Viele Einheimische waren abweisend Erinnerungen eines Ostpreußen an seine Ankunft in Kalkriese. "Ich bin 1943 als Zweitjüngste unserer Familie geboren. Zum Zeitpunkt meiner Geburt waren mein Vater und einer meiner Brüder schon im Krieg. Ich habe nicht mehr viele Erinnerungen an unsere Flucht, da ich zu diesem Zeitpunkt gerade drei Jahre alt war. Doch aus Erzählungen von meiner Familie weiß ich in etwa, wie unsere Flucht und die Zeit danach verlaufen sind. Vor der Flucht lebte ich mit meiner Mutter und meinen vier Geschwistern, also mit meinen zwei Brüdern und zwei Schwestern in Ostpreußen auf einem kleinen Bauernhof. Wir waren bei einem großen Gutsbesitzer verschuldet und meine Mutter arbeitete für ihn, ebenso wie mein Vater, bevor er eingezogen wurde. Sie sagte, sie sei froh darüber, dass Krieg sei. Denn weil wir flüchteten, mussten wir Kinder später nicht für ihn arbeiten, um die weiteren Schulden abzuarbeiten. Mein Vater und zwei meiner Brüder waren an der Front oder in Kriegsgefangenschaft, wir wussten es nicht. Der Bürgermeister von unserem kleinen Dorf veranlasste dann 1946 die Flucht aller Frauen und Kinder. Die Männer waren eh alle an der Front, sodass sie gar nicht flüchten mussten. Wir durften und konnten nur so viel Gepäck mitnehmen, wie wir tragen konnten. Mit dementsprechend kleinen Taschen und Rucksäcken wurde ich mit meiner Familie und weiteren Flüchtlingen in einem alten und dreckigen Ochsenkarren zu einem kleinen Flughafen in der Nähe von Gerdauen gefahren. Ein kleines, altes, dreckiges und sehr enges Flugzeug brachte uns mit einigen anderen Flüchtlingen von Ostpreußen aus nach Achmer. In Achmer wurden wir in einer Flugzeughalle registriert. Doch bis wir einer neuen Bleibe zugewiesen werden konnten, mussten wir erst einige Tage auf dem Flugplatz verharren. Etwas Essen bekamen wir, aber lange nicht genug für so viele Wartende (außer uns waren noch etliche andere Flüchtlinge aus anderen gefährdeten Gebieten auf dem Flugplatz, die auch auf ein neue Bleibe warteten). Außerdem hatten wir keine Möglichkeit, uns richtig zu waschen, da es lediglich etwas kaltes Wasser gab, welches wir zum Trinken benötigten. Wir Kinder waren sehr aufgeregt, da wir bald ein neues zu Hause haben sollten. Wir realisierten und verstanden die Angst der Erwachsenen nicht, denen eher mulmig zumute war, da sie nicht wussten, was sie erwartete, und ihnen die Ablehnung der Einheimischen zu schaffen machte. In der Zeit, in der wir auf dem Flugplatz „lebten“, bekamen wir wenige Einheimische zu Gesicht. Doch die, die wir trafen, waren uns nicht gerade freundlich gesinnt. Sie akzeptierten uns nicht als welche von ihnen und waren (verständlicherweise) angeekelt von uns, da wir uns seit der Abfahrt in Ostpreußen nicht mehr richtig gewaschen hatten. Diese Ablehnung dämpfte die Aufregung der Kinder, obwohl wir es nicht richtig verstanden. Dann, nach langem Warten, wurden wir endlich einem Bauernhof zugewiesen. Mit einer anderen Flüchtlingsfamilie aus Preußen wurden wir zu dem Hof, der in Kalkriese lag, gebracht. Der Bauer, der etwa 55 Jahre alt war, war genau wie beinahe alle Einheimischen abweisend den Flüchtlingen gegenüber. Auch dass er uns eine Scheune, auch wenn sie sehr klein war, überlassen musste, besserte unser Verhältnis nicht. Als meine Mutter ihn um etwas Milch für meine kleine Schwester bat, lehnte er ab, obwohl er selbst genug hatte. Dabei war es schwer genug gewesen, den Stolz zu überwinden und andere um Hilfe zu bitten. Später, als der Krieg verloren war und die Russen kamen, wurde der Bauer von ihnen verprügelt, was ich sehr gerecht fand. Nach einer Weile auf diesem Hof wurden wir einem anderen Bauernhof, der auch in Kalkriese lag, untergebracht. Die Bäuerin dort war sehr freundlich und großzügig – ganz anders als die meisten Einheimischen und auch die Bauern vom ersten Hof. Sie gab uns immer genug zu essen und wir schliefen in einer großen Scheune mit ein paar anderen Flüchtlingen aus Preußen. Doch die Bäuerin verstarb mit 42 Jahren. Ist das nicht gemein, dass so herzensgute Menschen so früh sterben? Alle Flüchtlinge, die auch auf dem Hof gelebt hatten, waren bei der Beerdigung der Bäuerin dabei.
Ich durfte sogar Blumen auf das Ende des Sarges legen. Nach dem Tod der Bäuerin, über den alle sehr traurig waren, blieben wir noch auf diesem Bauernhof. Auch der Mann der Bäuerin war sehr freundlich zu uns, ganz anders als der Bauer auf dem ersten Hof. Nach einiger Zeit konnten wir uns eine eigene Wohnung suchen. Auch wenn sie sehr klein war, waren wir alle überglücklich, endlich wieder ein eigenes zu Hause zu haben, wo wir nicht abhängig von anderen Leuten waren. Alles in allem wurde unsere Flucht in den Westen nur von wenigen negativen Erlebnissen überschattet, wie die Ablehnung von vielen Einheimischen und dem geizigen Bauern des ersten Hofes. Doch insgesamt haben wir die Flucht sehr gut überstanden und haben eine neue Heimat gefunden – vor allem mithilfe der Bäuerin, die uns immer geholfen hat. Das Interview, auf dem dieser Zeitzeugenbericht beruht, führten und bearbeiteten Lena Josephowitz und Carolin Schneider.