ZEIT für Unternehmer Ausgabe 2/2022

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Nummer 02

juni 2022

FÜR

UNTERNEHMER UNSERE GROSSE STUDIE An welchen Werten sich Mittelständler in Krisenzeiten orientieren

Wie finden Sie jetzt noch Leute? Ingrid Hofmann und Sonja Heinrich führen eine der größten Zeitarbeitsfirmen im Land. Der Fachkräftemangel zwingt sie dazu, neue Wege zu gehen, um die Wirtschaft mit Personal zu versorgen. Hier verraten die Vermittlerinnen ihre Tricks


VERDIENSTWAGEN. Der vollelektrische EQS für Geschäftskunden: Mit bis zu 782 km1 Reichweite (nach (nach WLTP) und null lokalen Emissionen macht die vollelektrische Luxuslimousine jeden CEO zum ECO. Erfahren Sie mehr über die zahlreichen Vorteile des Geschäftskundenprogramms auf mercedes-benz.de/geschaeftskunden

EQS 450+, WLTP: Stromverbrauch kombiniert: 19,8–15,7 kWh/100 km; CO₂-Emissionen kombiniert: 0 g/km*; elektrische Reichweite: 782 km (WLTP) *Der Stromverbrauch wurde auf der Grundlage der VO 692/2008/EG ermittelt. Der Stromverbrauch ist abhängig von der Fahrzeugkonfiguration. 1Die Reichweite wurde auf der Grundlage der VO 2017/1151/EU ermittelt. Die Reichweite ist abhängig von der Fahrzeugkonfiguration.


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EDITORIAL

Über dieses Heft Wie findet man noch Fachkräfte auf einem fast leeren Arbeitsmarkt? Wie investieren Profis in grüne Start-ups und treiben auf diese Weise den Klimaschutz voran? Und wie bestimmen Unternehmerinnen und Unternehmer in der gegenwärtigen Krisenlage ihre Strategien und Werte neu? Das sind drei zentrale Fragen, die wir in einem Interview, einem Report und als Teil unserer großen Mittelstandsumfrage beantworten. Viel Vergnügen und viel Nutzen wünscht Ihr »ZEIT für Unternehmer«-Team An dieser Ausgabe haben unter anderem mitgearbeitet:

Tom Schmidtgen war im Frühjahr der erste Hospitant in unserer Redaktion. Wer sich auch bewerben möchte: short.sg/j/15311168

Michael Ott (l.) und Mathias Schmitt haben Fotos für den NachhaltigkeitsSchwerpunkt gemacht – mithilfe von ganz viel Sonnenlicht

Neustadt am Berlin Rübenberge Barsinghausen Marienfeld Harsewinkel Allendorf (Eder) Hilden Waltershausen Frankfurt am Main St. Wendel

Nürnberg Neumarkt in der Oberpfalz

Zwischen Neustadt und Neumarkt Wo die Firmen ihren Sitz haben, die in dieser Ausgabe vorkommen Titelfoto: Sebastian Lock für ZEIT für Unternehmer; kl. Fotos: privat (3); ZEIT-Grafik

Carolyn Braun stellt in jeder Ausgabe einen Menschen und seine Erfindung vor. Für dieses Heft traf sie gleich mehrere innovative Gründer


INHALTSVERZEICHNIS

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Was Sie erwartet TITELTHEMA ARBEITSMARKT

Ingrid Hofmann führt eine der größten Zeitarbeitsfirmen im Land und war der Umsatzmilliarde ganz nah. Im Interview erklären sie und ihre Tochter Sonja Heinrich, woran der Plan scheiterte – und wo sie noch Fachkräfte finden 6–11 Was Unternehmer beachten müssen, wenn sie Geflüchtete einstellen 12–15 FOTOSTORY

Die Mähdrescher von Claas sind gefragt. Ein Besuch in der Produktion 18–21

So sieht das Innenleben eines Mähdreschers aus. Wenn nicht gerade diverse Teile fehlen Seite 18

Sicher.

Wie Claas-Chef Thomas Böck den Teilemangel managt 22 DIE MITTELSTANDSSTUDIE

In Krisenzeiten müssen viele Unternehmer Wirtschaftlichkeit und Werte neu abwägen 24–27 SCHWERPUNKT NACHHALTIGKEIT

Pilz bietet alles, wa as Sie für die Automation Ihrer

Lammsbräu profitiert in Zeiten hoher Preise von langfristigen Verträgen. Davon können andere lernen 28–33

Komponenten und d Systeme, bei denen Sicher--

Wie Investoren den Trend zu grünen Geschäftsideen verstärken 34–39 Dieter Ortmann verdient mit der Energiewende gutes Geld 40–43

Maschinen und An nlagen brauchen: innovative e heit und Automatio on in Hardware und Software e verschmelzen.

Einer Brauerei ist das deutsche Reinheitsgebot zu wenig Seite 28

Automatisierungsllösungen für die Sich herh heiit von Mensch, Masc chine und Umwelt.

Jetzt mehr erfahrren:

Förderprogramme für Firmen, die ihre Emissionen senken möchten 44–45 EIN TAG MIT ...

... Kerstin Hochmüller, die den Mittelstand innovativer machen will 46–49 DIE ERFINDUNG MEINES LEBENS

Metin Colpan von Qiagen verdankt seine Idee der Angst vor der Langeweile 50 IMPRESSUM 22

Dieser Solar-Unternehmer muss viele Kunden vertrösten Seite 40

Fotos (v. o.): Jakob Schnetz; Schmott für ZEIT für Unternehmer; Guido Werner

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TITELTHEMA ARBEITSMARKT

»Wir müssen sehr Mutter Courage, die Furchtlose, das Arbeitstier: So wird Ingrid Hofmann oft charakterisiert. Aber besucht man die Gründerin und Chefin der Personalvermittlung I. K. Hofmann am Firmensitz in Nürnberg, begegnet man einer entspannten 68-Jährigen, die sogar dann noch lächelt, als sie davon erzählt, wie sich der Umsatz ihres Unternehmens um mehrere Hundert Millionen Euro fast halbierte und es Verluste gab. Mit am Tisch sitzt ihre Tochter Sonja Heinrich, die das Amerikageschäft von I. K. Hofmann leitet. Während Ingrid Hofmann Mitte der 1980er-Jahre notgedrungen zur Unternehmerin wurde, weil sie in einer anderen Zeitarbeitsfirma an eine gläserne­ Decke gestoßen war, hat ihre heute 33-jährige Tochter Sonja schon als Jugendliche im Familienunternehmen Praktika gemacht. Eines Tages soll sie die Chefinnenrolle übernehmen. ZEIT für Unternehmer: Frau Hofmann und Frau Heinrich, im April gab es 852.000 offene Stellen im Land, ein Rekord. Ist das also eine gute Zeit für Sie als Chefinnen einer der größten Zeitarbeitsfirmen im Land – oder eine besonders schwierige? Ingrid Hofmann: Fachkräfte sind seit Jahren knapp. Aber inzwischen werden auch Produktionsmitarbeiter dringend gesucht. Wir müssen viel Fantasie entwickeln und mehr Geld für Recruiting ausgeben, um Mitarbeiter für uns zu gewinnen. Und stärker als früher müssen wir darauf achten, dass unsere Kunden unsere Beschäftigten nicht zu kurzfristig abwerben – deswegen schließen wir heute mit den Unternehmen möglichst lang laufende Verträge ab, die unsere Kosten mindestens decken. Manche Mittelständler suchen Personal schon in Asien, weil sie hier keines mehr finden. Wo werden Sie fündig? Sonja Heinrich: Wir stellen oft Polen, Rumänen und Ungarn ein. Oder auch Menschen aus Spanien, die zum Beispiel gerne in Frankfurt und Umgebung arbeiten, wie

Ingrid Hofmann, 68, und ihre Tochter Sonja Heinrich, 33

Ingrid Hofmann und ihre Tochter Sonja Heinrich führen eine warum sie in Zeiten knapper Fachkräfte ihre Strategie verändert


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Foto: Sebastian Lock für ZEIT für Unternehmer

hart kalkulieren«

der größten Zeitarbeitsfirmen im Land. Hier erklären die beiden, haben, was sie unterscheidet und wie sie Konflikte lösen

wir inzwischen gelernt haben. Die Gesetzeslage verbietet es allerdings, dass wir Menschen aus Nicht-EU-Staaten rekrutieren und als Leiharbeitnehmer in Deutschland einsetzen, das galt bisher auch für Menschen aus der Ukraine. Inzwischen gibt es für Geflüchtete aus der Ukraine eine andere Gesetzeslage, sodass wir diese auch in Deutschland beschäftigen dürfen. In Tschechien war die Rechtslage schon länger anders, unsere Tochterfirma beschäftigt hier viele Menschen aus der Ukraine und holt Menschen unter anderem aus den Philippinen oder aus Nepal. Und wie finden Sie die passenden Leute? Hofmann: Am meisten hilft es, wenn einer unserer Mitarbeiter uns weiterempfiehlt. Wir planen gerade, Menschen mit bulgarischem Pass aus der Türkei zu rekrutieren, weil einer unserer bulgarischen Mitarbeiter seinen Bekannten dort von uns erzählt hat. Reputation ist da also ganz entscheidend. Und um die nicht zu gefährden, beschönigen wir nichts: Wir sagen immer ganz klar, welcher Lohn und welche Arbeit die Menschen hier erwarten – und auch, wann der Vertrag gegebenenfalls wieder endet. Frau Heinrich, Sie leiten das US-Geschäft. Ist es dort leichter, Leute zu finden? Heinrich: Die Pandemie hat den amerikanischen Arbeitsmarkt durcheinandergewirbelt: Viele Menschen haben gekündigt, weil sie lieber von Staatshilfe gelebt haben oder Angst vor Ansteckungen hatten, wir haben phasenweise kaum Leute gefunden. Jetzt liegt die Arbeitslosigkeit historisch niedrig, obwohl die Gehälter drastisch gestiegen sind. Wir müssen also sehr hart kalkulieren. Hofmann: Wir profitieren aber davon, dass wir in Atlanta sitzen. Dabei wollte ich­ eigentlich nach New York, als wir vor 20 Jahren in die USA expandiert sind. Sie wollten in den Trump Tower! Hofmann: Stimmt. (lacht) Aber Nürnberg hat eine Städtepartnerschaft mit Atlanta,


