„Wir haben jeden Tag darum gekämpft, dass wir etwas zu essen hatten.“ – der Ostpreuße Horst Stannehl erinnert sich an das Kriegsende in Ostpreußen Ein Interview von Laura Kaminski mit ihrem Opa Horst Stannehl I.: Wo bist du geboren? H.: In Goldberg. Das ist ein kleines Dorf in der Nähe von Königsberg. In dem Dorf standen nur vier oder fünf Häuser, aber überall verstreut. Goldberg lag in Ostpreußen. Neben unserem Haus war ein Wald und ein deutscher Flughafen. Als die Deutschen keinen Sprit mehr hatten, sprengten sie den Flugplatz. Unter den dicken Eichen hatten sie Jagdflugzeuge untergebracht. Ich kann mich noch daran erinnern, dass nach der Sprengung des Flugplatzes ein Flugzeug von den Amerikanern eine Bruchlandung machte. Sie hatten Fliegerschokolade und eine Verpflegungskiste an Board. Sie machten uns ein Angebot: Wir sollten ihnen Eier bringen und dafür durften wir uns die Verpflegungskiste aus dem Flugzeug holen. Es war überhaupt kein Problem, dass wir ihnen ein paar Eier geben. I.:Und warum wollten sie Eier haben? Sie hätten doch auch die Verpflegungskiste nehmen können! H: Es war den Soldaten verboten, davon etwas zu essen. Da sie auch nichts zu essen hatten, war das ein guter Tausch! I.: Wie bist du aus deiner Heimat geflohen und was habt ihr alles mitgenommen? H: Es waren minus 25 Grad, als wir losgingen. Die russischen Soldaten waren schon in Goldberg und wir, also meine Mutter, mein Bruder und ich, machten uns auf den Weg mit den Sachen, die wir auf unseren vierspännigen Wagen mitnehmen konnten. Wir nahmen viel Schweinefleisch mit. Wir hatten auch unseren Schlitten mitgenommen, damit mein Bruder und ich uns darauf etwas ausruhen konnten. Aber es war viel zu kalt um für eine längere Zeit auf dem Schlitten zu sitzen. Wir kamen bis 20 Kilometer vor Pillau. Meine Mutter, mein Bruder und ich wollten auf die Gustloff und damit in den Westen. Doch es war der Befehl gegeben worden, dass keiner mehr in die Stadt darf. Alle wollten auf das Schiff. I.: Das muss dort sehr chaotisch gewesen sein! H.: Klar war es chaotisch, aber nicht so, wie man es sich vorstellen kann. Besser gesagt, es herrschte dort ein geregeltes Chaos. Was mir noch dazu einfällt: Ich habe dort vor Pillau einen russischen Reiter gesehen, der mit vollem Galopp auf einen alten Mann mit einer Uhrkette zuritt und diese Uhrkette verlangte. Er bekam sie auch sofort von dem alten Mann. Dahinter sah ich schon Autos mit Soldaten und Offizieren. Der Reiter aber hat dem alten Mann sonst nichts getan. I.: Haben die russischen Soldaten sonst etwas Schlimmes mit euch gemacht? H.: Nie! Viele sagen, dass die Russen Frauen vergewaltigt haben oder andere Sachen. Wir sind immer mit ihnen gut ausgekommen. I: Und was habt ihr dann gemacht, als ihr vor Pillau ward?
