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Der kleine Frieden im Krieg - Feldpostbriefe aus Stalingrad Subjektives Erleben der Kriegsgeschehnisse bei den Schlachten um Stalingrad anhand von Feldpostbriefen meines Großonkels Otto Tändler. Eine Facharbeit von Katrin Simon 1. Einleitung In meiner Facharbeit möchte ich anhand von Feldpostbriefen meines Großonkels Otto Tändler sein subjektives Erleben der Kriegsgeschehnisse bei den Schlachten um Stalingrad in den Jahren 1942 bis 19431 vorstellen. Aufgrund des verwandtschaftlichen Verhältnisses zu Otto Tändler erweckte dieses Thema von Anfang an ein großes Interesse bei mir. Allerdings stieß ich bei der Interpretation auf ein Problem, welches mir das Konzipieren dieser Arbeit erheblich erschwert. Es ist keine allgemeine Literatur zu finden, in der Feldpostbriefe interpretiert werden. Aus diesem Grund muss ich eigenständig versuchen den Inhalt der Briefe meines Großonkels zu deuten. Meine Facharbeit stützt sich auf die Feldpostbriefe, die Otto Tändler an der Front von Stalingrad geschrieben hat. Es sind zwar weitere Briefe, wie beispielsweise aus Köln-Mühlheim, wo er vor Stalingrad zu Schulungszwecken stationiert war, vorhanden, aber diese spielen für die Analyse seines subjektiven Erlebens bei den Schlachten um Stalingrad keine Rolle. Ich beschränke mich dabei auf eine Auswahl an Feldpostbriefen, die im Anhang nachvollzogen werden kann. Um den Leser eine gewisse Basis an Hintergrundwissen zu verschaffen, beginne ich mit einem historischen Abriss (Kapitel 2.). In Kapitel 3. befasse ich mich mit dem sozialen Umfeld und der Person Otto Tändlers. Danach wird speziell geschildert, was meinem Großonkel, sofern dies aus den Briefen hervorgeht, in Stalingrad wiederfuhr (Kapitel 4.). Daran schließt der Hauptteil meiner Facharbeit an, in dem ich die für mich relevanten Schilderungen thematisch kurz zusammenfasse (Kapitel 4.1). Nun folgt die daraus hervorgehende Interpretation (Kapitel 4.2) mit einem abschließenden Fazit (Kapitel 5), das die für mich logischen Konsequenzen und Bedeutungen aus der Interpretation und die allgemeine Bewertung der Feldpostbriefe meines Großonkels beinhaltet.

Schlacht um Stalingrad 1

Briefe aus dieser Zeit sind vorhanden und werden als Grundlage meiner Facharbeit dienen. Anhang ab Seite 5


2.1 Stalingrad – signifikante Fakten Nachfolgend werde ich einen groben Überblick über die geographische Lage von Stalingrad, den Konflikt zwischen der deutschen 6. Armee und den sowjetischen Streitkräften sowie dessen Folgen geben und hierzu die wichtigsten Daten und Fakten erläutern.

Stalingrad trägt seit 1961 den Namen Wolgograd und liegt ca. 1000 km südlich von Moskau an der Wolga. Durch die Schlacht von Stalingrad während des 2. Weltkrieges ging sie in die Geschichte ein2.

2.2 Chronologie der Schlacht um Stalingrad Nachdem Deutschland im Sommer 1941 die Sowjetunion angriff, folgte ein Jahr später eine weitere Offensive. Man wollte an Ölfelder im Kaukasus gelangen, eine mögliche Kontrolle bzw. eine Unterbindung des Schiffverkehrs auf der Wolga erreichen3 und Stalingrad aufgrund seiner symbolischen Bedeutung (Namensgebung) unter deutsche Kontrolle bringen4.