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»Ich wollte diese Milliarde Umsatz! Ich habe akzeptiert, dass wir auch Aufträge angenommen haben, die keine gute Marge mehr versprachen«

weswegen ich dort schneller Kontakte geknüpft und dann auch dort gegründet habe. Heinrich: Das war rückblickend sehr vernünftig, weil es im Süden der USA viele Automobilzulieferer gibt, mit denen wir auch hier in Europa zusammenarbeiten. Und wir vermitteln sehr viel Personal im Logistikbereich ... Hofmann: ... du hast zum Beispiel kürzlich geholfen, den Containerstau im Hafen von Los Angeles aufzulösen. Heinrich: Was nicht so einfach war! Bevor neue Mitarbeiter Güter aus Containern aus dem Ausland entladen dürfen, werden sie erst mal genau auf Vertrauenswürdigkeit überprüft, um zum Beispiel Schmuggel zu unterbinden. Dann braucht es Lkw-Fahrer, die die Güter weitertransportieren. Hofmann: Und kaum hatte sich der Stau in Los Angeles aufgelöst, fingen die nächsten Probleme an, weil Putin die Ukraine angegriffen hat. Vergangene Woche habe ich mit einem Kunden gesprochen, der keine Paletten mehr hat, weil dafür die Nägel fehlen. Einem anderen fehlen Kartonagen, um seine Ware zu verpacken. Und kurz nach Kriegsbeginn haben den Automobilherstellern­ Kabelbäume aus der Ukraine gefehlt, und sie mussten Mitarbeiter in Kurzarbeit schicken – davon waren wir unmittelbar betroffen. Könnten Sie die betroffenen Leiharbeiter nicht einfach in eine andere Firma ver­ mitteln, wo sie gebraucht werden? Hofmann: Nein. So flexibel sind die Verträge nicht. Und bei einem Automobilhersteller bekommen die Beschäftigten relativ hohe Stundenlöhne. Die können Sie nicht einfach in ein Logistikzentrum umsetzen, wo sie dann für die Hälfte des Geldes aufgrund der unterschiedlichen Branchen­ zuschläge irgendwelche Dinge verpacken. Vor der Pandemie konnte man Leih­ arbeiter nicht in Kurzarbeit schicken, das geht erst seit März 2020. Hat Sie das gerettet?

Hofmann: Hätte man diese Möglichkeit nicht beschlossen, hätten wir viele Leute entlassen müssen – und selbst nicht gewusst, wie wir die Pandemie überstehen sollen. Zuvor waren Sie auf der Erfolgsspur. Bis 2018 ist Ihr Umsatz Jahr um Jahr auf fast eine Milliarde Euro gestiegen ... Hofmann: ... und ich wollte diese Milliarde, fast um jeden Preis! Ich habe akzeptiert, dass wir auch Aufträge angenommen haben, die keine gute Marge mehr versprochen haben. Nur um der Milliarde näher zu kommen. Umsatzentwicklung Umsatzentwicklung des Unternehmens Unternehmens in in Mio. Mio. € 923

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Stattdessen brach Ihr Umsatz in 2019 auf 764 und 2020 auf 574 Millionen Euro ein – und unterm Strich stand jeweils ein Verlust. Stand Ihre Firma in der Pande­ mie plötzlich auf der Kippe? Hofmann: Nein. Wir haben über Jahre solide gewirtschaftet und unsere Gewinne im Unternehmen gelassen, hatten und haben also eine gute Eigenkapitalquote. Aber klar: Auch die Reserven reichen nicht ewig, mich hat das schon beunruhigt. Frau Heinrich, mussten Sie Ihre Mutter in dieser Krise hin und wieder aufbauen? Heinrich: Nein. Wir haben in dieser schwierigen Zeit ja sehr gute Bewertungen

bekommen bei der Befragung des Forschungs- und Beratungsinstituts Great Place to Work. Die haben uns gezeigt, dass unsere Beschäftigten gerne bei uns arbeiten – und dass wir auf dem richtigen Weg sind, wenn wir auf Qualität statt auf Quantität achten. Hofmann: Ich habe schon in 2019 verstanden: Diese Milliarde, die ist Blödsinn! Wir brauchen eine andere Strategie. Und ein Geschäftsmodell, bei dem der Fokus nicht auf Umsatz liegt, sondern auf solidem Wachstum mit langfristigen Beziehungen zu einem breiteren Kundenkreis. Was haben Sie konkret anders gemacht? Hofmann: Es gab zum Beispiel einen großen Kunden, von dem wir uns getrennt haben, weil wir dessen Preisvorstellungen nicht mitgehen konnten. Früher hätte ich mich darauf eingelassen, um der Milliarde näher zu kommen – heute verzichten wir. Das geht auf: 2021 haben wir einen Gewinn erzielt und waren wieder auf Erfolgskurs – jedenfalls bis Russland den Krieg begonnen hat. Sie haben in der Pandemie harte Kritik an der Politik des damaligen Wirt­ schaftsministers Peter Altmaier geübt. Macht es die neue Regierung besser? Hofmann: Ich finde, dass sowohl unser Wirtschaftsminister Robert Habeck als auch die Außenministerin Annalena Baerbock vernünftig und verantwortungsvoll an die Situation herangehen. So halte ich es für richtig, dass sie sich bisher gegen einen Boykott von russischem Gas entschieden haben, aber zugleich viel dafür tun, die Abhängigkeit von russischer Energie zu reduzieren. Frau Heinrich, Sie haben in München eine eigene Firma: HeadsHire. Ist das eine Strategie, um sich vom Kerngeschäft von Hofmann unabhängiger zu machen? Heinrich: Nein. Die Firma habe ich 2017 gegründet, bevor ich in die USA gegangen bin. Mit dem Ziel, leitende Manager zu vermitteln – damit ergänze ich das Angebot von I. K. Hofmann eigentlich ganz gut. Ein

ZEIT-Grafik; Quelle: Konzernabschlüsse der I.K. Hofmann GmbH

Ingrid Hofmann



TITELTHEMA ARBEITSMARKT

11.000 deutsche Unternehmen, deren Kerngeschäft Zeitarbeit ist, gibt es laut der Bundesagentur für Arbeit

Ingrid Hofmanns Leiharbeitsfirma ist mit rund 10.000 Zeitarbeitskräften die siebtgrößte in Deutschland

Anzahl der Leiharbeitnehmer in Deutschland

492.000 Dienstleistungen

292.000 Produktion

(gleitender Durchschnitt von Juli 2020 bis Juni 2021)

653.000

Zeitarbeitskräfte wurden im ersten Halbjahr 2021 eingestellt. Zwei Drittel hatten vorher keinen Job, 20 Prozent waren seit über einem Jahr arbeitslos

Grund war aber auch, dass meine Mutter mehrfach erklärt hat, sie wolle bis 84 arbei­ ten. Und ich habe nicht das Bedürfnis, so lange Prinz Charles zu sein. (lacht) Frau Hofmann, Sie fahren gerne schnelle Autos und haben mal gesagt, Sie führen oft mit dem letzten Tropfen Benzin, ignorierten die Warnleuchte und würden Ihr Ziel oft gerade noch erreichen. Frau Heinrich, fürchten Sie, dass Ihre Mutter es im Unternehmen ähnlich ausreizt? Heinrich: Nein. Hofmann: Du musst dir da auch keine Sorgen machen. Bei bester Gesundheit würde ich schon gerne bis 84 arbeiten. Aber ich muss das etwas relativieren: Mir schwebt vor, dass ich in dem Alter hier einschwebe, mir ein Kaffee und die Post gereicht werden und ich dann von Büro zu Büro gehe und die Leute von der Arbeit abhalte. (lacht) Aber darin steckt ja auch Konfliktpotenzial. Wie haben Sie die Arbeit aufgeteilt? Hofmann: Wir haben mit einem Coach diskutiert, was wir von uns erwarten. In diesen Gesprächen haben wir auch bespro­ chen, dass Sonja in die USA geht, wo wir damals ziemliche Probleme hatten. Ich war skeptisch, denn eigentlich möchte man sei­ ner Tochter nicht gerade das schwierigste Problem übergeben, aber der Coach hat Sonja das zugetraut. Also haben wir es aus­ probiert. Sie hat dann tatsächlich den Turn­ around hinbekommen und sich damit den Respekt im ganzen Unternehmen erworben. Haben Sie die Grenzen Ihrer Verantwortungsbereiche klar abgesteckt – oder reden Sie sich gegenseitig viel rein? Hofmann: Wir haben ein internationales Steuerungskomitee für unser Auslands­ geschäft, da ist Sonja der Boss – und ich bin Gast. Zugleich ist Sonja Teil unseres Exe­ kutivkomitees in Deutschland, und da ha­ ben wir manchmal verschiedene Meinun­ gen. Weil wir auch verschiedene Persönlich­ keiten sind. Aber wir diskutieren immer in einem Ton, der auch anderen zumutbar ist. Heinrich: Ich bin am Ende einer solchen Diskussion nicht immer ihrer Meinung, aber ich verstehe zumindest ihre Beweg­ gründe. Und umgekehrt. Hofmann: Sie hat zum Beispiel unsere Tochtergesellschaft in England geschlossen,

obwohl unsere Firma mir dort sehr viel be­ deutet hat. Ich hatte die ja persönlich ge­ gründet! Unser letzter Kundenbesuch in Großbritannien hat uns zu McLaren in der Nähe von London geführt. Und ich bin so ein unglaublicher Autonarr! Es war wirk­ lich schwer für mich, da loszulassen. Warum wollten Sie das, Frau Heinrich? Heinrich: Wegen des Brexits, der unsere Geschäfte ziemlich erschwert hat. Und auch, weil ich gemerkt habe, dass die USA meine ganze Kapazität und Zeit erfordern. Ihre Mutter gilt als Arbeitstier. Sie ist schon vier Wochen nach Ihrer Geburt wieder arbeiten gegangen und hat oft sogar am Wochenende weitergemacht. Hat Sie das angesteckt – oder abgeschreckt? Heinrich: Es hat mich nicht abgeschreckt. Als Kind hat mir nie etwas gefehlt. Ich habe die Firma als Geschwisterchen empfunden: Wenn meine Eltern Zeit mit der Firma ver­ bracht haben, war das für mich okay. Viele Kinder sind schnell eifersüchtig auf ihre Geschwister! Heinrich: So ging es mir nicht. Hier vor der Tür des Besprechungszimmers hängen alte Fotos, auf denen ich als Zweijährige zu sehen bin, wie ich in einem Büro auf einen Schreibtisch klettere und in einen Telefon­ hörer rufe; diese Bilder wurden sogar Teil einer Werbekampagne. Entstanden sind sie bei einer Kundenveranstaltung, ich war also schon früh mit dabei im Unternehmen. War also immer klar, dass Sie auch in das Unternehmen reinwollen? Heinrich: Nein. Aber ich habe schon als Jugendliche Ferienjobs hier in der Zentrale gemacht und später in verschiedenen Nie­ derlassungen in Deutschland. Das war gut, um das Geschäft zu verstehen. Später habe ich nach Studienaufenthalten in London, San Sebastián und Mailand in München meinen Master mit Schwerpunkt inter­ nationale Familienunternehmen gemacht. Dann kam der Punkt, an dem ich mich bewusst für die Firma entschieden habe. Hofmann: Und das ist ein Glücksfall, den man als Familienunternehmerin heute nicht mehr automatisch erwarten kann. Aber es bedeutet eben auch, dass sich das Familien­ leben und das Mutter-Tochter-Verhältnis verändern, es ist nicht mehr so unbeschwert.


