Wir hatten eine freundliche Nachbarschaft und die einheimischen Arbeitgeber beschäftigten uns Astrid R. berichtet über ihre Flucht aus Pommern und die Integration in die neue Heimat.
Die Zeitzeugin Astrid R. wurde am 20.06.1936 in Wiejahutzin (Kreis Lauernburg) in Pommern geboren. Sie hatte zwei Schwestern, von denen eine schwer körperlich behindert war. Ihr Vater wurde im Krieg vermisst. Astrid R. lebt heute in Wittlage (Bad Essen). Die Flucht Wir hätten schon früh aus Pommern fliehen können, damals, als der Russe kam… Allerdings besaßen meine Großeltern eine eigene Bäckerei, die sie noch nicht im Stich lassen wollten. Hinzu kam die Hoffnung, Vater würde wieder auftauchen und nach Hause zurückkehren. So entschlossen wir uns zu bleiben und zum Glück beschützte uns auch ein russischer Kommandeur vor Verbrechern. Als dann der Pole kam und unser Leid durch Vergewaltigungen, Zwangsarbeit und anderen Schandtaten verschlimmerte, war es für uns an der der Zeit zu fliehen. Meine Mutter besorgte uns die Ausreispapiere… Wir fuhren mit dem Zug in Richtung Deutschland, bis wir an eine fast zusammenbrechende Oderbrücke kamen. Dort mussten alle Gesunden aussteigen, aber da meine Schwester behindert war und meine Großeltern zu alt zum Laufen, blieben wir im Zug. Die Brücke hielt und so kamen wir am 01. Mai 1946 in einem Durchgangslager in Schleswig Holstein an. Ankunft und erste Ereignisse in Deutschland: Vom Durchgangslager in Bad Segeberg wurden wir nach Stettin in das Entlausungslager gebracht, damit wir auch ja keine Krankheiten in das Land brachten… Anschließend kamen wir nach Dithmarschen. Dort sollten uns unsere neuen Wohnorte und Wohnsitze zugeteilt werden. Doch zunächst mussten wir sortiert werden. Die Jungen und Gesunden kamen aufs Land zu den Bauern, um kräftig anzupacken. Den Älteren und Kranken wurden eher städtische, kleine Wohnungen zugeteilt. Wohnen in der neuen Umgebung: Unsere erste Wohnung lag in Marne. Sie war ziemlich klein und wir lebten dort mit sieben Personen fast ohne Besitz. Gut war, dass wir keine Miete zahlen mussten, aber die Wohnung hatte auch ihre Nachteile. Sie lag zu weit von der Schule entfernt und da es keine öffentlichen Verkehrsmittel gab, wurde uns eine neue Wohnung nahe der Schule zugewiesen. 1 ½ Zimmer standen uns zur Verfügung. Die Wohnung war primitiv. Wir schliefen zu zweit auf einem Strohsack, der mit einem einfachen Laken überzogen war, und der kleine Herd brachte nur selten Wärme in die Wohnung… Essen bekamen wir oft von dem Bauern, bei dem meine Mutter arbeitete. Im Herbst suchten wir meist die Felder von anderen Bauern ab. So stellte sich das Wohnen auf dem Land als großer Vorteil für die Integration meiner Familie heraus. Als wir ein wenig Geld besaßen, zogen wir in eine größere Wohnung. Kann wohl sein, dass wir nun eine kleine Miete bezahlen mussten, aber die Wohnung schien uns trotzdem geeignet. Nach der ersten Nacht in unserem neuen Heim war mein Körper über und über mit Roten Pocken besetzt. So erfuhren wir von den Wanzen, die hinter den Tapeten unserer Wohnung hausten…
Besonderheiten der Integrationsmaßnahmen: Lebensmittelmarken: Man teilte uns Lebensmittelmarken zu, die wir dann in Geschäften einlösen konnten. Die Zigarettenmarken nutzte meine Mutter nie. So haben wir sie für Karussellfahrten eingetauscht… Witwenrente: Wir mussten meinen Vater als tot erklären, um an ein wenig Geld zu kommen. Lastenausgleich: Ja, man bekam Geld als Ausgleich für verlorene Besitztümer. Wir bekamen allerdings keinen Lastenausgleich, da die Bäckerei und das Grundstück ja noch meinen Großeltern gehört hatte, obwohl wir es eigentlich abkaufen wollten. Schule und Weiterbildung: Die aus zwei Klassen bestehende Grundschule, die ich besuchte, war kostenlos, die weiterführenden Schulen allerdings nicht. So musste ich wegen unseres wenigen Geldes auf eine weitere Schulbildung verzichten. Ich lernte zuerst zwei Jahre Hauswirtschaft, bevor ich mich in der Zeitung nach Anzeigen für eine Ausbildung umsah. 1953 begann ich problemlos eine Lehrstelle in einem Bad Essener Hotel, womit die „Waisenrente“ entfiel und ich auf meinen eigenen Beinen stehen konnte. Mein Gehalt war zuerst recht gering und steigerte sich nur langsam, sodass ich nebenbei bei einem Bauern arbeiten musste. Diskriminierung und Integration in das soziale Leben: Die Einheimischen fühlten sich schon als etwas Besseres. Ja, der Begriff „Flüchtling“ war ein Schimpfwort. Trotzdem fanden wir auch deutsche Freunde, hatten eine freundliche Nachbarschaft und auch die einheimischen Arbeitgeber beschäftigten uns. Auch auf den traditionellen Festen wurden wir nie ausgeschlossen. Im Herbst machten die Bauern stets eine Planwagenfahrt mit ihren Helfern. Und auch beim Schützenfest mit dem begehrten Vogelschießen waren wir immer dabei. Es war einer der Höhepunkte des ganzen Jahres. Alte Stoffe oder Kleidung wurden auf Links gedreht und zu hübschen Kleidern vernäht, eine Volkstanzgruppe, zu der ich auch gehörte, führte lustige Tänze vor. Das Interview, auf dem dieser Bericht beruht, führten KlaraMarie Gremme und Romina Stevens.