Unter der Führung von Generalmajor Friedrich Paulus beginnt am 7. August 1942 die Offensive der 6. Armee gegen Stalingrad. Bereits am 23. August sterben ca. 40 000 Menschen bei Angriffen der deutschen Luftwaffe in der Stadt. Am 13. September des gleichen Jahres rücken deutsche Soldaten erstmals in Stalingrad ein und schon zwei Tage später folgen Straßenkämpfe. „Bis Mitte November haben die deutschen Truppen etwa 90 Prozent der Stadt erobert.“5 Doch das Blatt wendet sich schon bald. Die Rote Armee startet am 16. November eine zangenförmige Großoffensive, um die deutschen Truppen vom Nachschub abzuschneiden. Außerdem gehen im Süden der Stadt sowjetische Streitkräfte nicht nur gegen die Deutschen, sondern auch gegen rumänische Truppen vor. Am 22. November 1942 ist die gesamte 6. Armee mit ca. 250 000 Soldaten, sowie Teilen von rumänischen Verbänden und russischen Hilfssoldaten in einem rund 40 mal 50 km großen Bereich eingekesselt. Hermann Göring, Oberbefehlshaber der deutschen Luftwaffe, behauptet, dass man die eingeschlossenen Soldaten vorerst aus der Luft versorgen könne. Jedoch ist es aufgrund von Mangel an Kapazitäten und Transportflugzeugen sowie aus witterungstechnischen Gründen und der

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„Peter Rehder (Hg.), das neue Osteuropa von A-Z (1992), 625f.“ Ebd. 4 Ebd. 5 http://www.spiegel.de/sptv/special/0,1518,231914,00.html 29.01.09 3


eindeutigen Überlegenheit der russischen Flieger nicht zu realisieren. Dennoch gestattet Hitler es den Eingeschlossenen nicht, aus dem Kessel auszubrechen. Am 25. November wird die neue Heeresgruppe „Don“ geschaffen, welche unter der Führung von Feldmarschall Erich von Manstein von der Leningradfront die eingeschlossenen Truppen der 6. Armee ersetzen soll. Trotz heftiger Einwände Mansteins weigert sich Hitler seine Truppen aus Stalingrad zurück zu ziehen ; „[…]für ihn war die Eroberung Stalingrads stets ein symbolträchtiger Prestigeerfolg über seinen schärfsten Gegner Josef W. Stalin, den Namensgeber der Stadt.“6 Um die Lebensmittelversorgung über Weihnachten zu gewährleisten, ordnet Generalmajor Paulus am 20. Dezember die Halbierung der ohnehin schon sehr knapp bemessenen Lebensmittelrationen an. “Bis Ende Dezember sterben über 80 000 Soldaten der 6. Armee an Unterernährung, Erschöpfung und Erfrierung.“7 Am 21. Dezember 1942 scheitert dann die 4. Panzerarmee aufgrund heftigen Widerstandes der sowjetischen Armee beim Versuch, die deutschen Truppen zu befreien. Dennoch gibt Hitler am 23. Dezember 1942 erneut den Befehl durchzuhalten. Sowohl den sowjetischen Appell am 8. Januar 1943, innerhalb der nächsten 24 Stunden zu kapitulieren, als auch deren Appell am 24. Januar lehnt Hitler ab. In dem mittlerweile nur noch ca. 24 mal 15 km großen Kessel von Stalingrad beginnen die sowjetischen Streitkräfte nun ihren Abschlusskampf. Am 30. Januar funkt Generalmajor Friedrich Paulus an Hitler: „Zusammenbruch ist keine 24 Stunden mehr aufzuhalten." Die Südgruppe der bei Stalingrad eingeschlossenen 6. Armee unter Generalfeldmarschall Paulus kapituliert. Drei Tage später, am 2. Februar kapitulieren auch die im Norden eingeschlossenen Truppen der 6. Armee unter General Stecker8.

2.3 Opfer und Schäden Da verschiedenste Literaturangaben nicht kongruieren, lassen sich keine präzisen Angaben zu den Opferzahlen machen. Fest steht allerdings, dass es auf beiden Seiten hunderttausende Todesopfer 6

http://www.spiegel.de/sptv/special/0,1518,231914,00.html 29.01.09 http://www.spiegel.de/sptv/special/0,1518,231914,00.html 29.01.09 8 Peter Rehder (Hg.), das neue Osteuropa von A-Z (1992), Seite 675f. Alle weiteren Wesentlichen Inhalte übernommen aus: http://www.spiegel.de/sptv/special/0,1518,231914,00.html 29.01.09 und „Peter Rehder (Hg.), das neue Osteuropa von A-Z (1992), S.675f.“ 7


und rund 91 000 Überlebende gibt, die in russische Kriegsgefangenschaft kommen. Von ihnen kehren bis 1956 nur ca. 6000 nach Deutschland zurück. Die Stadt wird bei der Schlacht nahezu gänzlich zerstört.

