http://www.projekt-bramsche.de/stories/docs/zz/HoepkerHonerkamp

Page 1

Waldenburg -Vechte-Vechtel Der folgende Text beschreibt die Lebensgeschichte von Ilse Höpker. Für diese Darstellungen wurden die Erinnerungen von Edmund Höpker, ihrem Ehemann, verwendet. Waldenburg: Kindheit und Besetzung Meine Kindheit und meine Einschulung habe ich in Schwarzwaldau Kreis Waldenburg, Niederschlesien verlebt. Mit diesem kleinen Bauerndorf verbinden sich viele wunderschöne Erinnerungen. Erst mal wohnten meine Großeltern nicht weit entfernt, in Gablau die Eltern meiner Muttel und in Adelsbach die meines Vaters, die ich beide oft mit meinen Eltern besucht habe. Dann waren da noch Fischers, die einen kleinen Bauernhof hatten und wo man herrlich mit Otto und den beiden Geschwistern spielen konnte. Wir sind durch den dicht angrenzenden Wald getobt, haben im Sommer wilde Himbeeren, Walderdbeeren sowie Blaubeeren und im Herbst Preiselbeeren und Pilze gesucht -es war ein Paradies -aber es kam auch dazu, dass wir ein wenig helfen mussten, beim Heuwenden, Kartoffelsuchen und beim Korn Mähen haben wir uns, allerdings nur mit mäßigem Erfolg beim Garbenbinden versucht. Ich konnte damals nicht ahnen, wie weit ich eines Tages noch in das Landleben hineinwachsen würde. Leider zählte mein Vater während dieser Zeit auch zu den 45% der Bevölkerung, die arbeitslos war und sich verschiedentlich mit Gelegenheitsarbeiten durchs Leben half. Ich kann mich noch erinnern, dass er in den Jahren 1935/ 1936 bis 1937 in Wittchendorf die Stelle eines Bademeisters ausüben konnte. Leider war das nur eine Beschäftigung in den Sommermonaten und während des Winters machte er einen Lehrgang, bzw. eine Ausbildung als Bademeister und Masseur. Nach bestandener Prüfung hatte er sich auf die Suche nach einer entsprechenden Stelle gemacht und ein Angebot von der Stadt Rothenfelde in Niedersachsen und eines von der Stadt Waldenburg in Niederschlesien bekommen. Nach langer Überlegung haben sich meine Eltern für das letztere entschieden und 1938 hat mein Vater die Stelle als städtischer Bademeister in Waldenburg angetreten. Das erste Jahr bis zum Spätsommer 1939 musste er jeden Tage mit dem Fahrrad nach Rotenbach und dann mit dem Zug nach Waldenburg zur Arbeit fahren. Der Umzug in eine der neu gebauten städtischen Wohnungen der Stadt konnte erst zum 1. September 1939 erfolgen. Leider fiel das zusammen mit dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges und der Mobilmachung am gleichen Tag. Mein Vater wurde sofort eingezogen und statt den Umzug von Schwarzwaldau nach Waldenburg zu organisieren und durchzuführen, musste er sich zum Wehrdienst stellen. So mussten meine Muttel und der Opa aus Gablau „mit meiner tatkräftigen Hilfe“ dieses bewerkstelligen. Ich weiß gar nicht mehr, wie wir unsere Möbel dorthin transportiert haben, ob mit einem Pferdewagen, wie es damals noch allgemein üblich war, oder mit damals noch allgemein üblich war, oder mit einem kleinen LKW. Wenn ich heute darüber nachdenke, war die Wohnung für die damalige Zeit äußerst modern eingerichtet. Im Gegensatz zu unserer Wohnung in Schwarzwaldau gab es hier im Keller ein Badezimmer mit einer großen Wanne und einem kohlebefeuerten Badeofen. Dieses Badezimmer wurde von allen Bewohnern unseres Hausflügels reihum nach dem ausgehängten Plan benutzt. Auch die Küche beeindruckte mich sehr. Es gab einen Gas- und einen Kohleherd sowie einen Kachelofen für das Wohnzimmer. Draußen befand sich ein großer Innenhof, der von den Häuserrückseiten und einer hohen Mauer umschlossen war und der neben einer Teppichstange zum allgemeinen Teppichklopfen auf dem mehr einer Wiese ähnelnden Rasen auch Gelegenheit zum Spielen für uns Kinder bot. Für mich war das Leben anfangs schwierig. Ich war gerade 8 Jahre alt geworden und musste mir erst neue Bekannte und Freundinnen suchen. Auch die große neue Schule mit den vielen Klassenräumen unterschied sich sehr von der kleinen Dorfschule in Schwarzwaldau. Dies alles beeindruckte mich gewaltig und ich brauchte einige Zeit um mich daran zu gewöhnen. Aber ich denke, als Kind geht das sehr viel schneller und problemloser als heute, wenn man versucht, sich da hineinzuversetzen. Dazu beigetragen hat auch wohl, dass Waldenburg sehr schön gelegen ist. Die Schillerhöhe innerhalb der Stadt und der Hochwald am Rande derselben haben mir bald ein heimatliches Gefühl gegeben, das mich an Fischers in Gablau erinnerte, und als ich dann eines Tages Hannchen entdeckte, die wie wir an der Mozartstrasse wohnte und nach Zusammenlegung der kath. mit der Adolf-Hitler Schule meine „Schulfreundin“ wurde, war ich „zu Hause“:


Während des Sommers gingen wir nach dem Schulunterricht oft ins Freibad und im Winter ins Hallenbad, später dann mittwochs und samstags zum Dienst beim Jungmädchenbund. So war unsere Zeit weitgehend ausgefüllt. Leider musste meine Mutter schon bald in der Rüstungsindustrie arbeiten und war dadurch tagsüber nicht zu Hause. 1942 kam die schreckliche Nachricht, dass mein Vater bei Sewastopol in Russland gefallen war. Darauf folgten bis zum Kriegsende 1945 drei Jahre, an die ich keine schönen Erinnerungen hatte und die nur durch gelegentliche Besuche bei Fischers oder „Besorgungsfahrten“ zu den Großeltern aufgehellt wurden. An die letzten Tage des Krieges erinnere ich mich besonders durch einen Tag im Frühjahr, ich glaube es war der 20. April, „Führers Geburtstag,“ als wir Jungmädchen alle im Stadion antreten mussten und eine Weihestunde mitzumachen hatten, bei der mit zum „deutschen Gruß“ erhobenen rechten Arm die Kampflieder der NS-Zeit, die Nationalhymne und das Horst Wessellied gesungen wurden. Der Arm wurde uns dabei so schwer, dass er nur durch Stützung mit dem anderen oben zu halten war. Nach Schluss der Veranstaltung erhielten viele Jungmädchen Fahnen und Wimpel der Gruppe, die sie mit nach Hause nehmen und dort aufbewahren sollten. Das gefiel meiner Muttel aber überhaupt nicht und aus Sicherheitsgründen, der Russe war ja nicht mehr sehr weit entfernt, zerriss sie den Wimpel, zerhackte die Stange und ließ beides trotz meines Protestes durch den Küchenofen wandern. Die Russen ließen aber noch auf sich warten. Erst am Tage der Kapitulation am 9.Mai 1945 zogen sie kampflos mit vielen Panjewagen in die Stadt ein. Das sah fast friedlich und idyllisch aus und die Menschen waren versucht, Ihre Sorgen wegen der Gewalttätigkeit der Russen zu begraben. Doch schon in der ersten Nacht wurden sie eines anderen belehrt, als die Schreie der vergewaltigten Frauen durch die Dunkelheit gellten, das Krachen der eingeschlagenen Haustüren zu hören war und die Hilferufe nach einem Kommissar nicht enden wollten. Tage später jagten die Kosaken auf ihren Pferden, über die Bürgersteige eng an den Häusern reitend durch die Straßen, sodass die Menschen, die sich nach draußen gewagt hatten, sich in Hauseingänge oder, wo diese nicht offen waren, an die Türen pressen mussten, um der betrunkenen, johlenden Truppe auszuweichen. Plünderungen und Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung und das „Uri-Uri“ der Rotarmisten wurde zum bekanntesten. aber auch gefürchtetsten Schlachtruf jener Tage. Nicht in der Mozartstrasse, sondern einige Straßenzüge weiter, ich glaube, es war an der Hermannstrasse, hatten die Russen eine Küche eingerichtet, wo für viele Soldaten gekocht und abends das Essen ausgegeben wurde. Draußen im Hof standen lange Tische und Bänke, wo sie noch lange nach dem Essen saßen, sich mit Wodka vollaufen ließen und dann sangen. Es waren schwermütige und ich meine oft auch traurige Lieder, obwohl man natürlich kein Wort verstand hatte ich den Eindruck, dass sie sich dem Heimweh hingaben und wir Kinder hatten bald herausgefunden, dass sie danach gutmütig und zugänglich waren. Die ersten von uns wagten sich bald mit ihren Milchkannen und Töpfen an die Tische, sobald die meisten aufgestanden und den Hof verlassen hatten. Und oft fand sich dann einer der aufräumenden Soldaten, der ihnen ihre Gefäße füllte. Wenn das auch nicht aus dem großen Kessel in der Küche geschah, sondern dadurch, dass er ihnen die Reste von den Tellern hineinkippte, hat das keiner abgelehnt, weil viele unter ihnen waren, die seit Monaten kein Fleisch oder richtiges Essen bekommen hatten. Abgesehen von den Einbrüchen, vor allen Dingen auf dem Lande, wo die Russen sich ihre Verpflegung requirieren mussten und den Belästigungen der Frauen in der Stadt begann es hier bald ruhiger zu werden. Das änderte sich schlagartig, als die Polen kamen. Es handelte sich dabei nicht um Soldaten, sondern um die in Galizien ausgewiesenen polnischen Bauern und Landleute, viele Juden waren darunter, die wegen der Besetzung ihres Landes durch die Russen dort verschwinden mussten. Diese brachten ihren Hass gegen alles Deutsche mit, der einmal aus der deutschen Besetzung 1939 und zum Anderen aus der Vertreibung durch Russen 1945 resultierte und hier dazu führte, dass sie diesen gegen die Bevölkerung richteten und sich an allem, was sie bekommen konnten, schadlos hielten. Ich weiß es nicht mehr, ob die gefürchtete Miliz ein Ergebnis der sich langsam bildenden polnischen Verwaltung oder ein wilder unorganisierter Haufen war. Jedenfalls übernahm die Miliz bald, obwohl die Russen noch in der Stadt waren, das Kommando und drangsalierten die Bevölkerung, wo sie nur konnten. Da es passieren konnte, dass plötzlich einige polnische Juden vor der Haustür standen und die deutschen Familien ohne ein Recht dazu zu haben, auf die Straße setzten, begannen viele Deutsche und auch wir, sich einen polnischen jungen Mann, von dem man annahm, dass man sich auf ihn verlassen konnte, in der Wohnung aufzunehmen. Das hatte zumindest zur Folge, dass solche „wilden“ Übergriffe