H.: Da Ostpreußen am 16.April kapitulierte und wir unter dem Russen standen, wurde uns befohlen, dass wir wieder in unsere Heimat zurückkehren sollen. Auf dem Weg dorthin explodierte eine Granate, doch uns passierte zum Glück nichts. Außerdem waren unsere Pferde so gut genährt, dass ein paar russische Soldaten mit uns die Pferde tauschten. Wir hatten keine andere Wahl, als ihnen die Pferde zu überlassen. Der polnische Kutscher auf dem Wagen war ein Zwangsarbeiter und hat unsere Sachen ausgeräumt und das mitgenommen, was er brauchte. Er meinte zu uns, dass es besser ist, wenn er es macht, weil ein anderer es schlimmer machen würde. Also haben wir unsere Sachen genommen, die noch übrig waren, und sie in eine Karre gepackt. Wir sind dann bis zur Stadt Labiau gekommen, wo wir in der Waschküche eines Hotels arbeiten mussten. Später arbeiteten meine Mutter und ich in der Kolchose mit anderen Arbeitern, die aus Kasachstan kamen. Mit einem vierspännigen Erntewagen haben wir die Felder gepflügt. Da die russischen Arbeiter auch nichts zu essen hatten, haben wir uns mit ihnen zusammengetan. Einer hat immer die Posten abgelenkt und die anderen haben das Essen geholt. Wir arbeiteten nach dem Motto von Stalin: keine Arbeit - kein Essen. I.: Wie war das mit der Sprache? H.: Wir mussten uns dem Russen anpassen. Dadurch lernte ich auch schnell etwas russisch zu sprechen. I.: Und wie war es mit dem Essen? Ihr konntet ja nicht immer klauen! H.: Den russischen Soldaten war es verboten, Pferde zu schlachten. Doch den Arbeitern nicht. Sie sagten uns immer Bescheid, wenn ein Pferd verwundet war und sie es erschießen wollten. Bevor sie es vergraben haben, konnten wir uns noch daran satt essen. Die Reste, wie die Gedärme und Knochen vergruben sie dann später. Freitags gab es immer Geld. Davon wurde immer sofort Brot und Speck gekauft. Doch es reichte nie. Außerdem war uns Arbeitern verboten, Fische zu fangen und Wild zu schießen. Doch wir Kinder waren schlau. Bei den Fischen nahmen wir eine Flasche und taten dort etwas Karbid hinein. Diese schmissen wir dann ins Wasser. Es knallte gewaltig. Die Soldaten kamen auch sofort und schauten nach, was passiert war. Wir versteckten uns schnell und nach einiger Zeit kamen die toten Fische an die Oberfläche und wir konnten sie einsammeln, ohne dass jemand etwas bemerkt hatte. Beim Wild nahmen wir einfach ein Gewehr und Munition und schossen auf das Wild. Gewehre und Munition lagen damals überall im Wald herum. Wenn wir ein Reh getroffen hatten, mussten wir es schnell unter Sträuchern verstecken, denn die Soldaten kamen immer sofort, wenn irgendetwas nicht stimmte. So haben wir uns immer unser Essen beschafft. Jeden Tag hatten wir immer nur den einen Gedanken: Essen. Uns war alles andere egal, Hauptsache wir hatten etwas zu essen. I.: Man liest in den Büchern, dass die russischen Soldaten mit den Arbeitern nicht so gut umgegangen sind. H.: Ein russischer Soldat hat mir erzählt, dass sie drei Tage hatten, an denen sie mit uns alles hätten machen können. Doch sie haben nichts gemacht. Ich habe nie gesehen, dass eine Frau vergewaltigt wurde. Die Russen haben sich nicht mit den Polen verbrüdert, sondern mit uns. Du musstest dich an die Gesetze halten oder dich nicht erwischen lassen. Ich habe gesehen, wie ein Bäcker zwei Plünderer