3. Familie Tändler aus Bramsche 3.1 Vorstellung der Familie Tändler Dieser Abschnitt beinhaltet allgemeine Informationen zur Person Otto Tändler und seiner Familie. Des Weiteren soll der Ursprung seiner konstitutiven Einstellungen geklärt werden.

Die Familie Tändler setzt sich aus der Mutter Klara Tändler (geb. am 05.06.1900) und dem Vater Louis Tändler (geb. 26.05.1897), sowie den vier Kindern Otto (geb. am 10.01.1923), (meiner Großmutter) Ilse (geb. 26.02.1924), Ludwig (geb. am 26.07.1927) und Heinz (geb. am 17.01.1933) zusammen. Sie wohnen in einem Haus an der Osnabrücker Straße in Bramsche zur Miete. Vater Louis ist ein sehr gering verdienender Weber und Mutter Klara ist Hausfrau. Neben Otto wird noch sein Bruder Ludwig eingezogen - dieser kommt nach Frankreich an die Westfront.

3.2 Politische Gesinnung der Familie Tändler Schon der Großvater Otto Tändlers, welcher den gleichen Namen trägt, ist aktives Mitglied in der Bramscher Arbeiterbewegung im Kaiserreich (1872- 1918) unter Reichskanzler Bismarck. Selbst als die Regierung massiv gegen die sozialdemokratische Gruppierung vorgeht und alle sozialistischen und sozialdemokratischen Organisationen 1878 durch das „Sozialistengesetz“9 verbietet, lässt er sich nicht von seinem Standpunkt abbringen. So wird auch sein Sohn Louis maßgeblich von den fundamentalen Grundsätzen geprägt und tritt der SPD bei. Außerdem wird Louis Tändler während seiner Zeit als Soldat im 1. Weltkrieg zum überzeugten Pazifisten. Folglich ist er auch radikaler Gegner der Nationalsozialisten und erzieht seine Kinder entsprechend. Bis es unvermeidbar ist, dürfen sie nicht der Hitlerjugend, dem Bund Deutscher Mädel beitreten oder in 9

Das Sozialistengesetz („Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“) verbot sozialistische und sozialdemokratische Organisationen und deren Aktivitäten im Deutschen Reich und außerhalb des Reichstages und der Landtage. Es kam damit einem Parteiverbot gleich. Vgl. http://www.wikipedia.org/wiki/Sozialistengesetz


der Schule zur Begrüßung „Heil Hitler“ rufen. Auch noch als die SPD vom NS-Regime verboten wird, trifft sich Louis Tändler mit seinen Parteikollegen in der Gastwirtschaft Bohne in Bramsche unter dem Vorwand, Esperanto10 zu lernen. Demzufolge ist auch Otto Tändler von diesen Überzeugungen beeinflusst und lehnt das nationalsozialistische Kriegsbestreben ab.

3.3 Chronik der Ereignisse um Otto Tändler Schriftlich überlieferte Berichte In diesem Teil möchte ich kurz beschreiben, was aus den Briefen meines Großonkels bezüglich seines Aufenthaltsortes, seiner Verfassung und den derzeitigen Geschehnissen hervorgeht, sobald er die Front erreicht Am 21. Juli 1942 trifft Otto Tändler an der Stalingradfront ein. Er schildert, dass er einer Panzerjägereinheit zugeteilt wird, gibt aber keine Auskunft über seinen gesundheitlichen Zustand. Am nächsten Tag jedoch stellt ein Arzt die Diagnose: Diphterie. Daraufhin wird er umgehend in ein Lazarett gebracht wo er bis zum 7. August behandelt wird. Seinen Angaben zufolge sei er danach vollständig genesen und tritt den Weg zurück an die Front an. Auf diesem Weg wird er von einer Frontsammelstelle zur nächsten geschickt und erreicht schließlich am 21. August sein Ziel. In der nächsten Zeit macht er vielfach sehr zuversichtliche Angaben über den Verlauf der Schlacht. Am 3. September schreibt er, dass der Befehl gekommen sei, die Armee solle Stalingrad innerhalb von 4 Tagen vollständig kontrollieren. Während der gesamten Zeit legt Otto Tändler immer wieder sporadisch seinen Tagesablauf dar, welcher von harter körperlicher Arbeit, wie Schützengräben und Bunker graben, sowie Wache halten, geprägt war.