abgewehrt werden konnten. „Unser Janeck“ hat da auch weitgehend mit Erfolg gearbeitet. Wenn er auch nicht alles abwehren konnte, so hat er uns doch in verschiedenen Situationen entscheidend geholfen. Erst als die Zahl der polnischen „Einwanderer“ so groß wurde, dass sie nicht mehr in der Lage waren, sich selbstständig Wohnungen „ zu suchen“, ging man dazu über, ganze Straßenzüge von den Deutschen zu räumen und die Wohnungen den Polen zu überlassen. Das geschah uns im Winter 1945/46 auch. Wir standen eines Tages auf der Strasse, durften nichts mitnehmen, als das, was wir auf dem Leibe trugen und mussten uns eine Unterkunft suchen. Das war für uns sehr schwierig, weil wir noch nicht so lange in Waldenburg wohnten, dass wir eine Auswahl an Bekannten hatten, die wir hätten aufsuchen können. Und so waren wir froh, als uns Frau Hiller, die ebenfalls an der Mozartstrasse uns gegenüber wohnte, anbot, mit zu ihrem Vater in die Altstadt zu kommen. Wir hatten keine Ahnung, was uns dort erwartete, weil wir noch nie da gewesen waren und staunten nicht schlecht, als wir feststellen mussten, dass dieser in einem kleinen Zimmer mit einem Bett, Schrank. Tisch und Stuhl lebte. Wie Frau Hiller sich vorgestellt hatte, mit ihrem Sohn und uns beiden, also mit vier Personen dort unterzukommen und zu leben, weiß ich nicht. Aber vielleicht hatte sie sich das in der momentanen Situation, als wir alle plötzlich im Schnee auf der Straße standen, auch nicht überlegt. Das hat sich dann einigermaßen dadurch geregelt, dass im Nebenzimmer eine Frau wohnte, die auch über ein Bett verfügte, sodass wir uns so mit fünf Personen auf zwei Betten verteilen konnten. Tagsüber ging es ja, weil wir viel unterwegs waren. Einmal mussten wir Heizmaterial, d.h. Kohlen von den Halden oder an alten stillgelegten Gruben „organisieren“, Holz im Wald oder an der Schillerhöhe sammeln, was für alle Beteiligten wegen der herumstreunenden Polen und Russen auch nicht ganz ungefährlich war, und wir mussten was „Essbares besorgen“. Zu dem Zweck sind Hannchen und ich mit dem Zug einmal in die Glazer Richtung gefahren, weil sie dort Verwandte oder Bekannte hatte. Der Erfolg war sehr mäßig. Oft mussten wir uns mit einem Ei, ein paar Kartoffeln oder etwas Mehl begnügen, oftmals aber erhielten wir auch gar nichts und wurden vom Hof gejagt. Einige Male sind Muttel und ich nach Rotenbach gefahren und von dort zu Fuß nach Gablau zu den Großeltern oder nach Adelsbach gelaufen. Die Fahrten waren ergiebiger und wir hatten nur die Sorge, alles unangetastet nach Hause zu bringen. Auch in den Zügen war es nicht ungefährlich. Als Deutsche mussten wir eine weiße Armbinde tragen, um als solche erkenntlich zu sein. Damit konnte uns jeder Pole aus dem Abteil werfen. Vielfach waren die Züge aber auch so überfüllt, dass wir nur draußen auf dem Trittbrett einen Platz erwischten und uns festhalten mussten.

Vertreibung aus der Heimat Das ging so weiter bis zum Frühjahr 1946. Da hörten wir zum ersten Mal von Transporten, die zusammengestellt und mit denen die Leute weggeschafft würden. Aber noch wusste niemand wohin es ging, ob nach Russland oder in den Westen. Straßenweise wurden wir zusammengetrieben und in unserer alten „Adolf Hitler“ Schule einquartiert. Einige Tage vorher waren wir noch einmal in unserer Wohnung in der Mozartstraße gewesen. Wir wollten versuchen, noch einige von unseren Sachen, evtl. ein paar Töpfe und vor allen Dingen warme Bekleidung aus unseren Schränken zu bekommen. Aber nichts war. Der neue Wohnungsinhaber, ein Hüne von Kerl, stand mit verschränken Armen in der Tür und ließ uns gar nicht erst hinein. Mir nahm er den Schulranzen, den ich mir aus dem Keller geholt hatte wieder ab und jagte uns die Treppe hinunter. Lediglich eine kleine Tasche, die wir bei einem Bekannten untergestellt hatten, war noch da und wurde uns ausgehändigt. Meine Muttel hatte darin die wichtigsten Papiere, Urkunden wie Heirats-und Geburtsurkunden deponiert, nicht nur von uns, sondern auch so weit vorhanden von den Vorfahren, sowie viele Fotos von der ganzen Familie. Den Wert dieser Tasche konnten wir erst Jahre später im Westen ermessen. Bei Opa Schwan hatten wir überlegt, was wir, wenn die Reihe an uns käme, mit auf den Transport nehmen sollten und haben uns für die Papiere, das Geld (versteckt bei Muttel im Hüftund Büstenhalter) und neben den persönlichen Sachen einen kleinen Sack mit getrockneten Kartoffeln entschieden. Was wir sonst noch an Wertsachen gerettet hatten, unsere Sparbücher, etwas Schmuck und den kleinen goldenen Reisewecker von Muttel haben wir in einem verschlossenen Weckglas im