Fotos: Sebastian Lock für ZEIT für Unternehmer; ZEIT-Grafik, Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Lünendonk

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Sprechen Sie denn auch zu Hause ständig über die Firma? Heinrich: Nein, wir trennen das ganz gut. Nur Papa, der ja auch im Unternehmen arbeitet, ist da ein bisschen anders ... Ihr Vater Bernd Heinrich ist bei Hofmann für den Fuhrpark und den Einkauf zuständig. Inwiefern tickt er anders? Hofmann: Mein Mann ist ein fröhlicher Mensch, wenn er morgens aufsteht – und ist abends manchmal schlecht drauf. Dann möchte er darüber reden, was in der Firma los war. Sonja und ich dagegen sind eher Morgenmuffel, aber im Laufe des Tages bessert sich unsere Laune zusehends, und wir können nach der Arbeit gut abschalten. Was kann Ihre Tochter besser als Sie? Hofmann: Ich sage es mal so: Unser Controlling ist sehr glücklich, Sonja zu haben. Weil sie sehr analytisch ist und mehr nach Zahlen führt als ich. Ich bin dagegen eher emotional und springe auf jeden neuen Zug auf, ohne alles im Detail auszurechnen. Heinrich: Meine Mutter und mein Vater haben immer sehr viel gearbeitet und sind damit auch Vorbilder für mich. Ich habe die Einstellung mitbekommen, dass man viel reinstecken muss, damit Erfolg rauskommt. Aber anders als meine Eltern brauche ich kein Büro, sondern kann meine Arbeit von überall aus mit dem Tablet erledigen. Ihre Mutter hat das Unternehmen aus dem Nichts gestartet, das Startkapital kam vom Vater Ihrer Mutter, der damals einen Acker verkaufte. Denken Sie manchmal: Hoffentlich versemmel ich nicht, was sie aufgebaut hat? Heinrich: Als Nachfolgerin muss man sich von dem Gedanken verabschieden, etwas genauso machen zu wollen wie die Vorgängerin. Das geht ja gar nicht. Aber ich denke, dass ich das Unternehmen mit den gleichen Zielen und Werten führen werde – und damit im Sinne meiner Mutter. Leiharbeit war lange verrufen, etwa wegen des geringeren Gehalts von Zeitarbeitskräften gegenüber Festangestellten. Bekommen Sie noch oft Kritik zu hören? Heinrich: Politiker verstehen heute viel besser, wie wichtig Zeitarbeit ist, damit­ Unternehmen einigermaßen unbürokratisch Personal anheuern können – und auch wie-

der reduzieren, wenn ihr Bedarf überraschend sinkt. Wir haben Menschen Jobs vermittelt, als es in Deutschland fünf Millionen Arbeitslose gab. Heute suchen wir gezielt Mitarbeiter mit den unterschiedlichsten Qualifikationen für die unterschiedlichsten Kunden. Bei entsprechenden Anfragen können wir auch Menschen mit geringen Qualifikationen beschäftigen. Das hilft den Unternehmen, es hilft der Wirtschaft – und es schafft Arbeitsplätze, die es sonst nicht geben würde. Ich bin überzeugt, dass wir einen wichtigen Job machen, da kann man mich angreifen, wie man will. Als Sie das Unternehmen gegründet haben, spielte auch Frust eine Rolle, weil Sie als Frau in einer Zeitarbeitsfirma keine Aufstiegschancen mehr gesehen haben. Bis heute sind Frauen in den Leitungsebenen unterrepräsentiert. Braucht es auch dort eine verbindliche Frauenquote? Hofmann: Früher hätte ich das klar verneint. Aber ich habe einerseits gesehen, wie gut sich eine Quote auf die Aufsichtsräte in börsennotierten Firmen ausgewirkt hat. Und es ist frustrierend, dass es noch Unternehmen gibt, die in ihren Zielgrößen null weibliche Vorstände angeben. Deswegen sehe ich das heute differenzierter. Heinrich: Mich hat das Foto von der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar ziemlich schockiert, wo bei einem BusinessLunch nur weiße Männer am Tisch saßen. So etwas geht heute gar nicht mehr. Also sind Sie beide für eine Quote? Hofmann: Wissen Sie, ich war in vielen Gremien die erste und zeitweise einzige Frau, zum Beispiel im Präsidium der Bundes­ vereinigung der deutschen Arbeitgeber­ verbände. Und heute sitzen da oft zu einem Drittel Frauen. Meine Erfahrung ist: Wenn Frauen die Gelegenheit bekommen, mitzuarbeiten und sich zu beweisen, dann werden es immer mehr. Wir brauchen also auf jeden Fall Druck, damit die Chefetagen vielfältiger werden. Aber eine allgemeingültige Quote wäre mir zu viel, da ich grundsätzlich gegen zu viel Regulierungen in der Wirtschaft bin. Heinrich: Mit der Brechstange geht es nicht. Das sehe ich wie meine Mutter. Das Gespräch führte Jens Tönnesmann

33 Prozent

betrug zuletzt der Anteil der Zeitarbeiter, die nach Vertragsende eine Stelle außerhalb der Leiharbeit ergatterten. Arbeitslos wurden 39 Prozent

»Als Nachfolgerin muss man sich von dem Gedanken verabschieden, etwas genauso machen zu wollen wie die Vorgängerin« Sonja Heinrich

2378

Euro monatlich brutto verdient eine Leih-Fachkraft im Schnitt, 788 Euro weniger als andere Fachkräfte


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Jobs mit Herzblut Viele Geflüchtete aus der Ukraine wollen arbeiten, viele Firmen suchen Beschäftigte, Online-Plattformen helfen bei der Vermittlung. Doch am Ende hängt es oft am Engagement Einzelner, damit sich beide Seiten finden VO N TO M S C H M I DTGEN

E Es sind vier ziemlich alltägliche Wörter, mit denen Alina Semenko ein neues Kapitel in ihrem Leben aufschlagen möchte. »Hallo, ich heiße Alina«, sagt die 38-Jährige so vorsichtig und leise, dass man merkt, wie fremd ihr die deutsche Sprache noch ist – und wie eigentlich unvorstellbar die Situation: Vor ein paar Tagen lebte sie noch in Charkiw im Osten der Ukraine, wo sie als Bauingenieurin gearbeitet hat. Doch dann griffen die Russen die Millionenstadt an und legten große Teile in Trümmer. Und deswegen sitzt Semenko nun, nach einer chaotischen Flucht über Polen mit ihrer 15-jährigen Tochter, ihrer Mutter, ihrer Tante, ihrem Hund, 1800 Kilometer weiter westlich in einem farblosen Besprechungsraum in Neustadt am Rübenberge. Kleinstadt statt Großstadt, deutsche Provinz statt ukrainischer Metropole, ein Bett bei Bekannten statt eigener Wohnung. Um sie herum, an einem langen Besprechungstisch: vier Mitarbeiter der Temps Malerei-

betriebe, eines Bauunternehmens, bei dem 470 Menschen Arbeit finden, und zwar – das ist dem Unternehmen wichtig – aus mehr als 30 Ländern. Alina Semenko, die zum Bewerbungsgespräch ein schwarzes Kleid und eine Lederjacke mit Pelzbesatz an den Manschetten trägt, wäre in Zukunft gerne einer von ihnen. Mehr als 700.000 Ukrainerinnen und Ukrainer sind seit dem Beginn des russischen Angriffs am 24. Februar nach Deutschland geflohen. In ein Land, das ihnen Schutz vor Putins Waffen bietet – und vielleicht einen Job. Viele der Geflüchteten wollen arbeiten und wünschen sich eine Aufgabe. »Ich möchte nicht rumsitzen, ich möchte der Region etwas zurückgeben«, sagt Alina Semenko, ein Dolmetscher übersetzt. Gleichzeitig benötigen viele Firmen in Deutschland dringend Arbeitskräfte: Im April waren bei der Bundesagentur für Arbeit 852.000 offene Stellen gemeldet, ein Höchstwert. Nicht nur Fachkräfte sind begehrt, sondern auch ungelernte Arbeitskräfte; laut einer Studie des IfoInstituts beklagte im vergangenen Herbst beispielsweise etwa jedes dritte Bauunternehmen Probleme, Leute zu finden. Mit einem Job würden sich viele Geflüchtete also nicht nur selbst helfen, sondern auch der deutschen Wirtschaft. Ein großer Teil der Menschen aus der Ukraine sei gut ausgebildet, zehn Prozent sprächen

gut Deutsch und sollten von den Arbeitgebern entsprechend eingesetzt werden, erklärte Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) im April und kündigte an, die Anerkennung ihrer beruf­ lichen Qualifikationen zu beschleunigen. Mehr Tempo ist dringend nötig. So zeigt eine Studie des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft Köln: Die Ukrainerinnen und Ukrainer, die bereits vor Kriegsausbruch in Deutschland lebten, sind gut in den deutschen Arbeitsmarkt integriert: »Viele arbeiten in qualifizierten Jobs als Fachkraft oder auf Experten­ niveau.« Von 2016 bis 2020 seien zudem in mehr als 6000 Verfahren ukrainische Berufsabschlüsse anerkannt worden, viele Anerkennungen entfallen auf Berufe, in denen Fachkräfte knapp seien. Auch die bisher registrierten Geflüchteten brächten »gute Voraussetzungen« mit, um auf dem deutschen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, sofern ihre familiäre Situation dies zulässt und sie eine Beschäftigung anstreben. Trotzdem wird Zeit vergehen, bis die Geflüchteten Arbeit haben. Weil Ämter überfordert sind, weil es nicht genügend Plätze in Sprachkursen gibt – und weil Arbeitgeber und Bewerber erst einmal zusammenfinden müssen. Selten geht das so schnell wie bei der Firma Temps. Dort liegt das maßgeblich auch an Ulrich Temps, dem Chef. Der sagt, er habe immer noch die Worte seines Vaters Fritz


