medizinischen Bildern
– und Starker KI, die ähnlich wie Menschen agiert und ihr Wissen in vielen Bereichen anwenden kann. „Die Entwicklungen, die wir momentan sehen, gehören zum Bereich der Schwachen KI, selbst fortschrittliche Werkzeuge wie ChatGPT“, betont Tristan Post. Jedoch sollten wir keine Angst vor dieser Zeitenwende haben: „Künstliche Intelligenz hilft uns in erster Linie besser zu werden.“ Bezogen auf die Arbeitswelt bedeutet das nur, dass Berufe in Zukunft anders aussehen werden und wir lernen müssen, mit KI zu interagieren. Auch das ist kein neues Phänomen. Denken wir beispielsweise an den Beruf des Schriftstellers, der früher Arbeiten mit einer Schreibmaschine verfassen und in der Bibliothek recherchieren
musste. Heute nutzen wir alle digitalen Technologien, die viele Prozesse erleichtern, obwohl das nicht unbedingt zu einer Reduzierung des insgesamten Arbeitsaufwandes führt. „Möglicherweise verschwinden aber auch einige Jobs“, hält Post fest und zeigt dies anhand historischer Beispiele auf. „Personen, die früher dafür bezahlt wurden, an Fenster zu klopfen, um Leute zu wecken, zeigen, dass sich der Arbeitsmarkt ständig verändert. Heutzutage gibt es Jobs, die vor 100 Jahren undenkbar gewesen wären, wie zum Beispiel ‚Influencer‘.“
Gefahren und Chancen der KI Nichtsdestotrotz sind KI-Systeme einer Fehleinschätzung, einem Bias, unterworfen, die uns allzu oft die Unzulänglichkeiten unserer Gesellschaft widerspiegelt. „Der Ursprung von Bias in KI-Systemen liegt fast immer in den Daten, die zum Trainieren dieser Systeme verwendet werden.“ Post führt weiter aus: „Ein ,Bias‘ tritt auf, wenn ein System voreingenommen ist und das Ergebnis verzerrt oder verfälscht, was besonders problematisch ist, wenn es zu Vorurteilen gegen bestimmte Personengruppen aufgrund von Geschlecht, Alter, Herkunft oder Aussehen führt.“ Dazu führt der Experte aus, dass es viele KI-Algorithmen gibt, die nicht sehr transparent sind, weshalb stetig an deren Verbesserung gearbeitet wird, um sie fairer und – eben – transparenter zu machen.
Die größte Herausforderung sieht Tristan Post in Fake News oder sogenannten Deepfakes. Letztere umfassen zum Beispiel manipulierte Bilder oder Videos von Politikerinnen und Politikern oder anderen berühmten Persönlichkeiten. „Dabei wird es immer schwerer und in Zukunft auch unmöglich werden mit bloßem Auge zu unterscheiden was echt ist und was nicht“, sagt Post.
Die größten Chancen für die Anwendung von KI sieht er in Bereichen, in denen wir mit den größten Herausforderungen konfrontiert sind, wie eben beim Kampf gegen den Klimawandel beispielsweise. „Wir beginnen gerade erst, die Komplexität der Systeme zu verstehen, die hinter dem Klimawandel stehen, und wie diese Systeme miteinander interagieren. Hierbei kann KI eine entscheidende Rolle spielen, indem sie uns hilft, den Klimawandel zu verlangsamen und hoffentlich umzukehren.“
FOTOS: REDDIT.COM/R/MIDJOURNEY, BEIGESTELLT
KI | THEMA VORARLBERG | AUSGABE 95 | FEBRUAR 2024 | 46 Zur Person TRISTAN POST KI-Experte, freier Berater und Vortragender an der Universität München. Ein Foto von Papst Franziskus erobert das Internet im Sturm – dabei stammt es von einem KI-Bildgenerator. Ein eher harmloses Beispiel für eine echte Bedrohung: Fake-Material ist immer schwerer von echtem zu unterscheiden.
KI UND KREATIVITÄT DAS DIGITALE FEUER DES PROMETHEUS?
Prometheus, ein Titan mit Mumm, stiehlt den griechischen Göttern bei Nacht und Nebel das Feuer und schenkt es den Menschen, um sie aus der Dunkelheit und Kälte zu holen. Die Götter flippen aus, weil Menschen jetzt grillen und Party machen können. Als Strafe für diesen Frevel wird Prometheus an einen Felsen gekettet, wo täglich ein Adler vorbeikommt, um an seiner Leber zu knabbern.