Mündlich Überliefertes Die Familie Tändler erhält Ende Januar 1943 einen Brief aus Stalingrad, welcher von einem Kameraden Otto Tändlers stammt. In diesem ist erklärt, dass Otto seinen Kameraden gebeten hat, seine Familie über seinen gesundheitlichen Zustand zu unterrichten, weil er selbst dazu nicht mehr in der Lage sei. Er habe Kopfgrippe11 und befände sich in einem Unterstand im Kessel von

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Esperanto ist eine von Dr. Ludwik Lejzer Zamenhof im 19.Jahrhundert erschaffene internationale Plansprache, deren Aufgabe es war, eine leicht erlernbare, neutrale Sprache für die internationale Verständigung zu entwickeln. Vgl. http//www.wikipedia.org/wiki/Esperanto 11 Kopfgrippe: epidemische Gehirnhautentzündung, aus: http://lexikon.meyers.de/wissen/Kopfgrippe


Stalingrad. Weiterhin ist die Versorgung durch Nahrung und Medikamente nicht mehr gewährleistet. Daraufhin geht die Familie vom Tod Otto Tändlers aus, obwohl seine Leiche nie gefunden wird Auch Suchaktionen durch „Das Rote Kreuz“ bringen keinen Aufschluss über sein endgültiges Schicksal.

4 Schilderung der Wahrnehmung der Kriegsgeschehnisse in Stalingrad durch Otto Tändler und Interpretation seiner Berichte 4.1 Schilderung der Wahrnehmung der Kriegsgeschehnisse in Stalingrad durch Otto Tändler Der nachfolgende Teil bildet den eigentlichen Kernteil meiner Facharbeit. Hier stelle ich Otto Tändlers Schilderungen aus seinen Briefen in den Kapiteln 4.1.1 bis 4.1.5 zunächst thematisch zusammengefasst vor. Anschließend interpretiere ich diese Schilderungen in den Abschnitten 4.2 und 4.3

4.1.1. Das Essen In nahezu allen Briefen beschreibt Otto Tändler kontinuierlich , was es zu Essen gibt oder was er sich zubereitet. Zu Beginn seiner Zeit an der Front ist gehäuft die Rede von Luxusartikeln, wie Pudding oder französischer Schokolade, welche immer seltener erwähnt werden, je näher der Jahreswechsel rückt. Allerdings bittet er immer öfter seine Familienmitglieder, ihm doch solche zu schicken. Seine Mahlzeiten bestehen nun mehr und mehr aus Mehlsuppe. Am 14.12.1942 ist sogar die Rede von Pferdefleisch, auf das zurückgegriffen werden muss.

4.1.2. Erinnerungen und Gedanken an zu Hause Je näher Weihnachten rückt, häufen sich die Beschreibungen seiner Erinnerungen und Gedanken. So schreibt er am 10.09.1942: „ Lieber Papa wie ist es denn mit der Fischerei, hat es sich schon gelohnt?“12 Er fragt sich also bedacht, was in seiner Heimat vor sich geht. Zudem denkt er darüber nach, dass sein Vater eingezogen werden könnte oder , dass Bramsche bei seiner Rückkehr in Trümmern liegen könnte. „[…]wenn wir dann am Sonntagmorgen in den Wald gegangen sind, 12

Anhang, Textpassage vom 10.09.1942


etwas schöneres kann ich mir gar nicht vorstellen. Hier kann man erst ermessen, wie schön es doch immer zu Hause bei Euch war.[…]“13 Zitate dieser Art, in denen er deutlich in Erinnerungen schwelgt, finden sich vorwiegend in den Weihnachtsbriefen, in denen er auch wörtlich schreibt, dass er mit den Gedanken bei seiner Familie ist.