Wald vergraben. Wir hofften doch noch immer, eines Tages zurückkehren zu können. In der Schule wurden wir am Abend noch einmal eingehend „gefilzt“, das Gepäck wurde untersucht, wobei noch vieles an Wertsachen verschwand und dann konnten wir uns in den Klassenräumen auf den blanken Fußboden legen und versuchen zu schlafen. Viele setzten sich auch auf ihr Gepäck, um so Übergriffe der noch immer durch die Räume geisternden Polen zu verhindern. Am nächsten Morgen mussten wir zum Bahnhof Altwasser laufen, wo wir in Güterwagen verfrachtet und zu einem endlos langen Zug zusammengestellt wurden. Erst am späten Abend, als es schon dämmerig war, wurden die Türen der Waggons zugeknallt. Dieses Geräusch hat bestimmt vielen einen Schauer über den Rücken gejagt und als sich der Zug mit den im Innern nun ziemlich dunklen Wagen in Bewegung setzte, begannen viele Frauen still vor sich hin zu weinen. Noch immer wusste niemand, wohin die Fahrt gehen würde. Viele tippten auf Sibirien, weil auch das geklaute, bzw. „beschlagnahmte“ Vieh nach dort gegangen war. Nachdem der Zug rollte, war es schwierig festzustellen, wo man sich gerade befand, da niemand nach draußen sehen konnte. Erst am Morgen, als es draußen begann hell zu werden, hatte sich ein Mann aus unserem Waggon auf ein Gepäckstück gestellt und konnte so eine Weile aus der für die Belüftung vorgesehene Luke in der Wagenecke die Landschaft beobachten, durch die wir fuhren. Dabei hatte er mehrere Ortsnamen erkannt, die auf eine Fahrt in Richtung Westen schließen ließen. Irgendwann am Vormittag hielt der Zug auf offener Strecke, erst da merkten wir, dass die Waggontüren nicht verschlossen, sondern auch von innen zu öffnen waren. Als wir aus der Tür sahen, konnten wir aus den anderen Waggons Leute springen sehen, die sich seitwärts in die Büsche schlugen um ihre Notdurft zu verrichten. Auch unter uns waren viele, die das Bedürfnis hatten. Schnell hatte sich die Nachricht von der Zugspitze entlang dem Zug durchgesprochen, dass die Lokomotive einmal pfeifen und beim zweiten Pfiff weiterfahren würde. So ergab sich das nach heutigem Ermessen belustigende Bild, als der erste Pfiff ertönte und niemand wusste, wann der zweite folgen würde, die weibliche Besetzung der Waggons mit hoch gerafften Röcken, die Hosen hochziehend, aus den Büschen die Böschung hoch laufen sehen zu können. Gelacht hat damals niemand, denn man sah den Menschen die Angst an, den Zug nicht mehr zu erreichen und alleine in der Einöde zurück bleiben zu müssen. So half man sich gegenseitig in die Waggons hoch zu klettern und seinen Platz wieder zu suchen. Ich weiß nicht mehr, ob und wann wir etwas zu trinken oder zu essen bekommen haben. Wir hatten zwar unsere getrockneten Kartoffeln. Ich kann mich aber nicht erinnern, davon gegessen zu haben. Ich meine auch, mich an eine Flasche mit Wasser zu erinnern, die meine Muttel in ihrem Rucksack vorsichtshalber mitgenommen hatte. Aber sicher weiß ich das nicht mehr. Irgendwann sind wir in Frankfurt/Oder angekommen. Dort wurden wir im Bahnhof ausgeladen, bekamen Verpflegung und wurden im Wartesaal entlaust. Das war eine eklige Angelegenheit, weil wir auch Tage danach noch keine Gelegenheit hatten, uns zu waschen. Nach der Prozedur mussten wir alle wieder in den Viehwaggons einsteigen und weiter ging die Fahrt in Richtung Friedland. Hier wiederholte sich die Entlausung noch einmal. Wir wurden alle registriert und fuhren dann in den Waggons weiter nach Braunschweig. Hier angekommen, ist gleich ein Teil ausgestiegen, weil wir angeblich am Ziel angekommen waren. Bald mussten wir allerdings erfahren, dass die Stadt so mit Flüchtlingen und Aussiedlern überfüllt war, dass unsere Aufnahme nicht mehr möglich war. Also hieß es wieder einsteigen, diesmal in einen Personenzug, in dem es fürchterlich eng war. Viele mussten in den Gängen auf ihren Gepäckstücken sitzen, weil nicht genügend Sitzplätze vorhanden waren und weiter ging die Fahrt in Richtung Westen. Nach einer Fahrt von insgesamt vier Tagen und drei Nächten war in Quakenbrück Endstation für den Zug.. Alle stiegen aus und hier begann die große Verteilung. Einquartierung in Vechtel Schon auf dem Bahnsteig standen Pfähle mit Schildern, auf denen Ortsnamen standen, die uns aber alle unbekannt waren. Was sagte uns Badbergen, Bersenbrück oder Ankum? Ein Teil blieb wohl in der Stadt, andere wurrsenbrück oder Ankum? Ein Teil blieb wohl in der Stadt, andere wurden in den umliegenden Gemeinden untergebracht und die mit uns im Waggon zusammen gewesen waren, hatten


sich um größten Teil an einem vor dem Bahnhof stehenden Bus, der hinter dem Schild mit der Aufschrift: „Bippen“ stand, versammelt. Es kam dann noch jemand, der uns gezählt hat. Scheinbar waren es für den Bus zu viele Personen und einige mussten in einen anderen steigen. Dabei hat man aber keine Familien oder Gruppen, die zusammen bleiben wollten, getrennt. Wir hatten keine Ahnung, wohin die Fahrt mit dem Bus ging. Unterwegs stiegen in den Dörfern, durch die wir kamen, immer wieder einige von unseren Leuten aus und der Rest fuhr weiter. Ich weiß nicht mehr, ob man sich einen Ort aussuchen konnte, oder ob jemand die Entscheidung hierfür traf. Heute denke ich, dass diese sich danach richtete, wie viele Menschen in den einzelnen Dörfern noch unter zu bringen waren. Wir blieben mit Hillers und vielen anderen bis zuletzt im Bus und landeten so in Bippen vor dem Bahnhofsgebäude. Hier war Endstation und alles musste aussteigen. Die Weiterfahrt ging mit Pferdefuhrwerken vor sich. Es wäre sicher eine wunderschöne Fahrt an diesem Maimorgen gewesen, wenn nicht alle so schrecklich müde und kaputt gewesen wären. Alles grünte und blühte. Bald hatten wir das Dorf Bippen, später auch die befestigte Straße verlassen und fuhren durch Feldwege, die auf beiden Seiten mit Büschen gesäumt waren. Auf den Wiesen leuchteten Butterblumen und Kühe und Pferde grasten friedlich. Nach, ich glaube, gut zwei Stunden Fahrt waren wir in Vechtel vor dem Saal der Wirtschaft Knolle Brand angekommen. Hier stiegen wir ab und nachdem jeder seinen Rucksack oder sonstiges Gepäck erhalten hatte, gingen wir in den Saal. Er war recht groß, mit einer freien Fläche von 262 qm und ohne Trennwände, die erst später aufgestellt worden sind, als wir bereits in Privatquartiere umgezogen waren. Auf dem Fußboden war Stroh ausgebreitet und jeder erhielt seinen Platz zum Schlafen. Ich kann mich nicht erinnern, am Abend unserer Ankunft hier etwas zu essen bekommen zu haben. Aber trinken konnten wir und Gelegenheit für eine Katzenwäsche war auch vorhanden. Danach setzte sich alles zusammen, teils auf den vorhandenen Stühlen und wir Kinder auf dem Stroh. Wir kannten uns keineswegs alle, weil in Waldenburg in den geräumten Straßen auch schon Leute aus allen möglichen Ecken der Stadt zusammengewürfelt und jetzt gemeinsam auf die Reise geschickt worden waren. Wir konnten aber feststellen, dass wir mit 45 Menschen in dem Saal lagen. Es handelte sich um zehn Familien ( davon 18 Kinder ) und sechs alleinstehende Personen. Keiner hatte eine Vorstellung, wie es weitergehen sollte und so war die Stimmung sehr gedrückt, als sich alle an diesem ersten Abend „in der Freiheit“ zum Schlafen niederlegten. Wir haben eine ruhige Nacht verbracht. Alle waren froh, dass wir uns hinlegen und lang ausstrecken konnten, dass es draußen kein Geschrei gab und keine Russen kamen oder Polen, die uns rausschmeißen konnten. Am anderen Morgen in der Frühe wurde unsere Nachtruhe durch das Geläute einer Kleinbahn abrupt beendet. Viele, vor allen Dingen alle Kinder stürmten nach draußen, um zu sehen, was da vorbeifuhr. Wir konnten gerade noch sehen, wie die Schmalspurbahn Quakenbrück Lingen auf der gegenüberliegenden Straßenseite hinter dem Graben und mitten über den Hof des dort stehenden Bauernhauses rollte. So etwas hatte noch niemand von uns gesehen. Wir fanden es lustig und so begann der Tag nicht so bedrückend wie die Vortage. Sehr zeitig kam der Bürgermeister des kleinen Ortes Vechtel, um nach dem Rechten zu sehen. Er musste gleich veranlasst werden, in seinem Amte tätig zu werden. Die Frau Brand weigerte sich nämlich, den Schweinefutterkessel zum Kochen von Kartoffeln, die wir zwar noch besorgen mussten, zur Verfügung zu stellen. Ihr wurde aber die Notwendigkeit der Maßnahme durch den Bürgermeister eindringlich klar gemacht. Nachdem wir bei den benachbarten Bauern Kartoffeln bekommen hatten, von irgendwo war auch noch Quark besorgt worden, erinnere ich mich an das erste Essen nach der Ausweisung aus Schlesien: Es war Pellkartoffeln mit Quark, und wir haben geschwelgt. Wie sich die weitere Verpflegung gestaltet hat, kann ich heute nicht mehr sagen. Es war jedenfalls sehr schwierig für uns alle. Wir hatten noch keine hier gültigen Lebensmittelmarken, mit denen wir hätten einkaufen können. Einen Laden gab es in unmittelbarer Nähe auch nicht und die nächsten Orte waren Bippen und Fürstenau, wie wir erfuhren. Das waren 9 km zu laufen, denn eine Fahrverbindung dorthin gab es nicht. Weil ich während der Nacht ständig stark gehustet hatte und zu der damaligen Zeit TBC stark verbreitet war, musste ich am nächsten Tag nach Fürstenau ins Krankenhaus zum Durchleuchten und zur Untersuchung. Muttel und ich sind mit dem Milchwagen dorthin gefahren. Gott sei Dank bestätigte sich der Verdacht nicht und wir konnten wieder nach Vechtel zurückkehren. Dadurch aber hatte ich als erste Fürstenau kennen gelernt. Am nächsten Tag war hier Frühjahrskirmes und ich bin zusammen mit einigen Mädchen aus dem Saal, darunter Margot Wittchen, die älter war als ich, ungefähr 18 Jahre, und ein etwa gleichaltriges Mädchen, das ich später bei Harbecker wieder getroffen habe, zu Fuß noch einmal nach Fürstenau gegangen, ob der „Hillerhorst“ oder andere Jungen