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Foto: Ricardo Wiesinger

Alina Semenko floh aus Charkiw. Jetzt lebt sie in Neustadt am Rübenberge

im Ohr: »Uli, denk dran: Wenn es dir möglich ist, gib der Gesellschaft etwas zurück.« Der Senior war schließlich zu Beginn der 1950er-Jahre selbst geflüchtet, aus der damaligen DDR nach Neustadt am Rübenberge, wo er mit Geldern des Marshallplans zum Unternehmer wurde. Heute gehört Temps zu einem der zehn größten Malereibetriebe in Deutschland. Sohn Ulrich Temps engagierte sich schon 2015 für Geflüchtete, die damals vor allem aus Syrien kamen, er bot Lehrstellen und Praktika an, das Unternehmen beteiligte sich im Netzwerk »Unternehmen integrieren Flüchtlinge« des Deutschen Industrie- und Handelskammertages. Auch diesmal will sich der Unternehmer einbringen. »Da muss viel Herzblut drin stecken«, sagt Temps. Denn Förderung vom Land oder Bund erhält das Unternehmen nicht, bisher wird alles aus eigener Tasche bezahlt. »Wir können das nur machen, weil wir wirtschaftlich sehr gut aufgestellt sind.« Vieles läuft bei dem Unternehmen dann auch anders als in gewöhnlichen Bewerbungsgesprächen. Statt um eine mögliche Arbeitsstelle oder um die Qualifikationen von Alina Semenko geht es vor allem um eines: um ihren Aufenthaltsstatus. Klaus Birkenhagen, ein pensionierter Lehrer, der den Auszubildenden bei Temps Nachhilfe gibt und der sich im Kontakt mit der Caritas auch um


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Das Chefbriefing Was Unternehmer beachten sollten, wenn sie Geflüchtete aus der Ukraine einstellen wollen 1. Beschäftigte finden Die Arbeitsagenturen können Sie mit ­Bewerbern verbinden. Hilfreich sind auch JobPlattformen im Netz, etwa Workeer, UA Talents und Job Aid Ukraine. Zudem können Sie bei örtlichen Hilfs­ organisationen nachfragen.

2. Regeln beachten Ihr zukünftiger Mitarbeiter braucht eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis der örtlichen Ausländerbehörde. Und natürlich müssen Sie auch ukrainischen Beschäftigten wenigstens den Mindestlohn zahlen und sie bei der Renten- und Krankenkasse anmelden.

Flüchtlingsfragen kümmert, schlägt einen Ordner auf und erläutert das bürokratische Prozedere für die Geflüchteten aus der Ukraine; ein russischsprachiger Mitarbeiter übersetzt für Semenko. Dann kommt der pensionierte Lehrer auf den Knackpunkt. Die Ukrainerin müsse sich beim örtlichen Ausländeramt registrieren. Und das Amt sei momentan völlig überlastet: »Wir müssen damit rechnen, dass das lange dauert.« Wahrscheinlich Wochen, vielleicht Monate. Dann bekomme sie aber direkt eine Arbeitserlaubnis. Alle Ukrainer dürfen sich zunächst 90 Tage mit einem Touristenvisum in Deutschland aufhalten. Damit erhalten sie aber weder Geld, noch dürfen sie arbeiten. Deswegen wurde vom Europäischen Rat die sogenannte Massenzustrom-Richtlinie aktiviert, mit der Ukrainer ohne Asylverfahren für bis zu drei Jahre temporären Schutz erhalten. Dazu müssen sie sich bei ihrer Kommune registrieren und sollen dann sofort eine Arbeitserlaubnis erhalten. Bis Mitte Mai waren in Deutschland zwar nur 34.541 ukrainische Flüchtlinge offiziell registriert, beantragt haben die Aufenthaltserlaubnis aber bereits achtmal so viele. Dass die allermeisten noch nicht registriert seien, sei ein Problem für die Integration, sagt Herbert Brücker, Migrationsforscher am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg. Nur wer registriert sei, werde von den staatlichen Stellen unterstützt.

3. Zeugnisse anerkennen Manche Berufe können Geflüchtete nur ausüben, wenn sie über die nötigen Qualifikationen verfügen. Die Bundesregierung erklärt unter Anerkennung-in-Deutschland.de, wie in der Ukraine erworbene Qualifikationen anerkannt werden. Die Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen bewertet Zeugnisse.

Alina Semenko würde gerne gleich anfangen. Und weil sie als Bauingenieurin grundsätzlich gut zu dem Bauunternehmen passt, stehen ihre Chancen gut. Temps sucht für verschiedenste Aufgaben Personal, Maler etwa, Elektriker, Büroangestellte. Aktuell hat das Unternehmen mehr als 20 Stellen ausgeschrieben. Nur: Welchen Job genau Semenko machen soll, ist bei dem Bewerbungsgespräch noch gar nicht klar. Aus dem Gespräch wird bald ein Arbeitstreffen zu Organisationsfragen rund um Geflüchtete. Die Firma will die Ukrainerin einstellen, so viel ist klar. Vorher bekommt sie aber einen Sprachkurs. »Egal was sie macht, Alina braucht einen Grundstock an Deutsch«, sagt Kay Faulhaber, der als Malermeister bei Temps arbeitet. »Sie muss sich im Team verständigen können.« Auf den Baustellen sei das besonders wichtig, auch um bei Gefahr schnell reagieren zu können. Organisiert werden die Sprachkurse von der Firma zusammen mit dem Deutschlehrer Klaus Birkenhagen, die Firma übernimmt die Kosten. Teilnehmen können etwa 80 Geflüchtete – egal wo und in welchem Beruf sie später arbeiten wollen. Viele Geflüchtete stünden dabei vor einer schwierigen Entscheidung, erläutert der Arbeitsmarktforscher Brücker. Entweder würden sie erst Deutsch lernen, um dann – viel später – irgendwann einen Job zu ergreifen, für den sie auch qualifiziert sind. Dabei sei das Problem: »Je länger die Menschen aus

4. Geflüchtete integrieren Damit sich die Ukrainer in Ihrer Firma wohlfühlen, können Sie Paten im Betrieb vermitteln. Und Sie können bei der Wohnungssuche helfen und mit Kontakten zu anderen Firmen dazu beitragen, dass sich Geflüchtete vernetzen.

dem Arbeitsmarkt raus waren, desto schwieriger wird der Wiedereinstieg.« Oder die Flüchtlinge nehmen jetzt den nächstbesten Job, beispielsweise als Putz- oder Pflegekraft, für den die meisten von ihnen aber überqualifiziert sind. Dann sei das Risiko groß, dass ihre eigentliche Qualifikation im Laufe der Zeit an Wert verliert. »Es ist schwierig, den Menschen einen Ratschlag zu geben, wie sie jetzt handeln sollten«, sagt Brücker. Das solle am besten über individuelle Beratungen geklärt werden. Zwar gibt es inzwischen spezielle Plattformen, über die Geflüchtete und Arbeitgeber zueinanderfinden (siehe Kasten) – und die dazu beitragen sollen, dass die Menschen im besten Fall Jobs bekommen, die zu ihren Profilen passen. Doch oft helfen dabei am Ende Zufälle und persönliche Kontakte. So wie bei Alina Semenko, die über den Nachbarn ihrer Bekannten zu dem Neustädter Malerbetrieb fand: Er arbeitet bei Temps als Meister. Unklar ist, wie viele der Geflüchteten in Deutschland bleiben wollen. Es ist ja auch noch gar nicht abzusehen, wie lange der Krieg andauern wird. Alina Semenko möchte in die Ukraine zurück, sobald es geht, auch wenn sie jetzt erst mal den Sprachkurs bei Temps besuchen wird. Bis zur Rückkehr möchte sie arbeiten und Deutsch lernen. »Ich habe eine große Familie vor Ort«, sagt sie, der Dolmetscher übersetzt. »Aber das wird eine lange Zeit dauern.«


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FOTOSTORY CLAAS

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1 Seit über 80 Jahren werden bei Claas in Ostwestfalen Mähdrescher gebaut – unser Foto zeigt das hochkomplexe Innenleben 2 Thomas Böck ist seit 2019 Chef des Harsewinkeler Familienkonzerns 3 Das Unternehmen konzentriert sich auf den Bau von Mähdreschern und Traktoren und ist berühmt für seine patentgeschützte Farbe namens Saaten­grün

Sand im Getriebe Claas eilte von Erfolg zu Erfolg. Auch weil das internationale Geschäft brummte. Jetzt bremst der Teilemangel den Landmaschinenhersteller VON C L A AS TATJE ; FOTO S : JA KO B S C H NET Z


FOTOSTORY CLAAS

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4 Böck macht nicht nur der Ukraine-Krieg Sorgen (siehe S. 22), auch der Teilemangel lässt die Bänder im Werk immer wieder stillstehen 5 Die Automatisierung ist bei Claas weit fortgeschritten, aber Roboter sind (noch) vergleichs­weise selten. Meist sorgt ­Muskelkraft für Präzision 6 Hier werden Reifen angeliefert. Auch sie waren zeitweise schwer zu kriegen

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8 Am Ende der Montage wird die Fahrerkabine aufgesetzt. Das geht erst, wenn der Korntank montiert ist. Der Korntank des größten und rund 700.000 Euro teuren Mähdreschers umfasst 18.000 Liter – und kann trotzdem in 100 Sekunden leer gesaugt werden. 9 Ein fertiger Mähdrescher vom Typ Lexion. Diese Modelle exportiert Claas bis nach Australien. Vorausgesetzt, es gibt genug Halbleiter. Und Hydraulikzylinder. Und Gummimatten. Und Motoren

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7 Blick in die 15.000 Quadratmeter große Produktionshalle in Harsewinkel, die Claas 2021 für 44 Millionen Euro neu errichtet hat. Ein Vorteil: Die neue Halle ist 14 Meter hoch, die alte maß an vielen Stellen nur 4,20 Meter – zu niedrig, um die Motoren auf die Maschinen zu montieren. Staus waren die Folge. Jetzt passieren die Mähdrescher die Fertigungsstraße ohne Hindernisse, im Ideal­fall läuft alle 21 Minuten ein Exemplar vom Band