4.1.3. Angaben zu seiner gesundheitlichen Verfassung und dem ersehnten Wiedersehen „Sonst ist hier noch alles beim Alten und mir geht es auch noch ganz gut. Um mich braucht ihr Euch keine Sorgen zu machen, wir werden uns alle einmal gesund und munter wieder sehen“14 In jedem der Feldpostbriefe ist ein solches oder ähnliches Zitat zu finden. Immer wird der gesundheitliche Zustand positiv beschrieben, selbst bei einer Erkrankung an Diphterie. Weiterhin wird

versichert, dass man sich bald wieder sehen wird und man sich keine Sorgen machen

bräuchte. Allerdings treten besonders in den Weihnachtsbriefen, gehäuft Phrasen wie „ […]am nächsten Weihnachtsfest werde ich bestimmt wieder bei Euch sein[…]“15 oder „[…]wir wollen hoffen das sich alles zu unserem Besten wendet und wir uns bald wieder sehen.[…]“16 auf.

4.1.4. Beschreibung der Kriegsgeschehnisse „[…]Es ist ein wunderbares Bild, wenn ein Flieger nach dem anderen in die Tiefe saust.[…]“17, „Wenn ich so des Nachts am Geschützt auf Wache stehe, sehe ich das schönste Feuerwerk, Leuchtkugeln, Leuchtbomben, Leuchtschirme und Leuchtspurmunition in allen Farben.“18 Derartig euphorische Veranschaulichungen des Kriegsverlaufs sind ausschließlich in Briefen aus August und September zu finden. Ansonsten macht er bis Ende September mehrmals die Ankündigung, dass „Stalingrad bald fallen wird“, danach schreibt er nur noch von einem „Rauskommen“. Am 21.12.1942 spricht er zum ersten Mal die Einkesselung der 6. Armee an. Während des gesamten Zeitraums werden die russischen Truppen als „ruhig“ beschrieben und seine Lage nie als schlecht, 13

Anhang, Textpassage vom 11.12.1942 Anhang, Textpassage vom 23.09.1942 15 Anhang, Textpassage Datum unbekannt 16 Anhang, Textpassage vom 25.12.1942 17 Anhang, Textpassage vom 16.08.1942 18 Anhang, Textpassage vom 03.09.1942 14


allerdings werden kontinuierlich weniger Angaben zum Kriegsgeschehen gemacht. Ein Brief von Otto Tändler vom 02. Januar 1943 ist der letzte, der die Familie erreicht. Hier schreibt er offener: „Liebe Eltern und Geschwister, nun im neuen Jahr will ich Euch ehrlich schreiben was hier los ist, ich wollte Euch ja nicht das Weihnachtsfest verderben.“19 Er schildert die mittlerweile sehr schlechte Versorgungslage - jeder Soldat erhält lediglich 350g Brot täglich. Außerdem schreibt er wörtlich, dass die Armee von den Russen eingekesselt ist.

4.1.5. Schilderungen der Kameradschaftsaktivitäten Vereinzelt schreibt Otto Tändler von seiner Freizeitgestaltung mit seinen Kameraden. „[…]oft sind wir am Singen, während draußen die Kugeln pfeifen.“20 Steht in seinem Breif vom 21.Dezember 1942. Auch eine Geburtstagsfeier seines Kameraden schildert er einmal sowie die Weihnachtsfeier im Leutnantbunker.

4.2Interpretation der Themenschwerpunkte Im Folgenden werde ich die bereits erläuterten Themenschwerpunkt versuchen zu interpretieren, indem ich die Inhalte mit den evidenten Befunden von Stalingrad im 2. Weltkrieg vergleiche und anhand der Berichte über sein Naturell und meiner persönlichen Einschätzungen analysiere. Auf diese Weise möchte ich einen Eindruck seiner subjektiven Erlebnisse, Empfindungen und Absichten schaffen.

Zunächst ist eine zuversichtliche Grundstimmung in den Feldpostbriefen zu erkennen, welche sich durch die anfänglich enormen Erfolge der 6. Armee in Stalingrad erklären lässt. Hinzu kommt die noch stabile Versorgung (vgl. Kap. 4.1.1.), die immer wiederkehrenden Durchhalteparolen und siegessicheren Leitsprüche der Führungskräfte sowie das dadurch entstehende Kameradschaftsbzw. Zugehörigkeitsgefühl (vgl. Kap. 4.1.5.). All diese Faktoren wecken selbst in dem sozialdemokratisch

und

pazifistisch

geprägten

Otto

Tändler

(vgl.