dabei waren, weiß ich nicht mehr. Aber einige Sachen sind mir doch im Gedächtnis geblieben. Noch bevor wir auf der Großen Straße waren, konnten wir am Schlossteich sehen, wie die Polen kopfüber vom Bootssteg hier zum Baden hinein sprangen. Das beeindruckte uns sehr, einmal weil wir überrascht waren, hier wieder Polen anzutreffen, die aber ganz friedlich zu sein schienen und zum anderen, weil es an den Straßen Buden gab, in denen man etwas kaufen konnte und ein Karussell für Kinder da war, das für uns ein Inbegriff für Frieden war. So überwältigend war die erste Nachkriegskirmes in Fürstenau, dass sie mir mit allem unauslöschlich im Gedächtnis geblieben ist. Leider waren wir die ersten, die den Saal bereits nach wenigen Tagen verlassen mussten. Ich wäre gerne noch länger hier geblieben, um mich besser einzugewöhnen. Ich hatte auch noch keine Freundin unter den mit uns Ausgewiesenen gefunden. Meine Freundin Hannchen, die schon in Waldenburg in einem anderen Stadtteil untergekommen und deshalb auch nicht mit unserem Transport in den Westen gekommen war, fehlte mir sehr. Sie war mit ihrem Transportzug in Siegen gelandet. So traf mich unsere Verlegung in Privatquartiere umso härter. Ich kam zu einer Familie Harbecke, die in einem sehr kleinen Heuerhaus wohnten. So ein Haus hatte ich noch nie gesehen. Alles war wirklich „klein“, die Diele, die Küche und auch das Zimmer, in dem ich mit der Tochter zusammen in einem Bett schlafen musste, weil sonst kein Platz vorhanden war. Ich schätze heute, dass das Dach bis auf etwa 1,50 m über dem Erdboden herunterging. Dadurch bedingt, waren die Fenster entsprechend klein und es war in allen Räumen sehr dunkel. Die Muttel hatte bei Hölschers ein Zimmer bekommen. Das war ganz in der Nähe, vielleicht 200 bis 300m von Harbecke entfernt. Aber außer einem schmalen Feldbett, einem Tisch und einem Stuhl befand sich in diesem nichts. Über dem Tisch hing für die Beleuchtung eine große und recht schöne Petroleumlampe, die nur in Ermangelung von Petroleum und vor allen Dingen wegen des fehlenden Dochtes nicht angesteckt werden konnte. Ich weis nicht mehr, was der Grund hierfür war. Dass es keinen Spiritus und Petroleum während des Krieges gab, war mir von zu Hause bekannt, aber warum es keine Dochte gab, kann ich mir heute noch nicht erklären. Hölschers haben es auch mit in Streifen geschnittenen Parchent versucht, hieraus gefertigte Dochte saugten zwar das Petroleum hoch, brannten auch, aber sie rußten so stark, dass der Zylinder sofort ganz schwarz wurde und kein Licht mehr durchließ. Die einzige intakte Petroleumlampe hing hier in der Küche und wenn jemand zur Toilette wollte oder zum Viehfüttern auf die Diele ging, nahm er sie mit. Daraufhin saßen auch in der Küche alle im Halbdunkel. Wenn es schon später war und man nicht ganz im Dunkeln sitzen wollte, machte jemand die Ofentür auf, um etwas Licht von der Glut heraus zu lenken. Dass es in Deutschland noch Häuser oder ganze Landstriche ohne Stromanschluss gab war uns vollkommen unbekannt. So konnte ich Muttel zwar abends besuchen, aber wir saßen im Dämmerlicht oder später auch im Dunkeln und haben uns etwas erzählt, bis ich wieder rüber nach Harbecken zum Schlafen musste. Dort habe ich mich sehr einsam gefühlt, vor allem tagsüber. Da wir von den Wirtsleuten mit verpflegt wurden, hielten wir es für notwendig, hierfür im Haushalt oder auf dem Acker zu helfen. So war ich bei Harbecken am ersten Morgen nach dem Kaffee trinken zum Kartoffel schälen eingeteilt. Geschält wurde mit einem Messer, nicht wie ich es gewohnt war mit einem Schälmesser und so musste ich manchen Tag einen ganzen Eimer voll auf diese Art schälen. Ich habe nie begriffen, wie eine Familie soviel Kartoffeln essen konnte. Aber sie waren immer weg und am nächsten morgen konnte ich mich wieder hinsetzen und schälen, schälen...schälen. Ich fühlte mich hier so isoliert und von Gott und der Welt verlassen, dass ich hätte verzweifeln mögen. Das traf für die Muttel auch zu. Es muss für einen in der heutigen modernen Zeit geborenen und lebenden Menschen unverständlich und nicht nachvollziehbar sein, was es für ein Gefühl es ist, wenn man aus einem funktionsfähigen Haushalt, in dem alles vorhanden war, plötzlich in eine Situation gerät, in der man nichts, aber wirklich nichts mehr besitzt, was für den täglichen Lebensablauf notwendig ist. Abgesehen davon, dass uns alle zum Essen kochen, bzw. zum Herrichten desselben erforderlichen Geräte fehlten und wir nicht einmal ein Besteck hatten. Auch muss man sich überlegen, was es heißt, nicht einmal über Nadel und Faden zu verfügen, um einen Riss oder ein Loch in der Kleidung zu reparieren. Wir sind in dieser ersten Zeit auch nicht zum Saal gegangen, wo die anderen mit uns gekommenen noch waren, weil wir den Weg dorthin nicht kannten. Damals gab es nur Feldwege, die die einzelnen