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FOTOSTORY CLAAS

ZU BESUCH BEI CLAAS-CHEF THOMAS BÖCK

Der Mangelmanager I M PR ES S UM

Im ostwestfälischen Harsewinkel gab es in den vergangenen Monaten immer wieder ein Gerücht. Der Landmaschinenhersteller Claas kaufe Miele-Waschmaschinen im Dutzend und schlachte danach die Geräte aus. Das einzige Ziel: begehrte Halbleiter für seine bis zu 700.000 Euro teuren Mähdrescher zu bekommen. Wahr ist daran nur, dass Claas die Halbleiter genauso fehlen wie vielen Autoherstellern (und zwischenzeitlich auch Miele). Der Teilemangel könnte kaum größer sein. Doch es fehlt nicht nur an Computerchips, sondern auch an Gummimatten aus England, Hydraulikzylindern aus Italien oder Motoren aus Brasilien. Die durch die Pandemie bedingten Lockdowns der Welt fressen sich durch die Produktionskette wie der Lexion-8900-Mäher durchs Roggenfeld. Das wäre schon herausfordernd genug, aber bei Claas kommt noch etwas hinzu. Das Unternehmen, das im Geschäftsjahr 2021 rund 4,8 Milliarden Euro Umsatz machte und weltweit 12.000 Mitarbeiter beschäftigt, wurde zum Symbol für die Gratwanderung zwischen West und Ost. Lange ging das gut. Das Unternehmen prosperierte und baute im russischen Krasnodar eine Fabrik, in der pro Jahr bis zu 1000 Mähdrescher produziert werden können. Trotz aller Sanktionen blieb das Unternehmen auch in Russland auf Wachstumskurs. Noch im Januar berichtete Firmeninhaberin und Aufsichtsratschefin Cathrina ClaasMühlhäuser anderen Unternehmern auf­ einem Forum der Industrie- und Handelskammer vom riesengroßen Bedarf an­ professioneller Landtechnik. Der Markt sei »extrem attraktiv«, behauptete die Urenkelin des Unternehmensgründers August Claas. Alles Geschichte. Heute sorgt sich Unternehmenschef Thomas Böck vor allem

um seine 44 ukrainischen Vertriebsmitarbeiter. Seit Kriegsbeginn stehen sie in täg­ lichem Skype-Kontakt und haben sich in wenigen Wochen so neu sortiert, dass ukrainische Landwirte schon wieder beliefert werden können. »Die Investitionsbereitschaft ist groß«, sagt Böck. Die Landwirte fürchteten eine weitere Abwertung ihrer Währung und investieren nun in Maschinen. Längst gehen Bilder der Aussaat um die Welt. Bauern in Schutzwesten, den Artilleriebeschuss in Hörweite. Der ClaasChef ist darüber so erschüttert wie viele im Land: »Ich hätte nicht gedacht, dass sich eine Weltordnung so schnell zerstören lässt«, sagt Böck. Nun denkt er von Woche zu Woche. Und ist froh, nicht in einem international gemanagten Großkonzern zu arbeiten, sondern in einem Familienunternehmen mit kurzen Entscheidungswegen und einem ge­ wachsenen Miteinander. »Viele Mitarbeiter von Claas arbeiten selbst noch in Teilzeit auf dem Bauernhof. Diese Nähe zum Produkt haben wohl die wenigsten Maschinenbauer«, sagt der Chef. Auch er selbst ist auf dem Bauernhof groß geworden. Mitten im Allgäu. »Von den Feldern aus konnte ich das Schloss Neuschwanstein sehen«, erzählt er. Von der Idylle auf dem Hof seines Großvaters ist wenig geblieben in der Branche. Allein die Effizienz moderner Mähdrescher sei in den vergangenen 25 Jahren um den Faktor vier gestiegen. Der Lexion 8900 ist für Böck keine Maschine, sondern eine »fahrende Fabrik«. Doch von diesen Fabriken standen zuletzt immer mehr auf dem Hof des Firmen­geländes. Sie waren praktisch fertig gebaut, aber ein paar Teile fehlten zur Auslieferung. Waschmaschinenskelette wurden keine gesehen. Claas Tatje

Herausgeber: Dr. Uwe Jean Heuser Art-Direktion: Haika Hinze Redaktion: Jens Tönnesmann (verantw.) Autoren: Carolyn Braun, Manuel Heckel,

Günter Heismann, Dietmar H. Lamparter, Tom Schmidtgen, Claas Tatje Redaktionsassistenz: Andrea Capita, Katrin Ullmann Chef vom Dienst: Iris Mainka (verantw.), Mark Spörrle Textchef: Dr. Christof Siemes Gestaltung: Johanna Knor Infografik: Pia Bublies (frei) Bildredaktion: Amélie Schneider (verantw.), Navina Reus Schlussredaktion: Imke Kromer Korrektorat: Thomas Worthmann (verantwortlich) Dokumentation: Mirjam Zimmer (verantwortlich) Herstellung: Torsten Bastian (verantw.), Oliver Nagel Druck: Vogel Druck und Medienservice GmbH, Höchberg Geschäftsführung: Dr. Rainer Esser Verlagsleitung Magazine: Sandra Kreft, Malte Winter (stellv.) Projektmanagement: Stefan Wilke Verlagsleitung Vertrieb: Nils von der Kall Marketing: René Beck Unternehmenskommunikation und Veranstaltungen:

Silvie Rundel Anzeigenleitung: Áki Hardarson Anzeigenpreise: Sonderpreisliste Nr. 1

vom 1. 1. 2022 An- und Abmeldung Abonnement (4 Ausgaben):

www.convent.de/zfu Verlag und Redaktion:

Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Helmut-Schmidt-Haus, Buceriusstraße, Eingang Speersort 1, 20095 Hamburg, Telefon: 040/32 80-0, E-Mail: DieZeit@zeit.de


Unter Offenheit verstehen wir,

Zugang zu den Chancen internationaler Märkte zu schaffen. Wussten Sie, dass alle Bauten und Brücken auf unseren Euroscheinen erfunden sind? Aus gutem Grund, denn man wollte kein Land und keine Kultur über die andere stellen. Das ist Offenheit, wie wir von der DZ BANK sie verstehen und leben. Auf Kulturen und Märkte zuzugehen, um Chancen zu finden und gemeinsam zu nutzen. Mehr über Offenheit und unsere Haltung erfahren Sie unter: dzbank.de/haltung


MITTELSTANDSSTUDIE PURPOSE

Raus aus Russland? Die große Mittelstandsstudie von ZEIT für Unternehmer zeigt: Viele Unternehmer definieren einen Zweck, Leitbilder und Werte, die in Krisenzeiten Orientierung bieten – oder umstrittene Entscheidungen rechtfertigen VO N JENS TÖ NNES M A NN

Auf welche Konzepte Unternehmerinnen und Unternehmer setzen (Mehrfachnennungen möglich)

44 %

51 %

62 %

74 %

haben einen Claim/Slogan für ihr Unternehmen definiert

haben einen Purpose für ihr Unternehmen definiert

haben ein Leitbild für ihr Unternehmen definiert

haben eine Unternehmensphilosophie definiert

Man kann nur erahnen, wie sehr Thomas Bruch und sein Sohn Matthias in diesen Tagen hadern: raus aus Russland? Oder bleiben, trotz des anhaltenden Kriegs in der Ukraine? 19 Lebensmittelmärkte schließen – oder offen halten? 9900 Mitarbeiter weiterbezahlen – oder sich selbst überlassen? Die beiden Bruchs, der 72-jährige Thomas und der 38-jährige Matthias, stehen hinter der Handelskette Globus aus St. Wendel im Saarland, die seit 2005 in Russland Geschäfte macht und dort 2020 einen Umsatz von mehr als einer Mil­liar­de Euro erzielt hat. Aber bei Globus legt man Wert darauf, dass es nicht nur ums Geld geht: Das Unternehmen hat ein »Leitbild« definiert, in dem es sich als »Ort von Entwicklung von, mit und

für Menschen« bezeichnet und seine »gelebte Verantwortung für Mensch, Natur und Unternehmen« betont. Und es hat acht Werte formuliert, »Menschlichkeit« etwa und den »Mut zum Denken aus der Zukunft«. Solche Leitbilder und Werte haben sich viele Firmen gegeben. Das zeigt die große Mittelstandsstudie von ZEIT für Unternehmer und der Stiftung »In guter Gesellschaft«. Für die Studie hat das Analyse- und Beratungsunternehmen aserto 400 Unternehmerinnen und Unternehmer aus ganz Deutschland befragt (siehe Kasten am Textende). Ein Ergebnis: Drei von vier Befragten möchten anderen ein Vorbild sein. Nur eine kleine Minderheit hat für ihre Unternehmen weder ein Leitbild (Erklärung des eigenen Selbst-

verständnisses) noch eine Unternehmensphilosophie (Werte und Normen, die das Handeln prägen) oder einen sogenannten Pur­ pose definiert – also einen höheren Zweck, der über die reine Gewinnorientierung hinausgeht. Der deutsche Mittelstand hat sich offenbar längst abgewendet von der Doktrin des amerikanischen Ökonomen Milton Friedman, wonach es auch für die Gesellschaft am besten ist, wenn die Firmen ihre Gewinne maximieren. »The business of business is business?« Von wegen. Im Gegenteil, wer Werte formuliere, schaffe nach innen eine gute Basis für die Zusammenarbeit und könne sich nach außen positiv gegenüber Kunden positionieren, schreibt ein Teilnehmer der Mittelstands-


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Die Prioritäten: Anteil der Befragten, die den Aussagen »voll und ganz« oder »eher« zustimmen

85 %

Ich möchte meine Mitarbeiter zufrieden machen, auch wenn ich dafür Geld investieren muss

75 %

54 %

Ich möchte mit meinem Unternehmen etwas bewegen, auch wenn mir dann weniger Zeit für mein Privatleben bleibt