Denkt man an KI, mag diese Analogie vielleicht hinken. Die griechischen Götter haben sich mittlerweile in den Geschichtsunterricht der Gymnasien zurückgezogen und Prometheus selbst würde heute für uns Sterbliche wohl keinen Finger mehr rühren, angesichts dessen, was wir mit seiner Morgengabe alles angerichtet haben.
Der neue Kumpel
Das Geschenk des Feuers an die Menschheit steht symbolisch für das Licht des Wissens. Ähnliches – nur mit noch ungeahnten Konsequenzen – wird auch von KI angenommen. Seit dem ersten weltweiten, öffentlichen Stelldichein Künstlicher Intelligenz mit uns Sterblichen erwacht der Prometheus-Mythos wieder. Manche feiern, dass der „homo creativus“, nun einen muskelbepackten kreativen Kumpel bekomme. Die gigantischen Datenmengen der Maschine, die in Sekundenbruchteilen jedermann zur Verfügung stehen, katapultiere Kreativität in eine unerschöpfliche digitale Dimension, heißt es.
Lerne
Und es ist ja wahr. KI sorgt derzeit für große Augen in fast allen Bereichen unserer Gesellschaft. Von der Musikkomposition, über Film und Animation, Mode, Werbung und Marketing bis zur Architektur und Malerei, überall treffen wir auf den neuen Mitspieler. Die aufregenden Beispiele der mit riesigen Datenmengen gefütterten Maschine, komplexe Prozesse zu automatisieren, sie zu kombinieren und schnelle Lösungen zu finden, weckt die Vorstellung, dass Schöpfungskraft an eine allwissende Intelligenz, abgegeben werden kann. Also: Lerne zu prompten und du wirst ins Paradies der KI aufgenommen. Deine Ernte wird reichlich sein. Wirf den Grill an. Amen.
Das Paradies?
Wer so denkt, gerät damit in die Falle der Künstlichkeit, dem Gegenteil von Kreativität. Das, was unser „Pfund“ ausmacht, die schöpferische Kraft, die individuelle originäre Persönlichkeit, die harte Denkarbeit, das Ausprobieren, Verwerfen, neu Beginnen, Verzweifeln, um letztlich dann doch die einzig wahre Idee zu finden, wird auf diese Weise mehr und mehr entsorgt. Wir haben mit der KI ein heißes Eisen ins prometheische Feuer gelegt. Nutzen wir das digitale Feuerchen mit Köpfchen. Die digitale Spielwiese der KI ist verlockend, aber glauben wir nicht alles, was uns von KI-Ultras vom kreativen Paradies erzählt wird. Denn die meisten merken nicht, dass sie eigentlich von den Früchten des verbotenen Baumes reden und dabei vergessen, dass am Ende der Geschichte die Vertreibung aus selbigem stand.
FOTOS: KÖNIGLICHE MUSEEN DER SCHÖNEN KÜNSTE BELGIENS, BEIGESTELLT
47 | FEBRUAR 2024 | AUSGABE 95 | THEMA VORARLBERG | ESSAY
Zur Person HANNO SCHUSTER Kommunikations- und Strategieberater, Vorsitzender Public Relations Verband Vorarlberg
Von Hanno Schuster
Prometheus mit dem Adler auf einem Gemälde von Theodoor Rombouts, vor 1637. Königliche Museen der Schönen Künste in Brüssel.
unter
Ein Leben, zwei Worte: Tu’ etwas!
Anders Indset, Autor und Philosoph
Die Rettung naht!…
Sprüche
Problematisch ist die Uniformität im Denken.
Katharina Fontana, Journalistin
Das Gute langweilt uns schnell, das Schlechte reizt uns ohne Ende.
Ullrich Fichtner, Publizist
Zu wenig Eitelkeit ist auch nicht gut.
Ursula Kals, Journalistin
Ganztagsarbeit scheint ungefähr so beliebt zu sein wie ein Bandscheibenvorfall.
Christian Ortner, Wiener Journalist
Zu Menschen, mit denen man Konflikte austrägt, hat man meistens ein klares Verhältnis.