Straßen untereinander verbanden und man musste sich in diesen schon auskennen, um sich nicht zu verlaufen. Ich kann mich noch an ein Ereignis während der Zeit bei Harbecken erinnern, das ich von zu Hause nicht kannte. Eines Abends wurde die Diele besonders sauber gefegt und dann Häcksel ausgestreut. Nach und nach kamen die jungen Leute aus der Nachbarschaft und den weiter entfernt liegenden Gehöften zum Tanz - Holskenball wurde das genannt. Einer von den Jungen spielte auf der Quetschkommode und alle waren mehr oder weniger lustig. Irma Harbecke, meine Schlafgenossin war damals 17 Jahre, ich war 14 und habe mich ziemlich aus der Sache herausgehalten. Sie hatte ihren Freund, mit dem sie tanzte und ich saß an der Seite auf einer Futtertruhe. Der ungefähr 12 jährige Reinhold Harbecke ärgerte mich manchmal ein wenig, aber nicht bösartig, sondern aus Spaß. Irgendwo in der Ecke hing eine Petroleumlampe, die ein diffuses Licht auf der Diele verbreitete und so recht nicht sehen ließ, was sich beim Tanzen abspielte. Da alle platt sprachen, habe ich auch wenig oder gar nichts verstanden. Der Walter und Werner von Hölschers waren auch da, als es plötzlich unruhig zu werden begann. Der obere Teil der Dielentür flog auf und dahinter stand eine Rotte von Jungen aus dem Nachbardorf Handrup. Sofort begannen sie, mit faulen Eiern zu werfen, die auf dem Boden der Diele zerplatzten und einen infernalischen Gestank verbreiteten. Das hat gestunken, wie ich es noch nicht erlebt hatte und alles flüchtete. Leben und Arbeiten in Vechtel Nach etwa drei oder vier Wochen, es muss Anfang oder Mitte Juni gewesen sein, erklärten sich Hölschers damit einverstanden, dass ich rüber zur Muttel ziehen konnte. Noch hatten wir kein zweites „Flughafenbett“ im Zimmer, sodass wir in einem Bett schlafen mussten, aber ich war glücklich. Heute denke ich, dass es von Hölschers nicht ganz uneigennützig war, denn es war die Zeit fürs Rübenverziehen und wir wurden am nächsten Morgen gleich mit eingespannt. Das war eine stupide nicht enden wollende Arbeit. Als ich das Feld gesehen habe und meine ersten beiden Reihen neben Muttel zugeteilt bekam, habe ich gedacht, dass das eine Arbeit wäre, die für dieses Leben ausreichte und niemals fertigwerden würde, so lang waren die Reihen, durch die wir auf den Knien rutschend rechts und links von uns bearbeitet haben. Aber ich denke, dass mich Hölschers mochten, denn schon nach wenigen Tagen stellten sie ein zweites „Flughafenbett“ ins Zimmer und so hatte jeder von uns seine eigene Schlafstelle. Als die erste Arbeit getan war, fiel eine andere für mich an. Es war aber kein Kartoffelschälen wie bei Harbecken, dafür gab es bei Hölschers den alten „Onkel“ Wilhelm, der wegen seiner Kriegsverletzung so recht keine andere Arbeit verrichten konnte. Aber es standen fünf Kühe im Stall, die nach dem morgendlichen Melken auf die Weide getrieben werden mussten. Diese war ziemlich weit vom Hof entfernt und nachdem mir der Sohn von Hölschers einmal den Weg gezeigt hatte, musste ich sie jeden morgen durchs ganze Dorf, bei Knolle Brands vorbei durch einen Bach auf die andere Seite desselben in die Weide treiben und konnte anschließend heimgehen. Abends musste ich sie wiederholen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten, der Umgang mit Kühen war mir vollkommen neu, habe ich mich aber daran gewöhnt und es ging ganz gut. Eines Tages aber stellten Hölschers fest, dass die Weide abgegrast war und da sie die am Hause belegte Wiese zum Heuen vorgesehen hatten, mussten die Kühe an den Rändern der Feldwege „gehütet“ werden. Das wurde nun meine Aufgabe. Anfangs war es ungewohnt, Angst hatte ich jedoch nicht. Hatte ich zur Unterstützung doch Lucki, den Schäferhundmischling des Hauses bei mir. Aber es war doch eine sehr eintönige Sache, fast den ganzen Tag mit den Kühen an den Wegen entlang zu ziehen oder wenn sie grasten, sich an den Grabenrand zu legen und in den Himmel zu starren. Mit Ausnahme von einigen Vögeln, vielen Bienen, Hummeln oder Grillen gab es nichts zu hören, und da noch keine Ernte- oder Frühjahrbestellungszeit war, kam auch kein Pferdewagen vorbei. Man konnte glauben, alleine auf der Welt zu sein, oder außerhalb von dieser zu leben. Ganz schlimm wurde es am Abend, wenn die Glocken des etwa fünf Kilometer entfernten Klosters Handrup herüberschallten. Oft habe ich geglaubt: Das ist das Ende der Welt, weil ich mich so verloren fühlte und es mich sehr traurig stimmte. Meistens habe ich mich gleich danach mit meinen Kühen auf den Weg nach Hause gemacht.


Im Juni gab es für uns Lebensmittelmarken, die wir im Gemeindebüro Bippen abholen mussten. Da konnten wir uns endlich selbst etwas Brot (Maisbrot) und Margarine kaufen. Auch haben wir bei der Gelegenheit unsere ersten Tassen, Teller und Holzbrettchen besorgt. Als wir am Abend wieder bei Hölschers ankamen, haben wir zwar unser Abendessen „aus der eigenen Küche“ genossen, aber wir waren nach dem Gewaltmarsch (Hin-und Rückweg 18 km) so müde und kaputt, dass wir bald in die Betten gefallen sind. Kochen konnten wir uns leider noch nichts, weil wir keinen Herd oder Ofen hierfür hatten. Es fehlten uns auch die erforderlichen Töpfe und Gefäße. Einige Zeit später haben wir beim Holzsammeln einen Benzintank, den wohl ein Flugzeug abgeworfen oder verloren hatte, gefunden. Den haben wir mitgenommen und zum Schmied gebracht. Dieser hat uns das eiförmige Gebilde durchgeschnitten und die Kanten umgebörtelt. So entstanden zwei Schalen von ca. 30 cm Breite und 40-50 cm Länge. Wenn sie auch nicht sehr schön und ansprechend aussahen, sie bestanden aus unbearbeitetem rohem Aluminium, haben sie doch ihren Zweck erfüllt und sich sehr lange gehalten. Ich benutze sie heute noch zum Kartoffelschälen. Auch einen Nachttopf haben wir gefunden. Der hatte zwar ein Loch, weil er durchgerostet war, aber man konnte es zulöten und so war das Gefäß vielseitig verwendbar, nur seinem eigentlichen Verwendungszweck war es entfremdet. Es fehlte ja so vieles. Wir hatten keinen Löffel, kein Messer und keine Gabel. Von Hölschers konnten wir nichts in dieser Beziehung erwarten, weil sie selbst auch nur zwei Töpfe und eine Pfanne hatten. Ich kann mich noch an eine Begebenheit im Herbst erinnern. Wir hatten Pilze gesucht und Frau Hölscher gefragt, ob sie uns ihre Pfanne zum Braten geben würde. Das wurde aber entrüstet abgelehnt. Wohl weniger, weil sie uns nicht die Pfanne geben wollte, als deswegen weil wir „ das giftige Zeug“ darin braten wollten. Pilze waren auf ihrem Herd noch nie gebraten worden. Diese Verhältnisse waren für uns ganz furchtbar und unverständlich. Aber man muss sich auch die Lebensumstände der Familie Hölscher einmal vor Augen halten. Wir konnten es erst gar nicht glauben, als wir hörten, dass Frau Hölscher in ihrem ganzen Leben nur zweimal in Fürstenau gewesen und niemals weiter darüber hinaus gekommen war. Wenn es damals auch nicht eine so mobile Zeit war wie heute, kam uns das doch sehr seltsam vor. Was sollte sie also von uns denken. Bestimmt konnte sie sich nichts unter Schlesien oder Waldenburg vorstellen, wie weit es bis dorthin war und wie wir nach Vechtel gekommen waren. Für sie waren wir „Die von drüben“ oder „Flüchtlinge“. Dass wir gar nicht geflüchtet, sondern ausgewiesen worden waren, hat sie nie verstanden. Dazu beigetragen hat auch wohl, dass es bei Hölschers kein Radio gab. Sie hatten zwar eins, das mit einem Akku betrieben werden konnte, aber es war schon seit vielen Jahren kaputt. Eine Zeitung gab es auch nicht. So habe ich während der ganzen Zeit in Vechtel weder Radio gehört, noch Zeitung gelesen und mit einer Ausnahme auch kein Buch gelesen. Hölschers hatten ein einziges Buch, das ich natürlich sofort gelesen habe. Es war sehr schön, handelte von der dortigen Gegend und ihren Menschen und kam mir vor, wie ein Märchen, obwohl es sehr traurig war. Deswegen ist der Tagesablauf von damals aus heutiger Sicht nur sehr schwer nachvollziehbar. Am Anfang sind wir morgens aufgestanden, wussten nicht, wo man sich waschen konnte und durfte, hatten kein Handtuch, keine Seife, die Hölschers hatten neben der Pumpe nur ein paar alte Lappen hängen, mit denen sie sich abtrockneten und die von uns nur widerwillig benutzt wurden. Auch der Besuch der Toilette war anfangs mit Schwierigkeiten verbunden, weil sich diese auf der Diele, zwischen Pferde-und Kuhstall befand und der Weg dorthin vor allen Dingen bei Dunkelheit nur schwer zu finden war. Die Diele, obwohl klein und nicht vergleichbar mit denen der großen Bauern in Vechtel, hat mich doch sehr beeindruckt, weil ich diese Form von Schlesien her nicht kannte. Zum Beispiel gab es, wenn man zur Dielentür hereinkam, rechts den ersten Pferdestall, in dem sich das Pferd frei bewegen konnte. In Schlesien standen die Pferde ähnlich wie die Kühe in Boxen. Hinter dem Pferdestall schloss sich eine Reihe von, ich glaube fünf Kühen an und dahinter war vor der sich anschließenden Küche noch ein Pferdestall, genau wie der erste. Zwischen diesem und den Kühen ging der Gang zur Toilette ab. Auf der anderen Seit der Diele befanden sich die Schweineställe, die ebenfalls zur Diele hin offen waren, sodass die Tiere von da aus gefüttert werden konnten. Nach hinten, also zur Straße befanden sich die Klappen zum Ausmisten der Ställe. Über den Ställen der Schweine und Kühe waren an den vorderen Ständern Körbe angebracht, in die die Hühner ihre Eier legten. Damit sie nicht hoch fliegen mussten, war auf der einen Seite neben