Kap.

3.2.)

eine

Kriegsbegeisterung, die er auch seinen Verwandten durch enthusiastisch beschriebene Schlachten vermittelt (vgl. Kap. 4.1.4.). In dieser Zeit sehnt er sich noch nicht so stark nach seinem zu Hause. Der neu entdeckte Patriotismus gibt ihm ein gutes Gefühl und befreit ihn von Heimweh und Angst 19 20

Anhang, Textpassage vom 02.01.1943 Anhang, Textpassage vom 21.12.1942


vor dem Sterben an der Front. Die immer wiederkehrende Aussage, dass der Untergang Stalingrads bevorsteht (vgl. Kap. 4.1.5.), beweist die Siegessicherheit, in der er sich wiegt.

Als sich die Situation der 6. Armee mit der Zeit verschlechtert (vgl. Kap. 2.2.), schwindet seine Euphorie merklich. Übertriebene Kampfschilderungen und siegessichere Phrasen bleiben aus. Es ist auch keine Rede mehr von Luxusartikeln, hingegen treten Reflektionen der Vergangenheit immer häufiger auf (vgl. Kap. 4.1.3.), was auf eine durchaus eingeschränkte Unbekümmertheit hindeutet. Es ist zu vermuten, dass Otto Tändler spätestens ab diesem Zeitpunkt beginnt, die Gegenheiten zu beschönigen. Z.B. schreibt er noch am 21. Dezember, dass die „Lage für sie sehr günstig stünde“21; den Kriegsstand beschreibt er nach wie vor als unbedenklich, obwohl Tatsachenberichte längst das Gegenteil beweisen (vgl. Kap. 2.2.). Auch stellt er sein gesundheitliches Befinden als „sehr gut“ dar. Seine Beschönigungen und Beschwichtigungen häufen sich sogar, je näher es auf das Ende der Schlacht um Stalingrad zugeht. Dies alles schreibt er wahrscheinlich, um seine Familie, an der er sehr hängt, nicht zu beunruhigen und ihnen das Weihnachtsfest nicht zu verderben.22

In welchem Maße er diesen Euphemismus verwendet , kann aber nicht beurteilt werden: Es ist zu berücksichtigen, dass Otto Tändler den Stand aller Kriegsgeschehnisse und -schauplätze sicher nicht ganz objektiv und vollkommen erfassen konnte. Möglicherweise trüben die permanenten Durchhalteparolen und die Desinformation durch Vorgesetzte auch Otto Tändlers Wahrnehmung der Geschehnisse.

Das Weihnachtsfest 1942, welches er mit seinen Kameraden feiert, sowie eine Geburtstagsfeier beschreibt er sehr detailliert (vgl. Kap. 4.1.5.). Diese Ereignisse sind sehr glückliche Momente in der sonst tristen und trüben Zeit. So kann er sich meiner Meinung nach auch dem alltäglichen Geschehen, durchzogen von Hunger, Kälte und Tod, entziehen. Um die Weihnachtsfeiertage 1942 schwelgt Otto Tändler mehr und mehr in Erinnerungen und seine Sehnsucht steigert sich durch den drohenden Untergang scheinbar unaufhörlich. Er hat Angst, seine Familie und seine Heimat nie wieder zu sehen, und hält seine Erinnerungen und Vorstellungen daran gerade zu Weihnachten in vielen Briefen.23 21

Anhang, Textpassage vom 21.12.1942 Ebd. 23 Anhang, Textpassagen vom 21.12. bis 25.12.1942 22


Der letzte Brief vom 02. Januar 1943 bringt dann eine kleine Wendung. „Liebe Eltern und Geschwister, nun im neuen Jahr will ich Euch ehrlich schreiben was hier los ist, ich wollte Euch ja nicht das Weihnachtsfest verderben.“24, so schreibt Otto Tändler. Diese Zeilen beweisen unverkennbar seine Absicht, die Familie nicht zu beunruhigen und sein zumindest teilweises Erfassen der Situation. Auch in diesem Brief stellt er seine Lage nicht als ausweglos dar, was natürlich wieder von der Absicht zeugen könnte, dass er seiner Familie keine Sorgen bereiten möchte. Allerdings vermute ich, dass er die Hoffnung, wider lebend nach Hause zurück zu kehren, immer noch nicht aufgegeben hat oder nicht aufgeben wollte.