ZEIT-Grafik

75 %

Ich möchte ein Vorbild für andere sein, auch wenn ich dadurch oftmals mit Gewohnheiten brechen muss

studie. »Menschen arbeiten weniger für Geld und mehr für ein why«, findet einer, der in gemeinsamen Werten ein Bindemittel für die Belegschaft sieht. Ein anderer ist überzeugt, dass ein Pur­pose dabei helfe, Mitarbeiter zu gewinnen, ein Leitbild ein gutes Betriebsklima schaffe und eine Unternehmensphilosophie schnellere Entscheidungen ermögliche. »Ich komme aus einem deutschen Industriekonzern«, schreibt ein Umfrageteilnehmer. Dort habe er erlebt, dass der formulierte Pur­ pose nur aus »leeren Worten für die Galerie der Me­dien und der Aktionäre« bestanden habe. Als Einzelunternehmer wolle er von dieser »rückgratlosen PowerPoint-Gesellschaft« wegkommen. Das ist allerdings gar nicht so einfach. Dominic Veken beschäftigt sich seit Jahren mit der Frage, wie Unternehmer einen Sinn finden und ihn leben können. Er arbeitet bei der Agentur Bright­House, die zur Boston Consulting Group gehört, außerdem lehrt er Unternehmensphilosophie an der Universität der Künste in Berlin. Dass der Begriff Pur­ pose so inflationär verwendet werde, sei eine »ziemliche Katastrophe«, sagt er. Oft handele es sich um oberflächliche Formeln, die nur dem Marketing dienten. Oder sie sollten plakativ Talente anlocken in einer Zeit, in der Fachkräfte oft gut bezahlte Stellen kündigen, um sich auf die Suche nach sinnstif-

Durch mein Unternehmen möchte ich die Welt zu einem besseren Ort machen, auch wenn ich damit auf Umsätze verzichte

tenden Jobs zu machen – ein Phänomen, das auch als Great Resignation bezeichnet wird. Wer aber als Unternehmer Sinn bieten wolle, sagt Veken, müsse herausfinden, welches Problem das Unternehmen in der Welt löse, und dafür die Wünsche und Bedenken von Eigentümern, Beschäftigten, Kunden und der Gesellschaft gleichermaßen ergründen. Das sei eine »archäologische Arbeit«. Aber nur so lasse sich ein Zweck finden, der »wie der Nordstern« Orien­ tie­ rung biete. »Einen Pur­pose zu definieren ist also nicht leicht«, sagt Veken, »aber ihn zu leben ist noch schwerer.« Das gelte gerade in Zeiten, in denen man globalen Krisen ausgeliefert sei »wie eine Flipperkugel«. Wie also halten ein Purpose oder ein Leitbild stand, wenn auf einmal ein Krieg tobt, die Preise für Energie und Rohstoffe steigen, Lieferketten reißen und ein Markt wegbricht? Werden die Werte zugunsten der Wirtschaftlichkeit hintangestellt – und tritt an die Stelle des Strebens nach einem höheren Sinn erst mal der Kampf ums Überleben? Die Situation sei komplexer, als sie manchem erscheinen möge. So sagt es Andreas Ronken, der Chef der Schokoladenfirma Ritter Sport, die ein Leitbild und Werte formuliert hat. Und einen Pur­pose, der lautet: »Das Richtige tun, um wirklich gute Schokolade zu kreieren«. Aber was gerade richtig ist,

sieht das Unternehmen anders als viele Menschen im Land: Ende März erklärte Ritter Sport, weiterhin Schokolade nach Russland zu liefern, seinem nach Deutschland wichtigsten Absatzmarkt. Dafür gab es viel Kritik, Ronken sprach sogar von einer »Hetzjagd«. Dabei habe man jahrelang faire und nachhaltige Lieferketten mit Kakaobauern in Westafrika, Mittel- und Südamerika aufgebaut – und viele von ihnen würden bei einem Lieferstopp für Russland »einen Großteil ihrer Existenzgrundlage« verlieren. Offenbar stehen ein Purpose und ein Leitbild einem En­ gage­ ment in Russland trotz des Kriegs nicht im Weg – sie können sogar dabei helfen, es zu rechtfertigen. Ganz ähnlich handhaben es die Bruchs aus St. Wendel. Eine Anfrage für ein Gespräch darüber, wie das Leitbild von Globus Orien­tie­ rung bei der Frage bietet, ob man im russischen Markt weiter präsent sein werde, hat die Firma zwar nicht beantwortet. Auf Nachfrage erklärt Globus aber schriftlich, dass man entschieden habe, die Investitionen in die Lebensmittelmärkte vor Ort »drastisch« zu reduzieren. Man konzentriere sich auf die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln, und dabei handele es sich fast nur um lokale und regionale Waren. »Somit hätte eine Schließung unserer Märkte ohnehin keine sanktionierende


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MITTELSTANDSSTUDIE PURPOSE

54 %

Kunden

möchten ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter motivieren, sich ehrenamtlich zu engagieren

60 %

89 %

Lebenspartner

82 %

Mitarbeiter

82 %

Geschäftspartner

81 %

Familie und Freunde Gesellschaft

finden, dass sich Unternehmer viel stärker über ehrenamtliches Engagement in die Gesellschaft einbringen sollten

Wirkung«, schreibt Globus. »Im Gegenteil: Die Gefahr, dass die Globus-Märkte zwangsverstaatlicht und autark weiterbetrieben würden, wäre hoch.« Zudem trage das Unternehmen ja für seine Verkäuferinnen und Kassiererinnen und deren Familien in Russland Verantwortung. Und wie wichtig sind wirtschaftliche Gründe? Das Geschäft in Russland war laut der letzten Firmenbilanz hochprofitabel. Diese Erträge seien in der Vergangenheit in neue Lebensmittelmärkte und die Mitarbeiter vor Ort investiert worden, Ausschüttungen an die Gesellschafter habe es nicht gegeben, schreibt Globus. Man verstehe sich »als Werte- und Verantwortungsgemeinschaft, in der Gewinne kein Selbstzweck sind, sondern Saatgut für die Zukunft«. Max Viessmann hat sein Purpose geholfen, eine radikale Entscheidung für die Zukunft zu treffen. Im März veröffentlichte der Chef des Heizungsbauers Viessmann auf Linked­In ein eindrückliches Bild. Darauf zu sehen: das Kiewer Büro- und Logistikzentrum, es steht in Flammen. »Bomben der russischen Armee haben es vollständig zerstört«, sagt der Unternehmer, der kurz nach Kriegsbeginn mit seinen Vorstandskollegen nach Polen flog, um seinen »Familienmitgliedern« – so nennt er seine 13.000 Beschäftigten – vor Ort zu helfen. Viessmann

Wessen Anerkennung Unternehmern wichtig ist

63 % 50 %

Anteil der Befragten in Prozent, die die Anerkennung der genannten Gruppen »sehr wichtig« oder »wichtig« finden

erzählt, wie Mitarbeiter angeboten hätten, die 40 Kolleginnen und Kollegen aus der Ukraine und ihre Angehörigen aufzunehmen. Und wie die Belegschaft, die Firma, die Viessmanns und ihre Stiftung zusammen mehr als eine Million Euro gespendet hätten. Schwieriger war eine andere Frage: Wie umgehen mit dem Geschäft in Russland, wo Viessmann seit 2015 Heizkessel herstellt? Gibt es einen Weg, den politischen Druck zu verstärken und zugleich der Verantwortung gegenüber den rund 200 Mitarbeitern am Standort Lipezk gerecht zu werden? Das sei »der Zielkonflikt«, sagt Viessmann. Und da kommt der Purpose von Viessmann zum Tragen. Er lautet: »Wir gestalten Lebensräume für zukünftige Generationen.« Fragt man Max Viessmann danach, wie dieser Zweck in Kriegszeiten sein Handeln prägt, fallen ihm mehrere Dinge ein. Er hat sich vorgenommen, in den nächsten drei Jahren eine Mil­liar­de Euro in die Produktion von Wärmepumpen und die Entwicklung grüner Klimalösungen zu investieren. Für mehr Klimaschutz, aber auch, um Europa geopolitisch unabhängiger zu machen, »beides hilft nachkommenden Generationen«. Schon am Tag nach der russischen Invasion entschied Viessmann, keine Waren und Ersatzteile mehr nach Russland zu liefern und keine Produkte mehr von dort zu bezie-

hen. Allerdings zahlt Viessmann seinen Beschäftigten in Lipezk weiterhin die Löhne aus. »Wir sind der Ansicht: Das ist Putins Krieg – und nicht der Krieg unserer Fa­mi­ lien­mit­glie­der«, sagt er. Und betont, dass ein Aspekt bei dieser Entscheidung keine Rolle gespielt habe: Umsatz und Gewinn, der eige­ ne wirtschaftliche Erfolg. Die Studie Die Mittelstandsstudie ist eine Initiative von ZEIT für Unternehmer und »In guter Gesell­ schaft – Stiftung für zeitgemäßes Unterneh­ mertum«. Die Stiftung wurde von den Ge­ schwistern Anke und Thomas Rippert aus­ Ostwestfalen gegründet, um verantwortungs­ bewusstes Unternehmertum zu fördern. Die Stiftung finanziert die Durchführung der Be­ fragung sowie ihre wissenschaftliche Auswer­ tung durch das Analyse- und Beratungsunter­ nehmen aserto. Die Ergebnisse werden der Re­ daktion in anonymisierter Form unentgeltlich zur Verfügung gestellt, auf ihre redaktionelle Veröffentlichung hat die Stiftung keinerlei Einfluss. Obwohl die Studie nicht repräsentativ sein kann, weil die Teilnehmer nicht zufällig ausgewählt wurden, spiegelt sie nach Einschät­ zung von aserto den deutschen Mittelstand gut wider und erlaubt verallgemeinerbare Aus­ sagen. Weitere Ergebnisse finden Sie auf Seite 34 und in Ausgabe 1/22.

ZEIT-Grafik

Wie wichtig Unternehmern Engagement ist


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Wie werd den wiir CO2-neutrall? Die Bundesregierung will es und viele Firmen arbeiten schon daran: Die Zukunft der Industrie soll CO2-neutral sein und von regenerativen Energien angetrieben. Rüdiger Saß vom Energiedienstleister STEAG verrät, wie diese „Marathonaufgabe“ für Unternehmen zu bewältigen ist.

Herr Saß, was raten Sie einem Unternehmen zuerst, wenn es CO2-neutral werden will? Da es um Einsparungen von CO2- und anderen Emissionen geht, muss ich zunächst die Emissionen quantifizieren und qualifizieren. Auch ein Marathon wird nicht in den ersten Kilometern gewonnen. Auf dem Weg der Dekarbonisierung haben wir ein Zwischenziel 2045. Um dieses zu erreichen, müssen wir bei den Einsparungen priorisieren: Was ist schnell erreichbar und wo sind die Lösungen vielleicht etwas komplexer; natürlich auch in Abhängigkeit vom gegebenen Budget. Und was folgt, wenn das alles erfasst ist? Dann empfehlen wir ganz konkrete Maßnahmen, wie die Emissionen zu reduzieren sind. Das kann ein Wechsel etwa der Wärmeversorgung sein, die Absenkung der Systemtemperatur, die interne oder externe Nutzung von Abwärme aus der Produktion oder die Nutzung innovativer Ansätze wie die „Mobilmachung von Abwärme“ mit einem Kraftblockwärmespeicher. Man kann aber auch bei einem energieintensiven Bereich wie der Druckluftbereitstellung ansetzen. Wenn man hier regenerativen Strom nutzt, lassen sich Emissionen schlagartig reduzieren. Es gilt: In jedem einzelnen erfassten Teilbereich muss individuell abgewogen werden, welche Maßnahme wirtschaftlich vertretbar umgesetzt werden soll. Und dafür steht eine wirklich breite Palette an Maßnahmen und Technologien zur Verfügung.

