http://www.projekt-bramsche.de/stories/docs/zz/MuellerKramer

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Untergekommen bei Verwandten in Recklinghausen – ein Flüchtling aus Ostpreußen berichtet Befragt wurde eine heutige Bramscherin (geboren am 05 Juli 1928). Sie war bei Beginn der Flucht aus dem Kreis Allenstein in Ostpreußen 18 Jahre alt. Heute wohnt sie auf dem Bramscher Berg. Als die Rote Armee näherrückte, floh sie aus Stabigotten über das “Haff” und kam schließlich nach Schleswig. Daraufhin kam sie nach Nahenburg an der Saale (in der Nähe von Halle). Dort schrieb sie einen Brief an ihren im Ruhrgebiet lebenden Onkel, woraufhin sie durch seine Antwort erfuhr, dass ihr Vater noch am Leben sei. Beide gingen zu ihrem Onkel und zu der Tante nach Recklinghausen, wo auch schon ihr Cousin untergebracht war. Nach einiger Zeit fand ihr Vater auf einem Bauernhof in Glücksstadt Arbeit. Sie jedoch blieb bei ihrer Tante und ihrem Onkel. Ihre Tante ging von Bauernhof zu Bauernhof, um bei den Bauern um etwas zu Essen zu betteln, meist erhielt sie Kartoffeln, Roggen und Brot. Die Zeit für die Familie war sehr hart. Oft gab es für sie nur eine Mahlzeit pro Tag, sodass sie den restlichen Tag und die Nacht durchhungern mussten. Um etwas zu Essen zu bekommen, standen sie teilweise schon um vier Uhr morgens vor den Läden an. Dafür mussten sie sich während der Sperrstunden von Haus zu Haus schleichen, da sie nicht von den Besatzern erwischt werden durften. Die damals 18­jährige erhielt vom Arbeitsamt eine Stelle als Eisverkäuferin. Nach dem sie ein Jahr lang Briefe an das Rote Kreuz geschrieben hatte, erfuhr sie, dass auch ihre Mutter und ihre Schwester am Leben seien und in Stabigotten wohnen. Sie wollte die ganze Zeit zurück in ihre Heimat, konnte jedoch nicht, da ihr Vater dies nicht wollte. Flüchtlinge, die nicht bei Bekannten oder Verwandten unterkamen, wurden einfach auf die Häuser der Einheimischen, die darüber oft sehr verärgert waren, aufgeteilt. Doch in ihrem Fall nahmen der Onkel und die Tante ihre Verwandten bereitwillig auf und nach einiger Zeit fühlte die 18­jährige sich völlig in die Gemeinschaft aufgenommen, fand neue Freunde und betrachtete später Recklinghausen als ihre neue Heimat. Es gab unter den Bewohnern in Recklinghausen damals keinen Neid, da jeder damit beschäftigt war, seine tägliche Versorgung zu sichern. Es gab damals noch keine funktionierenden Gesetze. So versuchte sie zum Beispiel von der Armee, die genug zu essen hatte, Essen zu klauen, doch als die Soldaten dies bemerkten wurde nur zum Spaß geschossen und sie lief erschreckt weg. Durch die große Not und aus Dankbarkeit für das Überleben der Flucht wurde ihr Glaube gestärkt. Die Religion war sehr wichtig für sie. Nach ungefähr zwei Jahren gingen sie und ihr Vater zurück nach Stabigotten. 1995 ist sie nach Bramsche gezogen, bis heute hat sie allerdings nicht das Gefühl wirklich heimisch zu sein, da sie hier nicht so viele Bekannte hat. Auch hat sie immer noch Kontakt zu Bekannten in ihrer alten Heimat. Das Interview, auf dem dieser Bericht beruht, führten Michelle Müller und Lisa Kramer.


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