David Schalko, Regisseur
Gehorche nicht im Voraus.
„Unangebracht fröhlich“
Zitiert aus dem amüsanten Buch von Sandra Handschuh „Wie man seinen Kollegen sagt, dass sie dumm sind“, Kapitel „Die nervigsten Kollegen“ das Beispiel „die Immerfrohe“.
Kommentar
EUROPA
DANDREAS DÜNSER
Chefredakteur
Thema Vorarlberg
ie EU-Wahl ist die erste von mehreren Wahlen im heurigen Jahr, Schwarz und Pink ziehen mit Lopatka und Brandstätter in den Wahlkampf, der eine 64, der andere 68 Jahre alt. Nun könnten böse Stimmen behaupten, dass die Parteien im Vorfeld das Wort Europa eingehend analysiert, darin den Begriff „opa“ entdeckt, und ihr Spitzenpersonal entsprechend rekrutiert haben. Zusammen 132 Jahre alt, werden die beiden gewiss dazu beitragen, dass die österreichische Europapolitik künftig eine frischere, eine kraftvollere sein wird. Nun soll das keine Geringschätzung, gar eine Schmälerung des Alters sein, lediglich eine Feststellung: Um die Jungen in Österreich für Europa begeistern zu können, wären junge Politiker für Europa gar keine so schlechte Idee. Es gäbe, und davon kann man ausgehen, in allen Parteien junge Idealisten, die gerne die europäische Politik mitgestalten würden. Aber das trägt sich nicht mit der jeweiligen innerparteilichen Logik: Österreichs Parteien belohnen mit dem Job in Brüssel traditionellerweise jene, die sich innerparteilich seit Jahr und Tag still durch alle Stürme und diverse Posten laviert haben. Das Problem ist nur: Wer bislang in Wien schwieg, wird auch in Brüssel nicht laut sein.
„Auch wenn man unter Menschen ist, kann man sich sehr einsam fühlen.“
Maike Luhmann, Einsamkeitsforscherin
Josef Hader am Land
Gäbe es nicht so viele Trottel, wären Fake-News ein
Die Political Correctness ist die feudale Sprache
Bernd Stegemann, Dramaturg
Das Leben ist voller lästiger Menschen. Terry Gilliam, Monty Python-Mitbegründer und Filmemacher
„Die Immerfrohe ist eine dieser lästigen Personen, die stets einen Tick zu gut gelaunt sind. Während alle vernünftigen Kollegen morgens in kollektivem Stillschweigen um die Kaffeemaschine herumschleichen, platzt die Immerfrohe unangebracht fröhlich herein und zwingt jedem in Reichweite ein freundliches Gespräch auf. Schlechte Nachrichten quittiert die Immerfrohe mit nervtötendem Optimismus. Was Sie von ihr erwarten können: Unerhört gute Laune in jeder Lebenslage und ein Lächeln, von dem Sie Albträume bekommen. Erzählen Sie ihr niemals (!) von Ihren Problemen, denn die Immerfrohe hat für jedes noch so unlösbare Dilemma mindestens drei unerhört simple Lösungsvorschläge. Schlechte Laune schlägt sie nicht in die Flucht. Je länger Sie das nervige Lächeln mit einem grimmigen Blick beantworten, desto fröhlicher scheint sie zu werden. Üben Sie sich deshalb im gekonnten Verstecken. Erwischt Sie die Immerfrohe in einem ungeschützten Moment, hilft nur die Flucht.“
„Es gibt am Land, wo die Menschen nicht so in einer Blase leben können wie in der Stadt, eine Art von Vermeidungsstrategie: Wenn jemand etwas sagt, den man für einen Vollkoffer hält, dann wird das Thema gewechselt.“
Quelle Zitat Hader: Der Tagesspiegel.
„Rechtschreibung ist sowieso nebensächlich. Lehrer können vermutlich seid Jahren ein Lid davon singen.“
Bonmot aus der „Presse“
ABGEHAKT | THEMA VORARLBERG | AUSGABE 95 | FEBRUAR 2024 | 48
FOTOS: THOMAS WIZANY, GREG2600, ISTOCKPHOTO, RUB/MARQUARD, BEIGESTELLT
Karikatur in den „Salzburger Nachrichten“ von Thomas Wizany, Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.
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