Sie bieten als STEAG ja solche Konzepte inklusive der Umsetzung an. Wie muss man sich Ihre Zusammenarbeit mit den Kunden vorstellen, die CO2-neutral werden wollen? Das kann sehr unterschiedlich sein. Es gibt den reinen Studiencharakter wie Konzepterstellung inklusive Maßnahmenempfehlung. Wir setzen aber auch gezielt auf langjährige Partnerschaften. Der Weg zur CO2-Neutralität ist kein Sprint, sondern ein Marathon. Nur so kann auch das Vertrauen der Kunden zu uns wachsen. Und erst dann sind wir wirklich in der Lage, gerade in der energieintensiven Produktion gezielte Maßnahmen zu implementieren. Denn die Produktion ist ja zurecht die Herzkammer jedes Unternehmens. Und da lassen die Unternehmer nur ungern Fremde reinschauen oder gar eingreifen. Wie erleben Sie solche Zusammenarbeit und die Motivation der Unternehmen? Generell muss ja jedes Unternehmen bis 2045 klimaneutral sein. Es gibt aber auch Unternehmer, die dies schon 2030 sein wollen. Hier wird also schon von der Unternehmensführung vorgelebt, wie Klimaneutralität und Nachhaltigkeit gehen und dafür werden auch eigene, ganz konkrete Vorstellungen entwickelt. Das strahlt natürlich auf die Mitarbeiter aus und erleichtert unsere Arbeit.


SCHWERPUNKT NACHHALTIGKEIT LAMMSBRÄU

Prost, ihr Pioniere! Regional vernetzt, bundesweit erfolgreich – auch in Krisenzeiten bewährt sich die Strategie einer bayerischen Ökobrauerei. Was können andere Unternehmer von ihr lernen? VO N D I ET M A R H . L A M PA RT ER

J Johannes Ehrnsperger ist überzeugt, dass Fairness und Nachhaltigkeit einen Preis haben sollten. Auch dann, wenn es um ein Produkt geht, das es in Deutschland in zahllosen Ausprägungen gibt: Bier. Aber deswegen mit Rabatten um Marktanteile kämpfen? Nein. An den Zutaten sparen, um Kosten zu senken? Niemals. Auf die Lieferanten Druck ausüben, um die Konditionen zu verbessern? Im Gegenteil! Die Kunden sollen ruhig mehr bezahlen, für Ehrnspergers Halbliterflasche leicht das Doppelte dessen, was mancher Wettbewerber verlangt. »Wir sind schon deshalb teurer, weil wir unseren Biolandwirten Preise zahlen wollen, von denen sie leben und mit denen sie der nächsten Generation einen gesunden Hof übergeben können«, sagt Ehrnsperger. Johannes Ehrnsperger ist Chef der erfolgsreichsten Biobier-Brauerei der Republik: Neumarkter Lammsbräu, Sitz in Neumarkt in der Oberpfalz, gegründet 1628, seit 1800 in Besitz der Ehrnspergers. Und, eigentlich, Teil einer Branche, der es gerade richtig schlecht geht. Die Lage der Brauer im Land sei »dramatisch«, sagt Holger Eichele, der

Hauptgeschäftsführer des Deutschen BrauerBundes in Berlin und damit Deutschlands führender Bier-Lobbyist. Lammsbräu ist eine von 1500 Brauereien im Lande, darunter Großkonzerne und viele kleine Gasthausbrauereien. Nach einem Einbruch im ersten Corona-Jahr ist der inländische Bierabsatz 2021 um weitere 3,4 Prozent gesunken. Und jetzt komme noch »eine nie gesehene Preisexplosion bei Rohstoffen, Energie und Logistik hinzu«, sagt Eichele. Der »Doppelschlag Corona und Ukraine-Krieg« bringe auch traditionsreiche Familienunternehmen der Bierbranche in Existenznot, die Kapitalreserven würden aufgezehrt. Eicheles bittere Erkenntnis in diesem Frühjahr: »Die Brauer stehen mit dem Rücken zur Wand.« Nur Johannes Ehrnsperger spürt davon wenig. Im Gegenteil: »Die Corona-Krise und der Ukraine-Krieg haben uns gezeigt, wie anfällig die Globalisierung ist und wie viel resilienter und widerstandsfähiger kleine lokale Strukturen sind«, sagt der 32-Jährige. »Darauf bauen wir seit 40 Jahren.« Die Ehrnspergers mögen ein Sonderfall sein, weil sie schon auf Nachhaltigkeit gesetzt haben, als darüber noch kaum geredet wurde. Aber sie sind eine Unternehmer­ familie, von der andere lernen können, selbst wenn sie keine Pioniere sind. All jene eben, die vor der Herausforderung stehen, sich mit ihren Nischenprodukten dauerhaft von der Massenware der Großindustrie abzuheben. Denn was in Neumarkt einst mit der Suche nach der bestmöglichen Qualität für Braugerste begann, hat sich zu einem engen Verbund mit den regionalen Rohstofflieferanten

entwickelt. Sie alle eint das Prinzip des nachhaltigen ökologischen Wirtschaftens. Nebenbei ist das Unternehmen ein­ Beispiel dafür, dass eine solche Strategie auch generationenübergreifend funktionieren kann. Denn neben Johannes Ehrnsperger – weiße Sneaker, per Du mit den Mit­ arbeitern von der Empfangsdame bis zum La­geristen – gibt es da den Senior: Franz Ehrnsper­ ger, 76, graues Haar, gerne mit Janker, eher Typ Patriarch. Trotzdem habe jetzt nicht mehr der Vater das Sagen, betont der Junior, heute alleiniger Eigentümer von Lammsbräu. Er führe den Betrieb aber teamorientiert, sein Vater sei jetzt »Sparringspartner und Rat­geber«. Der Senior nickt nur. Mag der Führungsstil unterschiedlich sein, bei der ökologischen Grundüberzeugung und dem Engagement für Umweltund Klimaschutz passt kein Bierdeckel zwischen die Generationen. Johannes nennt den Franz einen »Visionär«, der war es ja, der die Grundlagen des Erfolges gelegt hat, als er 1984 das erste Biobier in Deutschland braute. Er war damals unzufrieden mit der mit Kunstdünger hochgezüchteten Gerste, dem wichtigsten Rohstoff für das Braumalz. Also probierte er es mit Biogetreide. Heraus kam »das bessere Bier«, wie er sagt. Der Branche war Biobier seinerzeit suspekt, der Ökopionier wurde belächelt. Ja: sogar bekämpft. Schließlich gilt in ganz Deutschland das Reinheitsgebot, wonach ins Bier nur Wasser, Hopfen und Malz gehören. »Wozu braucht man dann noch Biobier?«, hätten die Kollegen ihn gefragt, erinnert sich der Senior beim Rundgang durch


Foto: Schmott für ZEIT für Unternehmer

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Man sieht es nicht, aber man soll es schmecken können: In das Bier von Lammsbräu kommen nur Biozutaten


die Mälzerei, das Sudhaus und die Lagerkeller, vorbei an neuen glänzenden Edelstahltanks und Abfüllanlagen. Zugegeben: Lammsbräu ist mit 32 Millionen Euro Umsatz im Jahr 2021 zwar immer noch klein im Vergleich zu heimischen Großbrauern wie Radeberger, Bitburger oder Krombacher, die ihre Produkte bundesweit anbieten, aber mit Abstand Marktführer bei den Biobier-Marken. In den letzten zehn Jahren habe sich der Getränkeabsatz verdoppelt, berichtet der Junior. Nicht schlecht in einem Land, in dem zwar der Absatz alkoholfreien Biers langsam steigt, der ProKopf-Verbrauch von klassischem, alkoholhaltigem Bier seit Mitte der Achtzigerjahre aber drastisch gesunken ist – von rund 150 Litern auf zuletzt knapp 84 Liter. Das ist, unglaublich, nur noch knapp die Hälfte. Sogar Corona haben die Oberpfälzer getrotzt: Der Umsatz der Brauerei stieg 2021 im Vergleich zum Vor-Corona-Jahr 2019 um gut elf Prozent, der Absatz von 257 auf mehr als 270 Hektoliter. 23 Biersorten braut Lammsbräu, mit und ohne Alkohol, Helles, Dunkles, Pils, Weißbier und sogar glutenfreie Spezialitäten, wobei es inzwischen mehr Getränke ohne Alkohol absetzt als mit. Dazu gehören seit 2009 Mineralwasser und Limonaden. In diesen Zeiten trägt auch die Diversifikation das Unternehmen, wobei die Produkte eines verbindet: »Alles zu hundert Prozent bio«, verspricht Johannes Ehrnsperger. Bringt man das Konzept der Ehrnspergers auf eine allgemeine Erkenntnis, so lautet sie: Mittelständler müssen mit ihren Produkten einen Mehrwert gegenüber der Massenware der Industrie bieten. Und diesen Vorsprung muss man ausbauen, um ihn zu erhalten: »Wir dürfen uns auf dem Pionierstatus nicht ausruhen ...«, sagt Franz Ehrnsperger, und sein Sohn führt den Gedanken etwas pathetisch weiter: »... es geht darum, immer besser zu werden mit Blick auf den Einklang von Genuss und Nachhaltigkeit.« Dabei ist noch etwas wichtig: Transparenz. Nur wer offenlegt, was er tut, kann die umweltbewusste Kundschaft überzeugen. Lammsbräu berichtet deswegen seit 1992 jährlich im Detail über seine Ökobilanz (siehe Kasten Seite 32).