dem Kopf der letzten Kuh die Hühnerleiter befestigt, auf der sie zu ihren Nestern gelangen konnten. Zwischen den Schweineställen und der Küche stand in einem kleinen nach draußen führenden Gang die einzige Pumpe des Hauses mit einem steinernen Gossenstein. Nach dem Melken und nachdem das Vieh versorgt war, wurde gefrühstückt, wir bekamen auch ein Köppchen Milch mit Brot und die Arbeit wurde eingeteilt. Nach der Zeit des Rübenverziehens folgte die des Heuwendens und -einfahrens, später mussten wir beim Garbenbinden während des Getreidemähens helfen und ich hatte während der ganzen Zeit meine Kühe zu versorgen. So hatten wir manchmal Schwierigkeiten, die Zeit zu erübrigen, wenn wir etwas einkaufen wollten. Von Zeit zu Zeit wurden auf den Lebensmittelkarten einzelne Abschnitte aufgerufen, auf die es Sonderzuteilungen gab. Mal war es, glaube ich, Fisch und einmal haben wir einen großen Kürbis bekommen, aber dafür musste man nach Bippen oder Fürstenau gehen, denn in Vechtel gab es nichts und ich glaube sicher, dass Hölschers dafür das nötige Verständnis fehlte, was sollten sie auch mit Fisch oder Kürbis anfangen. Ich bin weder tagsüber und schon gar nicht am Abend weggegangen. Wohin auch -eine Freundin oder Bekannte hatte ich weder im Dorf, noch unter den Aussiedlern. Nur die Kühe hatte ich und Lucky, den Schäferhund. Bis das Unglück passierte. Nie hatte ich auf den Schotterstraßen oder den Feldwegen ein Auto fahren gesehen und auch Lucky kannte ein solches wohl nicht. Und ausgerechnet, als ich das erste Auto dort sah, rannte Lucky gleich trotz meines Rufens darauf zu, um es zu verbellen. Dabei ist er überfahren worden. Das war furchtbar, nicht nur für mich, auch die ganze Familie weinte, als ich mit der Nachricht nach Hause kam. Wir haben ihn dann mit einem Handwagen geholt und begraben. Während des Sommers haben wir begonnen, nach unseren Verwandten zu forschen. Wir hatten keine Ahnung, ob Tante Erna, die mit ihrer Tochter Irmhild Waldenburg noch mit dem letzten nach Westen abgehenden Zug vor Kriegsende verlassen hatte, irgendwo dort angekommen war, ob die Großeltern in Gablau und Adelsbach noch in Schlesien geblieben oder auch ausgewiesen worden waren. Mit Tante Erna hatten wir bei ihrer Abfahrt in Schlesien vereinbart, dass sie bei ihrer Ankunft im Westen sofort schreiben oder wenn dieses nicht mehr möglich wäre, Nachricht an Tante Else oder die Cousine in Berlin geben solle. Das hat auch geklappt und als wir von Vechtel aus dorthin schrieben, erhielten wir postwendend Bescheid, dass Tante Erna in Klein-Sorheim bei Nördlingen untergekommen sei. Den Verbleib von Opa Lindenau und Oma Tannhäuser erfuhren wir erst viel später, als wir an die Rotes-Kreuz-Zentrale nach Berlin geschrieben hatten. So zahlte sich die Registrierung in Friedland doch aus, denn von dort gingen alle gesammelten Namen nach Berlin zum „Roten Kreuz“ und wurden dort mit den Melderegistern der einzelnen Gemeinden und Städte komplettiert. Opa Lindenau lebte auf einem Bauernhof in der Nähe von Braunschweig, wo er den noch nicht aus dem Kriege zurückgekehrten Bauern vertrat und Oma Tannhäuser war in Garbsen bei Hannover gelandet. Erst viel später haben wir erfahren, dass die Urgroßmutter Tannhäuser, sie war bei ihrer Ausweisung schon über 80 Jahre alt, nach Siegen gekommen und dort bereits gestorben war. Sie hatte sich einfach nicht mehr zurecht finden können in diesem Leben. Wir hatten versucht, sie bei unserer Abreise aus Schlesien mitzunehmen, was uns aber mit der Begründung verwehrt worden war, dass so alte Leute nicht auszureisen brauchten. Dafür hat man sie dann alleine auf die weite Reise geschickt. Ich weiß nicht mehr, wann es genau war, als wir als ersten unseren Opa in Braunschweig besucht haben, aber ich denke, es war noch im Spätsommer 1946. Eine Reise mit dem Zug war zu der Zeit noch ein echtes Abenteuer. Einen exakten Fahrplan gab es nicht, zumindest konnten wir in Vechtel einen solchen nicht erfahren. So sind wir mit der ersten nach Quakenbrück fahrenden Kleinbahn in Vechtel abgefahren, mussten in Quakenbrück und Osnabrück umsteigen, was mit langen Aufenthalten verbunden war und kamen am ersten Tag, glaube ich, bis Hannover. Da in der Nacht keine Züge fuhren, bzw. abgefertigt wurden, mussten wir dort aussteigen und im zerstörten Bahnhofsgebäude bis zum nächsten Morgen warten. Der dann nach Braunschweig weiterfahrende Zug war bereits so überfüllt, dass wir Last hatten mitzukommen. Von dort aus mussten wir dann noch ein Stück auf einer Nebenstrecke bis zu dem Ort fahren, wo unser Opa wohnte. Der Name des Ortes ist mir leider entfallen. Es war aber wieder später Abend geworden, bis wir dort ankamen. Wir hatten uns vorgenommen uns bei ihm umzusehen, ob vielleicht die Möglichkeit bestand, eine bessere Unterkunft zu finden als unsere in Vechtel. Aber das haben wir bald aufgegeben und der Opa konnte uns in der Sache auch nicht behilflich sein. So haben wir nur einmal übernachtet und sind am nächsten Tag schon wieder zurückgefahren.


