„Wir hatten immer Angst, dass sie was Schlimmeres mit uns machen“ – ein
Interview mit I. Stenzel über Flucht und Vertreibung aus Schlesien
Frage: Wo hast du vor der Flucht gelebt und wie alt warst du damals? Antwort: Ich habe damals im Regierungsbezirk Breslau, in Neumarkt gewohnt und war, als wir geflohen sind, elf Jahre alt. F: Und kannst du dich noch erinnern, wo ihr damals lang gegangen seid und wie ihr gereist seid? Stenzel: Zuerst sind wir mit einem Bollerwagen von Neumarkt nach Bunzlau gereist. Wir haben dort in einer Scheune geschlafen. Das schlimme war, dass das Deckbett ganz feucht war. Danach sind wir ins Erzgebirge nach Schmiedeberg gereist und dort konnte ich noch zur Schule gehen. Plötzlich mussten wir dort raus und flohen in die Tschechei nach Teplitz-Schönau, wo wir in einer Schule gelebt haben. Dort waren auch viele andere Flüchtlinge. Auch da waren die Betten nicht sauber und voller Ungeziefer. Eines Morgens kamen dann die Russen mit den Panzern und Soldaten und wir konnten per Zug zurück nach Neumarkt, aber wir kamen nur bis zu meiner Oma, die in Dietzdorf gewohnt hat. F: Seid ihr in einem Personenwagen gereist oder wie war das? Stenzel: Nein, nein... wir wurden in einen Viehwagen „geladen“ und mussten dort warten, bis man uns wieder rausgelassen hat. F: Das war bestimmt schlimm für dich. Stenzel: Ja, das war es. F: Und bei deiner Oma, wie war es da? Wie sah es mit Arbeit aus? Stenzel: Meine Mutter und meine Oma arbeiteten auf einem Gut oder auf einem Feld, um was zu Essen zu bekommen. Ich war nicht auf einer Schule und wir hatten alle sehr viel Angst, als die Russen und die Polen kamen. Sie waren sehr gefährlich und das Schlimmste war, wenn sie betrunken waren, weil sie dann nicht mehr wussten, was sie machen. Wir hatten immer Angst, dass sie was Schlimmeres mit uns machen, aber wir hatten Glück. Da meine Oma am Anfang des Dorfes wohnte, haben sich dort Russen zwei Räume genommen. Wir wurden gut von ihnen behandelt, aber es war halt sehr schlimm, wenn sie betrunken waren. Sie kamen auch oft vorbei, um zu kontrollieren, was wir machen, und das auch sehr oft nachts. Mein Bruder ging immer zu dem Gut, wo meine Mutter arbeitete und holte sich dort immer Stücke vom Kalb, wenn geschlachtet wurde. Als die Polen kamen, mussten wir auch aus diesem Haus fliehen und wir gingen mit einem Bollerwagen zum Bahnhof. Wir wurden dort
kontrolliert und uns wurde alles weggenommen. Dann mussten wir in einen Viehwagen und sind nach ungefähr einer Woche in Melle angekommen. F: Und was passierte dann? Stenzel: Wir wurden von einem Traktor abgeholt und fuhren in eine Schule nach Küingdorf. Da wurden wir aufgeteilt und ich wurde von meiner Familie getrennt. Dieser Traktor brachte mich dann in meine „neue“ Familie und ich lebte dort eigentlich ganz gut. Ich bekam gutes Essen wurde dort gut aufgenommen und ich konnte dort noch zwei Jahre zur Schule gehen. Ich hatte mitgekriegt, dass mein Bruder eine Stellung als Bäckerlehrling bekam. Ich musste dann noch mal die Familie wechseln und bin danach zu meiner Mutter gezogen. Als ich geheiratet habe, haben wir uns in Altenmelle das neue Haus gebaut und sind dort eingezogen. F: Wie fand die Familie es eigentlich, in die du gekommen bist? Stenzel: Sie war nicht sehr begeistert, aber ich konnte da ja auch nichts für. Trotzdem haben sie mich recht gut aufgenommen. Ich glaube, ich hatte ziemliches Glück. F: Gab es dort auch bestimmte Vorurteile? Stenzel: Nein, nicht direkt. Als wir in der Schule ankamen, haben uns manche als „Polakken“ bezeichnet, obwohl wir ja eigentlich gar keine Polen waren. Aber das war eigentlich auch nicht so schlimm, weil wir jetzt wenigstens ein Dach über dem Kopf hatten. F: Und ab dann war euer Leben wieder in Ordnung? Stenzel: Ja, dass kann man so sagen. Diese Zeit, in der wir geflohen sind, war wirklich eine sehr schlimme Zeit für mich. F: Dann bedanke ich mich bei dir für dieses Interview. Stenzel: Ja, ich hoffe, es wird anderen helfen, sich diese Zeit besser vorstellen zu können.
Das Interview führte Maik Stenzel.