erschossen hat, die seine Bäckerei plündern wollten. Er durfte sie erschießen, weil es verboten war zu plündern. I.: Wo bist du dann hingekommen? H.: Im November 1948 mussten wir mit einer Kutsche nach Königsberg. Dort wurden wir in Viehwagons gepackt und fuhren dann 14 Tage lang nach Frankfurt an die Oder. Als wir dort ankamen, stand ein Zug neben uns, der voll mit Gemüse und Obst war. Ich und ein paar andere Kinder sind hinübergeklettert und haben uns so viel genommen, wie wir konnten. Als wir wieder im Zug waren, wurden wir in der sächsischen Schweiz aufgeteilt. Ich blieb zum Glück mit meiner Mutter zusammen. Danach fuhren wir nach Halle an der Saale und von dort aus nach Leipzig. Dort bekamen wir ein Zimmer, das wir uns mit einer anderen Person teilen mussten. Meine Mutter arbeitete und ich ging zur Schule. Viele Kinder wurden einfach in eine Klasse zusammengewürfelt. Die jüngsten waren 14 und die ältesten 16 Jahre alt. I.: Was hast du nach der Schule gemacht? H.: Nach der Schule musste ich in die Polizeieinheit Deutsche Grenzpolizei. Ich hatte die Erlaubnis, mit einem Schuss diejenigen zu stoppen, die die Grenze überschreiten wollten, egal wie. I.: Wurde während deiner Schicht jemand getötet? H.: Nein, aber in meinem Bereich in einer anderen Schicht ist jemand ums Leben gekommen. Danach begann ich meine Lehre. Ich ging zur Gesellschaft, um dort meinen Lehrvertrag zu unterschreiben. Doch ich musste, bevor ich meinen Lehrvertrag bekam, einen anderen Vertrag unterzeichnen, der besagt, dass ich, wenn nötig, freiwillig in die Armee gehe. Alle waren immer unter Beobachtung. Ich war mit meinen Freunden in Leipzig in der Stadt und dort sahen wir, wie ein Kiosk ausgeplündert wurde. Ich sagte zu ihnen: „Lasst uns schnell verschwinden“, was auch richtig war. Ein paar Tage später wurde ich in die Personalabteilung gerufen und über den Vorfall befragt. Ich erzählte ihnen natürlich alles und konnte danach sofort wieder nach Hause gehen. Von den 120 Lehrlingen haben nur 75-85 Lehrlinge ihre Lehre abgeschlossen. Diejenigen, die ihre Lehre nicht beendet haben, sind entweder in den Westen gegangen oder wegen einer Straftat verhaftet worden. Aber genau wusste das keiner. I.: Also wenn ihr länger bei der Plünderung zugeschaut hättet, dann wärt ihr vielleicht auch verhaftet worden? H.: Ja! Danach bin ich mit meiner Mutter ins Bundesgebiet nach Marienfelde geschickt worden. Von dort aus flogen wir wieder nach Frankfurt. Unsere Sachen mussten wir dort stehenlassen. Die Papiere hatten wir ganz dicht an unseren Körper versteckt. In Frankfurt mussten wir mit einem Bus nach Gießen in ein Auffanglager fahren. Meine Mutter arbeitete dort. Etwas später wollten meine Mutter und ich nach Reutlingen zu meinem Bruder fahren. Die Lagerleitung war sehr unfreundlich, doch wir bekamen unsere Tickets nach Reutlingen. Dort fragte ich einen Taxifahrer, ob er mir den Weg zu der Adresse meines Bruders beschreiben kann. Der Taxifahrer wollte mich dort hinfahren, doch ich hatte kein Geld. Er sagte, dass er mich auch wohl umsonst dort hinfahren würde. I.: Da hast du ja richtig Glück gehabt mit dem Taxifahrer. Das hätte bestimmt nicht jeder gemacht.
H.: Ich bin ihm bis heute dankbar dafür. In der Stadt arbeitete ich als Maschinenschlosser. I.: Was war mit deinem Vater? H.: Meine Mutter erfuhr in einem Brief von einem Pastor, dass mein Vater im Krieg gefallen war. Durch das Rote Kreuz erfuhren wir, was mit unseren Nachbarn und Freunden Passiert war. Sie waren fast alle heile im Westen angekommen. Später kam ich nach Bramsche, weil meine Schwester dort bei einem Pastor arbeitete und meine Mutter unbedingt zu ihr wollte. I.: Wie hast du dich die ganze Zeit gefühlt? H.: Es ist unbeschreiblich wie man sich gefüllt hat. Wir haben jeden Tag darum gekämpft, dass wir etwas zu essen hatten. Du weißt jetzt zwar, was alles passiert ist, doch du kannst nie verstehen, wie wir uns damals gefühlt haben, das kann keiner. I.: Vermisst du deine Heimat Goldberg? H.: Ja! Es war dort sehr schön! Unser Haus, in dem wir gewohnt haben, steht bis heute noch dort. I.: Warst du da und hast es dir angesehen? H.: Nein! Mein Bruder war dort und hat es gesehen und der meinte, es würde noch genauso aussehen. I.: Vielen Dank, dass du mit mir dieses Interview geführt hast. Es war bestimmt nicht einfach über alles zu reden.