In Braunschweig angekommen, mussten wir gleich den Bahnhof räumen, weil dieser abends und während der Nacht abgeschlossen wurde. Wir haben uns dann zu Fuß auf den Weg gemacht und sind zu einem Hochbunker gelaufen. Der war vollkommen leer und es brannten nur einige wenige nackte Birnen, die ein recht dürftiges Licht verbreiteten. Also mussten wir uns wieder auf unser Gepäck setzen, um es zu bewachen und um eine Sitzmöglichkeit zu haben. Da der Bunker von außen abgeschlossen wurde, war das schon eine recht heikle Angelegenheit. Am Morgen, nachdem man unser „Gefängnis“ aufgeschlossen hatte, sind wir wieder zum Bahnhof gegangen. In den Zug nach Hannover zu kommen, gestaltete sich wegen Überfüllung äußerst schwierig. Wir hatten schon Probleme überhaupt auf den Bahnsteig zu kommen und standen schließlich dicht gedrängt in vier oder fünf Reihen hintereinander. Sobald der ankommende Zug stand, drängten die Menschen auf die sich öffnenden Türen zu und wenn dann absolut nichts mehr hineinging, wurden die Türen zugeschlagen und der Rest blieb auf dem Bahnsteig stehen. Das wiederholte sich an dem Tag dreimal und erst mit dem vierten Zug kamen wir hinein, sodass wir am Abend wieder in Hannover festhingen. Für die restliche Strecke über Osnabrück, Quakenbrück bis nach Vechtel brauchen wir wieder einen ganzen Tag und hatten Glück, in Quakenbrück die letzte Kleinbahn zu erwischen. Die Oma in Garbsen bei Hannover haben wir im Herbst auch noch unter gleichen Schwierigkeiten besucht. Für uns brachte die Fahrt aber auch keinen Erfolg und nach fünf Tagen waren wir wieder zu Hause in Vechtel. Am meisten versprachen wir uns noch von einem Besuch bei Tante Erna in Klein -Sorheim. Während des Sommers war ein Reihe von Briefen hin- und hergegangen und wir wussten, dass sie eine eigene kleine Wohnung auf einem Bauernhof hatte, die ursprünglich wohl als Altenteil für die Großeltern auf dem Hof vorgesehen war. Das war Anlass für uns, die wenigen Sachen, die wir inzwischen erworben oder gesammelt hatten einzupacken, es ging alles in unseren Rucksack, der uns schon bei der Ausweisung begleitet hatte und in einen Karton und uns auf den Weg zu machen. Bei der Entfernung bis dorthin hatten wir uns ja schon nach den gemachten Erfahrungen (Braunschweig und Hannover) auf einiges gefasst gemacht. Aber ich denke, die Reise war von Anfang an von einem Unstern begleitet. Um nicht den Zug um 5:30 Uhr zu verpassen, hatten wir uns schon am Vorabend mit dem Gepäck auf den Weg gemacht und wollten die Nacht bei Hillers, die noch im Obergeschoss in der Gastwirtschaft Knolle Brand wohnten, verbringen. Die Haltestelle der Kleinbahn war nur einige hundert Meter von dort entfernt. Das Schlafen gestaltete sich etwas schwierig, weil Frau Hiller für sich und ihren Sohn Horst nur ein Bett hatte. Aber wir hatten das Improvisieren in den letzten Monaten ja gelernt und so halfen wir uns, indem zwei Stühle vor das Seitenteile des Bettesgestellt wurden, auf denen Frau Hiller und Muttel Ihre Beine ausstrecken konnten und Horst lag neben Frau Hiller und ich neben Muttel alle quer im Bett. Um gut zu schlafen, war es einfach zu unbequem. Erst gegen Morgen sind wir alle in einen unruhigen Schlaf gesunken. Dann kamen die Schicksalsschläge einer nach dem anderen. Der gestellte Wecker lief nicht ab, alle schliefen fest und tief, wie in der ganzen Nacht nicht und wurden erst durch das bekannte Bimmeln der Kleinbahn wach, wie wir es schon einmal nach unserer ersten Nacht im Saal auf dem Stroh gehört hatten. Da half nun nichts mehr, der Zug war verpasst und weg. Es war nur gut, dass uns kein Fahrplan drängte und wir keine Gefahr sahen, den nächsten Anschluss zu verpassen. Am Nachmittag fuhr ja noch eine Kleinbahn in Richtung Lingen, die wir auch genommen haben. Der zweite Tag unserer Reise verlief ohne Probleme und am Abend hatten wir nach verschiedenen Umsteigebahnhöfen Frankfurt erreicht. Hier mussten wir den Zug wieder verlassen und konnten uns im Bahnhofsgebäude, das kein Dach mehr hatte, auf unser Gepäck setzen. Gott sei Dank regnete es nicht und es war auch nicht so kalt, sodass ich einen kleinen Spaziergang vor dem Bahnhof gemacht habe. Das habe ich aber bald wieder aufgegeben, weil ich ständig mit zweideutigen Angeboten angesprochen wurde. Ich hab mich schließlich zur Muttel gesetzt und gewartet, dass die Nacht vorübergehen und der nächste Zug fahren würde. Ich weis auch nicht mehr, warum die Fahrt am dritten Tag unserer Reise von Frankfurt nach Augsburg so lange gedauert hat, jedenfalls war es schon wieder Abend, als wir dort ankamen und einsam und verlassen in der Bahnhofshalle standen. Ob der Bahnhof auch abgeschlossen wurde, weiß ich nicht mehr. Ich kann mich aber daran erinnern, dass uns ein „Bahner“ der gerade Feierabend machte angesprochen und sich erkundigt hat, ob wir eine Unterkunft suchten.


Zögernd hat das die Muttel bejaht. Es war immerhin ein fremder Mensch für uns. Darauf hat er uns eingeladen mit ihm zu kommen und bei ihm zu Hause zu übernachten. Wir sind dann mit der Straßenbahn in einen Vorort von Augsburg gefahren, wo er wohnte und ihn seine Frau und Tochter schon erwarteten. Wir haben ein Abendessen und ein Nachtlager bekommen. Als wir am nächsten morgen aufbrechen wollten, hat man uns noch einige Kleidungsstücke geschenkt. Wir wussten nicht, wie wir uns dafür bedanken sollten. Sie baten uns nur, ein Gebet für ihren Sohn zu sprechen, der in Russland vermisst sei und auf den sie schon seit Kriegsende warteten. Das haben wir versprochen und sind anschließend mit dem Mann zusammen wieder zum Bahnhof gefahren. Wir haben lange an diese uneigennützigen und lieben Menschen denken müssen und haben es ihnen so sehr gewünscht, dass ihr Sohn heimkehren möge. Am nächsten Tag mussten wir noch einige Male umsteigen, bis wir auf einer Nebenstrecke Mettingen erreicht hatten und uns mit dem wenigen Gepäck, das unsere ganze Habe darstellte, auf den Weg nach Klein-Sorheim machen konnten. Bei Tante Erna angekommen, glaubten wir uns in dem kleinen Häuschen ins Paradies versetzt zu fühlen. Es war eine richtige kleine Wohnung mit Bett und Kinderbett für Klein Irmhild, Tisch, Stühlen und Schrank, einem Herd und allem, was dazu gehört. Draußen vor dem Haus war eine große Wiese, auf der Äpfel-, Birnen-und Pflaumenbäume standen, deren Früchte gerade reif wurden und die einen Geschmack hatten, wie ich ihn noch nie genossen zu haben glaubte. Da hätten wir bleiben mögen. Vom Platz her wäre das auch gegangen. Aber die Schwierigkeiten, die es unmöglich machten, kamen von anderer Seite. Wir hätten keine Zuzugsgenehmigung erhalten. Wir haben es erst bei der Gemeindeverwaltung Klein-Sorheim und dann auch bei der Stadtverwaltung in Nördlingen versucht, aber ohne Erfolg. Das hätte uns noch nicht weiter gestört. Ob mit oder ohne Genehmigung hätten wir uns in dem Nest bei Tante Erna eingenistet. Aber ohne Zuzugsgenehmigung konnte man sich bei der Gemeinde nicht anmelden und erhielt somit auch keine Lebensmittelkarten. Die waren aber zum Überleben notwendig. So haben wir uns nach acht oder 14 Tagen schweren Herzens wieder verabschiedet und sind auf die Heimreise nach Vechtel gegangen. Als es Herbst, die Abende länger und kälter wurden, bekamen wir in unser Zimmer einen kleinen viereckigen Blechherd zum Kochen und Heizen. Ich weiß nicht mehr, ob der auch vom Flugplatz „besorgt“ worden war oder wer ihn „organisiert“ hatte. Dafür mussten wir in den umliegenden Wäldern Holz sammeln und haben auch wohl einige Stücke Torf von Hölschers bekommen. Kohlen gab es nicht. Für die Abende hatten wir uns ein paar Kerzen besorgt, sonst hätten wir um sieben ins Bett gehen müssen oder in die Küche zu Hölschers. An besondere Ereignisse während des folgenden Winters erinnere ich mich nicht. Höchstens, dass ich einmal der Frau Hölscher dabei zugesehen habe, wie sie mit einem Dreschflegel Korn ausgedroschen hat. Ihr geerntetes Korn haben sie zwar nicht mehr mit einem Flegel, sondern zusammen mit dem des Bauern Voss auf seinem Hof mit der Dreschmaschine gedroschen. Damals gab es noch keinen Mähdrescher, der das Korn gleich auf dem Felde ausdreschen konnte und es war üblich, das Korn entweder mit einem durch den Göpel angetriebenen Dreschkasten in der eigenen Scheune zu dreschen oder durch die im Lohn arbeitenden und durch Bulldoggs angetriebenen Dreschmaschinen auszudreschen. Diese, für mich sehr interessante Art mittels des Dreschflegels zu dem Korn zu gelangen, die ich noch nie gesehen hatte, faszinierte mich derart, dass ich das auch gleich versuchen musste. Aber so leicht, wie es aussah, war es nicht. Meistens traf das Schlagholz, nicht, wie es sollte mit der ganzen Breitseite auf die Ähren, sondern nur mit der vorderen oder hinteren Spitze oder der Kante und zeigte dann keinen Erfolg. Man musste ihm schon beim Hochheben, exakt so viel Drehung geben, dass er beim Niederschlagen waagerecht aufschlug und dabei die Ähren zum Aufplatzen brachte, sodass die Körner, zusammen mit der Spreu in die Gegend flogen. Zu beachten war auch, den richtigen Takt einzuhalten, sonst schlug man sich, wenn man mit mehreren Leuten gemeinsam drosch, gegenseitig auf den Schlegel oder die Stangen. Was auch nicht gerade zur Förderung des Arbeitsprozesses beitrug. Dieses mit dem Dreschflegel gedroschene Korn war als Hühnerfutter gedacht und brauchte im Gegensatz zu dem Korn, das zum Ausmahlen für Mehl bestimmt war, nicht unbedingt ganz sauber von der Spreu getrennt zu werden. Es genügte durchaus, wenn man es vor der Dielentür einige male in dem flachen Korb, in den es nach dem Dreschen geschüttet worden war, in die Luft schleuderte, damit der Wind dabei „die Spreu vom Weizen trennen konnte“.