5. Fazit Es kann zusammengefasst werden, dass Otto Tändler in nahezu allen Briefen an seine Familie der Kriegsgeschehnisse und seine persönliche Situation verharmlost. Die hat meiner Meinung nach vor allem drei Gründe: Vor allem will er seine Familie beruhigen und ihnen keine Sorgen bereiten. Wahrscheinlich kann er auch mit Schilderungen alltäglicher Dinge dem Alltag in Stalingrad entfliehen und sich seiner Familie durch das Schrieben von Alltäglichem verbunden fühlen. Möglicherweise ist er aufgrund gezielter Desinformation auch nicht vollends in der Lage, die Kriegssituation und seine persönliche Situation objektiv einzuschätzen.

Otto Tändlers Briefe sind nur mit dem nötigen Hintergrundwissen und ausreichender Hermeneutik zu deuten. Dennoch lässt sich seine Entwicklung zum anfänglichen Patrioten und wieder zurück zum Dissidenten bis hin zum angsterfüllten Soldaten, der stets versucht seine Familie zu schützen, anhand seiner Briefe klar entschleiern. Allerdings nehme ich an, dass sich die Grundzüge seiner Persönlichkeit nicht verändert haben. Bei allem Patriotismus hat er sich doch nie mit den verbrecherischen Zielen des Krieges identifiziert, stattdessen wollte er sein Vaterland verteidigen. Damit setzte er sich ganz in Gegensatz zur NS-Propaganda.

24

Anhang, Textpassage vom 02.01.1943


„Peter Rehder (HG.), das neue Osteuropa von A-Z (1992), S.675f.“ Ebd. Ebd. HYPERLINK "http://www.spiegel.de/sptv/special/0,1518,231914,00.html" http://www.spiegel.de/sptv/special/0,1518,231914,00.html 29.01.09 HYPERLINK "http://www.spiegel.de/sptv/special/0,1518,231914,00.html" http://www.spiegel.de/sptv/special/0,1518,231914,00.html 29.01.09 HYPERLINK "http://www.spiegel.de/sptv/special/0,1518,231914,00.html" http://www.spiegel.de/sptv/special/0,1518,231914,00.html 29.01.09 Peter Rehder (HG.), das neue Osteuropa von A-Z (1992), Seite 675f. Alle Weiteren Wesentlichen Inhalte übernommen aus : HYPERLINK "http://www.spiegel.de/sptv/special/0,1518,231914,00.html" http://www.spiegel.de/sptv/special/0,1518,231914,00.html 29.01.09 und „Peter Rehder (HG.), das neue Osteuropa von A-Z (1992), S.675f.“

Das Sozialistengesetz („Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“) verbot sozialistische und sozialdemokratische Organisationen und deren Aktivitäten im Deutschen Reich außerhalb des Reichstags und der Landtage. Es kam damit einem HYPERLINK "http://de.wikipedia.org/wiki/Parteiverbot" \o "Parteiverbot" Parteiverbot gleich. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Sozialistengesetz Esperanto ist eine von Dr. HYPERLINK "http://de.wikipedia.org/wiki/Ludwik_Lejzer_Zamenhof" \o "Ludwik Lejzer Zamenhof" Ludwik Lejzer Zamenhof im 19. Jahrhundert erschaffene internationale HYPERLINK "http://de.wikipedia.org/wiki/Plansprache" \o "Plansprache" Plansprache, deren Aufgabe es war, eine leicht erlernbare, neutrale Sprache für die internationale Verständigung zu entwickeln. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Esperanto Kopfgrippe: epidemische Gehirnentzündung; aus: HYPERLINK "http://lexikon.meyers.de/wissen/Kopfgrippe" http://lexikon.meyers.de/wissen/Kopfgrippe, Anhang, S.. Anhang, S. Anhang, S… Anhang, S.. Anhang, S..


Anhang,S… Anhang, S.. Anhang, S.. Anhang, S.. Anhang, S…


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