Von der Vertreibung in Niederschlesien bis nach Achmer. Ein damals 18jähriges Mädchen berichtet Nach Kriegsende im Mai 1945 habe ich mit meiner Mutter noch ein Jahr unter russischer Besatzung und polnischer Verwaltung in meiner Heimatstadt Reichenbach/Eulengebirge in Niederschlesien gelebt. Mein Vater war als Schornsteinfegermeister vom Wehrdienst freigestellt, wurde aber dann doch noch zum Kriegsende hin zum Volkssturm eingezogen, um die von uns 50 km entfernte Festung Breslau zu verteidigen. Nach deren Fall geriet er in russische Kriegsgefangenschaft und wurde nach Russland abtransportiert. Am 8.April 1946, musste ich mit meiner Mutter und ohne meinen Vater aufgrund der Zwangsausweisung unsere schöne große Wohnung räumen, um Platz für die polnische Bevölkerung zu schaffen, die dort angesiedelt wurde. Vor der Zwangsausweisung kursierten überall Gerüchte über die Ausweisung, aber niemand von uns und den anderen in der Stadt wollte diesen Gerüchten Glauben schenken. Aber dann am Abend des 6.April 1946 kam die polnische Miliz und befahl uns am nächsten Morgen mit so viel Gepäck, wie wir tragen konnten, vor dem Haus zu stehen. Meine Mutter und ich hatten jeder einen Rucksack auf dem Rücken, unsere Federbetten zusammengerollt und mit einer Wäscheleine verschnürt, einen großen Schweinslederkoffer und einen Pappkarton mit dem Nötigsten gepackt. Das Einzige, was ich von meinen privaten Dingen mitgenommen habe, war ein Fotoalbum in Postkartengröße. Meine Mutter steckte, kurz bevor es losging, noch schnell einen kleinen Spielkreisel für Gesellschaftsspiele und ihr Metallmilchsieb („Siebel“) in ihre Handtasche. Ich hatte nämlich einen großen Ekel vor Milchhaut. Wir als Bewohner der „Frankensteiner Straße“ wurden als erste ausgewiesen. Wir mussten zu Fuß zur Volksschule laufen, wo wir registriert und unser Gepäck nach Schmuck und Geld durchsucht wurde.Es ist kaum zu glauben, wie einfallsreich man werden kann, um doch Wertgegenstände und Geld unter den vielen Kleider , die man trug oder im Gepäck zu verstecken, um in der Fremde zu überleben. Wir nutzten Woll und Garnknäule als Geldversteck. Am nächsten Morgen gingen wir zu Fuß zum Bahnhof, wo wir in Güterwaggons, die mit Stroh ausgelegt waren, verladen wurden. Wir versuchten immer mit unseren Freunden und Bekannten aus der „Frankensteiner Straße“ zusammenzubleiben, denn getrennt zu werden war unsere größte Sorge. In unserem Waggon befanden sich 33 Personen.Jetzt begann die Fahrt ins Ungewisse. Wir hatten Angst, dass wir nicht in den Westen, sondern nach Russland abtransportiert wurden. Die Güterwaggons waren geschlossen und von außen verriegelt, sodass wir nicht nach draußen sehen konnten. Der Vater meiner besten Freundin versucht immer wieder durch das Belüftungsfenster im Waggon zu schauen, um herauszubekommen, in welche Richtung unsere Fahrt ging. Uns allen fiel ein Stein vom Herzen, als er uns versicherte, dass wir in Richtung Westen fuhren, weil er Ortsschilder gelesen hatte. Erst in der russischen Besatzungszone wurden die Waggontüren geöffnet, damit wir uns, wenn der Zug hielt, Trink und Waschwasser besorgen konnten. Unsere Fahrt endete im Grenzdurchgangslager Friedland in der britischen Besatzungszone, wo wir registriert und mit einem weißen Pulver zur Entlausung beim Durchgehen besprüht wurden. Die meisten von uns besaßen keine Ausweise mehr, da die Polen uns diese abgenommen hatten, weshalb wir Ersatzausweise bekamen. Wir konnten uns im Durchgangslager entscheiden, dass wir ins Artland und nicht in den Harz weiterreisen wollten. Unsere Entscheidung fiel auf die Weiterreise ins Artland, weil wir wussten, dass in Niedersachsen Landwirtschaft betrieben wurde und wir hofften deshalb auf genügend Nahrungsmittel. Unsere Fahrt ging weiter in Personenwagen und endete in Bramsche am Bahnhof. Jetzt wussten wir, warum die Sowjets ihre Soldaten in Viehwaggons mit Stroh ausgelegt transportierten, weil man sich dort hinlegen konnte, ganz im Gegensatz zu den Personenwagen mit
den harten Holzbänken. In der Meyerhofschule wurden wir wieder entlaust, dann in Gruppen eingeteilt und mit Bus nach Merzen gefahren. Das war am Ostersonntag 1946. Unser Bus hielt direkt vor der kath. Kirche. Die Gottesdienstbesucher verließen gerade die Messe und bestaunten uns Fremde beim Aussteigen aus dem Bus. Vom Bruder meines späteren Ehemannes habe ich erfahren, dass sie beide auch unter den Gottesdienstbesuchern gewesen waren und mich beim Aussteigen beobachtet hatten. Er sagte zu seinem Bruder: „Die mit den zwei Hüten auf dem Kopf werde ich heiraten.” Einige Bauern kamen mit Leiterwagen angefahren. Sie verhandelten einige Zeit mit dem Bürgermeister und entschieden, wer welche und wie viele Vertriebene aufnähme. Diese Entscheidungen führten dann doch noch zu schmerzlichen Trennungen einiger Familien. Bis dahin waren wir immer zusammengeblieben und jetzt wurden die Familien auseinandergerissen, weil die Bauern nicht bereit waren mehr als zirka drei Personen bei sich aufzunehmen. Meine Mutter, ich und die Familie meiner besten Freundin wurden weiter nach Plaggenschale gefahren und dort wieder aufgeteilt. Der Bauer, der meine Mutter aufnehmen sollte, war erst nach langem Betteln seitens meiner Mutter bereit, mich auch aufzunehmen, weil er nur ein Bett hatte, indem wir dann zu zweit schliefen. Ich habe 14 Jahre in Plaggenschale gelebt, dort geheiratet, meine ersten 3 Kinder bekommen und mir eine Existenz als Textilwarenhändlerin aufgebaut. 1961 bauten wir in Achmer ein großes Wohn und Geschäftshaus und 1964 kam unser viertes Kind zur Welt. Somit wurde Achmer zu unserer zweiten Heimat. Das Interview, aus dem dieser Bericht hervorging, führten und bearbeiteten Hendrik Everding und Torben Kolkmann