Da die Kühe während des ganzen Winters im Stall standen, habe ich bei der Gelegenheit das Melken gelernt, zwar nicht so gut, dass ich hätte als vollwertige Kraft gelten können, aber doch so weit, dass ich mit einiger Mühe eine Kuh fast ausmelken konnte. Mir fehlte dazu einfach die Kraft und die Ausdauer. Aber vielleicht war das auch ganz gut so. denn ich denke, dass man mich andernfalls noch als „Melkerin“ hätte brauchen können. Die Milch wurde danach durch ein Seihtuch in die Milchkannen gegossen, die an die Straße gestellt und im Laufe des Vormittags vom Milchwagen abgeholt wurden. Natürlich sollte das Seihtuch immer sehr sauber gehalten und nach jedem Melken ausgewaschen werden. Ob das bei Hölschers immer ausreichend geschehen ist, bezweifele ich heute noch, denn es sah immer sehr grau und unansehnlich aus und wurde nach dem Auswaschen auf dem Draht hinter dem Schweinestall zum Trocknen aufgehängt. Auch bei den Kannen hatten sie es nicht so arg genau mit der Sauberkeit. Einmal hatten sie eine Kanne, in der vielleicht noch eine Handbreit Milch über dem Boden vorhanden war, ohne Deckel vor der Tür stehen gelassen. Als ich vorbei kam, sah ich über dem Rand der Milchkanne den rotbraunen Schwanz des dreibeinigen Katers der Hölschers gekrümmt herausragen. Als ich näher kam, um zu sehen, was da los war, stellte ich fest, dass der Kater sich mit dem Schwanz am Rand festhaltend in der Kanne herunter gelassen hatte und genüsslich die Milch aufschlabberte. Trotz all dieser manchmal auch erheiternden Gegebenheiten fehlte mir Vieles, um nicht zu sagen, das Meiste. Ich hätte Bücher gebraucht, um meinen Horizont zu erweitern und wie gerne wäre ich wieder zur Schule gegangen. Aber es gab hierzu keine Möglichkeit. Ich war im August 1946 15 Jahre alt geworden und im Winter 1946/47 hätte ich nur mit dem Fahrrad zur Mittelschule in Füstenau oder mit der Kleinbahn nach Quakenbrück fahren können. Ersteres ging nicht, weil ich kein Fahrrad hatte und auch keines bekommen konnte und die Kleinbahn hielt zwar in der Nähe von Knolle Brands, unserem Anfangsquartier in Vechtel, aber sie fuhr bis Quakenbrück 3 Stunden und Nachmittags noch einmal drei Stunden zurück. Dann wäre ich von morgens 4 Uhr dreißig bis nachmittags 5 Uhr unterwegs gewesen. Auch das war bei meinem Ernährungszustand nicht möglich. Also blieb alles beim Alten und wir mussten uns etwas anderes für mich überlegen. Und so kam es dazu, dass ich eine Stelle als Hilfskraft im Krankenhaus Bethanien in Quakenbrück bekam. Hier wurde ich mit verpflegt und konnte auch über Nacht bleiben. Die Arbeit war nicht besonders schwer und erschöpfte sich darin, dass ich am Anfang Mullbinden nach dem Waschen aufwickeln musste, beim Essen austragen mithelfen konnte und die Kranken in ihren Zimmern mit Büchern versorgen durfte. Das ging so lange gut, bis im Krankenhaus ein Fall von offener TBC aufgetreten und eine zeitlang übersehen worden war. Alle Schwestern und Personen, die mit der Kranken in Verbindung gekommen waren, mussten sich im Gesundheitsamt Bersenbrück einer Röntgenuntersuchung stellen. Nur ich, da ich in keinem festen Angestelltenverhältnis stand und als Hilfskraft geführt war, wurde nicht mit nach Bersenbrück zum Röntgen genommen. Das hat die Muttel seinerzeit so verärgert, dass sie sofort nach Quakenbrück gefahren ist, mein Arbeitsverhältnis, wie auch immer es geartet war gelöst hat und darauf bestanden hat, weil ich häufig mit der Kranken in Verbindung gekommen war, eingehend untersucht und geröntgt zu werden. Das geschah auch und es wurde keine Infektion festgestellt. Aber die Muttel hielt es doch für besser, mich von dort wieder weg zu nehmen, um keiner weiteren Ansteckungsgefahr ausgesetzt zu sein, obwohl man ihre angeboten hatte, mich in ein Schwesternlehrverhältnis zu übernehmen. Ich erinnere mich noch an eine Begebenheit. Da ich während der Woche nicht nach Hause kam, hatte ich keine Möglichkeit, meinen defekten Schuh, von dem sich die Sohle gelöst hatte, reparieren zu lassen. So schlappte die Sohle immer beim Gehen und man konnte mich schon von Weitem kommen hören. Bis die Geschichte dem Oberarzt auffiel und er mich fragte, ob ich keine anderen Schuhe besäße, damit ich diese zur Reparatur geben könne. Das musste ich verneinen, daraufhin nahm er den kaputten Schuh. umwickelte ihn mit Leukoplast und hatte das Schlappen damit behoben. Die Oberschwester erhielt aber von ihm den Auftrag, mit mir zur Stadtverwaltung zu gehen und einen Bezugschein für ein neues Paar Schuhe dort loszueisen, leider ohne Erfolg und so habe ich die „gepflasterten“ Schuhe noch eine ganze Weile getragen. So war ich also wieder zu Hause, in meinem „geliebten“ Vechtel. Es wurde wieder einmal Frühling nach dem langen Winter 1946/1947 und die Muttel kam eines Tages von Fürstenau mit der Nachricht nach Hause, dass sie vielleicht eine Stelle für mich in einem Haushalt hätte, wo ich nicht viel zu arbeiten, dafür aber ausreichend zu Essen bekäme. Ich muss schon sagen, dass ich nicht sehr begeistert


von der Aussicht war, als „Haushaltshilfe“ zu arbeiten. Da wäre ich doch schon lieber im Krankenhaus in Quakenbrück geblieben oder noch lieber hätte ich einen Beruf gelernt. Aber da ich so unterernährt war, blieb die Muttel dabei, dass ich für den Weg nach Fürstenau oder Bippen, wo ich eine Lehre hätte beginnen können zu schwach sei und der von ihr vorgeschlagene Weg der bessere sei. „Wieder aufhören“ könne ich ja immer noch, wenn es mir gar nicht gefallen würde. Das Wichtigste für mich wäre erst einmal ordentlich zu essen und einige Pfunde zuzulegen. So bin ich im Haushalt der Familie Höpker gelandet. Die Arbeit und auch der Aufenthalt dort war am Anfang sehr „gewöhnungsbedürftig“, aber die warmherzige Aufnahme in der Familie, wie auch das wirklich gute Essen und vor allen Dingen mein eigenes kleines Zimmer, in dem ich den enormen Bücherbestand der Familie nach und nach verkonsumieren konnte, hat mich veranlasst, immer wieder ein Viertel oder Halbes Jahr zuzugeben, bis es dann zu spät war, vier Jahre vergangen waren, ich geheiratet wurde und einen eigenen Hausstand gründen konnte. Diesen Text haben Charlotte Höpker und Julia Honerkamp ermittelt und bearbeitet.


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.