Eine weitere Besonderheit des Unternehmenskonzepts zeigt sich in der Lieferkette. Schon in den 1980er-Jahren setzte Franz Ehrnsperger auf das Regionalprinzip: Alle Rohstofflieferanten sollten aus der Region kommen, um den Warenfluss transparent zu halten. »Vom Acker bis zum Glas« wollen sie Verantwortung übernehmen. Dafür über-

4380

Tonnen CO²-Äquivalente emittierte Lammsbräu 2020. Etwa eine Hälfte stammt von der Brauerei samt Fuhrpark, die andere Hälfte entstand entlang der Lieferkette

Franz Ehrnsperger, 76, hat seinem Sohn Johannes, 32, die Brauerei übergeben

2246

Tonnen betriebseigene Emissionen kompensierte Lammsbräu über zertifizierte Klimaschutzprojekte

zeugte Ehrnsperger Bauern in der Region, ihre Höfe auf Ökolandbau umzustellen. Er initiierte eine Erzeugergemeinschaft für ökologische Braurohstoffe, kurz EZÖB. Mühselig war es trotzdem, die Landwirte vom Verzicht auf Kunstdünger und Pestizide zu überzeugen. Erst 1995 bekam die Brauerei genügend Biogetreide und Biohopfen aus der Region, um komplett auf Biobier umzustellen. Aus anfangs zwei Ökobauern sind mittlerweile 182 geworden. Noch so eine

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Erkenntnis: Als Unternehmer hat man Einfluss auf die Unternehmen in der eigenen Lieferkette, wenn man Geduld mitbringt und das persönliche Gespräch sucht. Heute erhalten die Lieferanten von Gerste, Weizen, Dinkel und Hopfen allesamt die gleichen Fünf-Jahres-Verträge, in denen Liefermengen und Preise fixiert werden. Laut den Ehrnspergers liegt der Preis, den sie den Bauern für ihre Ware zahlen, bis zu 20 Prozent über dem üblichen Marktpreis für Bioware, und schon der war – zumindest bis zur jüngsten Preisexplosion – rund dreimal so hoch wie der für konventionelle Ware. Deswegen erleben die Bio-Pioniere auch keine gestörten Lieferketten bei Braurohstoffen – anders als das Gros der deutschen Brauereien, die von konventionellen Mälzereien versorgt werden. Die müssen seit Beginn des Ukraine-Kriegs für ihr oft kurzfristig gekauftes konventionelles Braugetreide schlagartig das Dreifache bezahlen. Bleibt die Frage, was die Bauern dazu sagen, wenn sie zwar selbst mehr für Diesel und Strom ausgeben müssen, aber in Fünf-­ Jahres-­Verträgen mit Lammsbräu stecken. Sind sie in eine Falle getappt, von der nur die Brauerei profitiert? Auftritt Karl Stephan, 52, Biobauer aus einem Dorf in der Nähe und Vorsitzender der EZÖB. Seinen kräftigen Händen ist anzusehen, dass er selbst anpackt. Er be­ stätigt, dass dieses nachhaltige Wirtschaften – Johannes Ehrnsperger nennt es »enkeltauglich« – funktioniert. »Unsere Fünf-­ Jahres-­Verträge rentieren sich für beide Seiten«, sagt er. Schließlich garantieren sie stabile Preise oberhalb des Marktniveaus und ermöglichen Planungssicherheit. Und weil Biobauern wie er ohne Kunstdünger und Pestizide auskommen, trifft sie auch der Preissprung bei diesen Produkten nicht. Stephan hatte schon auf Bio umgestellt, bevor er 1998 anfing, Lammsbräu zu beliefern. Als er mit dem Ökolandbau anfing, musste er »in der Wirtschaft« beim Bier noch regelmäßig fragen lassen, weshalb er keinen Kunstdünger einsetze, erzählt er. »Dös hat sich draht«, sagt er auf Oberpfälzisch – die Lage hat sich geändert. Der Milchbauer baut inzwischen auf 80 Hektar Getreide an, fünfmal mehr als zu Beginn, als er nur Futter für

Foto: Neumarkter Lammsbräu

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seine Kühe anbaute. Heute müssten sich die konventionellen Bauern oft die Frage gefallen lassen, warum sie noch Felder spritzen würden. Die gesellschaftliche Akzeptanz für grüne Ideen wachse stetig, sagt Stephan, »immer mehr Landwirte denken um«. Die Ehrnspergers haben diesen Trend mit geprägt – und sie profitieren von ihm. Die expandierenden Biomärkte lassen sich heute die ganze Palette an Ökolebensmitteln in einem Lkw anliefern. Über die Logistik der Bio-Fachgroßhändler konnte sich die Marke Lammsbräu »im Huckepack« nach und nach bundesweit ausdehnen. Und natürlich gibt es Lammsbräu grundsätzlich nur in Mehrweg-Glasflaschen, egal ob das Bier im Regensburger Bioladen oder im Hamburger Edeka-Supermarkt im Regal steht. Da man zu rund 85 Prozent an den Handel liefere, habe man den Ausfall im Geschäft mit den Gasthäusern während der Lockdowns mehr als kompensieren können, sagt Johannes Ehrnsperger. Durch die CoronaKrise hätten die Menschen zudem Zeit gehabt, über ihr Konsumverhalten nachzudenken, analysiert der Brauer und Betriebswirt. Natürlich, und das muss einmal deutlich gesagt werden, hat die Strategie auch einen Preis. Die Kunden zahlen mehr fürs Bier – und trotzdem muss Lammsbräu Kompromisse bei der Marge machen; wäre man nicht so radikal ökologisch, könnte man womöglich mehr verdienen. Aber die Ehrnspergers haben sich bewusst dagegen entschieden: Lammsbräu sei zwar ein gewinnorientiertes Unternehmen, sagt der Junior, aber nicht auf Gewinnmaximierung bedacht. Ein Beitrag zum Gemeinwohl, vor allem durch die Förderung der ökologischen Landwirtschaft, gehöre zu den zentralen Firmenzielen. Wie viel Lammsbräu genau verdient, das möchte der Brauereichef – trotz aller Transparenz – allerdings nicht verraten. Nur so viel: Es kommt genug dabei rum, dass man gerade einen zweistelligen Millionenbetrag in energiesparende Technik und Logistik investieren konnte. In all den Jahren mussten die Ehrnspergers ihre Bio-Strategie immer wieder auch vor Gericht verteidigen. 1987 wehrte der Senior den von den Brauereiverbänden unterstützten Versuch ab, die Bezeichnung

»Biobier« als unlautere Werbung verbieten zu lassen. 2012, als Lammsbräu begonnen hatte, aus dem eigenen Brunnen direkt unter dem Brauereigebäude gefördertes Wasser in der Region als Biomineralwasser zu vermarkten, verteidigten sie dieses Prädikat zum Ärger der etablierten Konkurrenz sogar erfolgreich vor dem Bundesgerichtshof.

Die Klimaziele Was Lammsbräu selbst tut 1992 legte Lammsbräu den ersten »Öko-Controlling-Bericht« vor, seit 2017 dokumentiert die Brauerei zudem alle drei Jahre nach den strengen Standards der Global Reporting Initiative den Einsatz für die Nachhaltigkeit. Laut dem jüngsten GRI-Bericht konnte Lammsbräu seit 2012 pro produziertem Hekto­liter 24 Prozent der anfallenden Emissionen einsparen. Wie Lammsbräu anderen hilft Lammsbräu arbeitet seit 2021 bei einem Projekt von zehn Firmen unterschiedlicher Branchen mit, das Experten der Uni Kassel und der Verband Klimaschutz-Unternehmen angestoßen haben. Hierbei werden »maßgeschneiderte Fahrpläne zur Klimaneutralität« entwickelt. Herauskommen sollen auch »Leitlinien, die Betrieben anderer Größen und Branchen helfen können«.

Zuletzt haben sich die Ökounternehmer in Sachen Biomineralwasser mit zwei Weltkonzernen angelegt. »Eine mutige Entscheidung meines Sohnes«, lobt der Senior. Johannes Ehrnsperger hat gegen den Lebensmittelriesen Danone und das zum weltweit führenden Prüf- und Zertifizierungskonzern SGS gehörende Institut Fresenius geklagt. Letzteres hatte das Danone-Mineralwasser Volvic mit dem Prädikat »Mineralwasser in Bio-Qualität« geadelt. Die Oberpfälzer mo-

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nierten, dass das Wasser aus den Vogesen nicht dem entspreche, was der Verbraucher von Biolebensmitteln erwarte. In zweiter Instanz hatten sie vor dem OLG Frankfurt Erfolg. Danone darf das Bio-Zertifikat nicht mehr auf die Volvic-Etiketten drucken. Berufung wurde nicht zugelassen, doch die Konzerne fechten das an. Aktuell warten die Ehrnspergers auf die Entscheidung. Und dann ist da noch eine Achillesferse. Die Wärme, die Lammsbräu für die Braukessel und die Flaschenspülanlage braucht, werde noch mit Erdgas erzeugt, räumt Johannes Ehrnsperger ein. Man plane deshalb, die komplette Dachfläche der Braustätte, 3500 Quadratmeter, mit Solarpanels zu bedecken. Schließlich habe man sich als erstes mittelständisches Unternehmen der Lebensmittelbranche in Deutschland zur Einhaltung des Klimaziels von 1,5 Grad verpflichtet. Bis 2030 müsse man die CO₂-Emissionen noch um gut 40 Prozent senken. Und es reicht den Ehrnspergers nicht, ihr eigenes Unternehmen klimafreundlicher zu machen. Lammsbräu beteiligt sich an der mittel­ ständischen Initiative »Klimaschutz-Unternehmen« (siehe Kasten). Johannes Ehrnsperger hat nämlich große Ziele: Die Landwirtschaft soll irgendwann zu 100 Prozent auf ökologischen Anbau umgestellt werden. Deswegen will er zukünftig auch honorieren, wenn Biobauern mehr für den Schutz von Boden und Wasser tun, als sie es nach den Regeln des Ökolandbaus tun müssten. Dann gebe es irgendwann auch zu 100 Prozent Biobier in Deutschland, sagt der Unternehmer. Ein weiter Weg: Aktuell liegt der Marktanteil des Biobiers in Deutschland noch unter einem Prozent. Hinter der Geschichte Unser Autor besuchte den Braumeister Franz Ehrnsperger erstmals 1990, damals hatte eine Expertenrunde die Brauerei gerade zu einem ökologischen Vorzeigunternehmen gekürt, aber es fehlte noch an Ökobauern in der Region, bei denen er Getreide kaufen konnte. Und Ehrnsperger trennte sich damals von einem Braumeister, weil der sich nicht mit den Biomethoden anfreunden konnte. Heute seien die ein Grund, warum Menschen bei Lammsbräu arbeiten wollten, sagt der Unternehmer.


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Nichts ist nachhaltiger als Europa Im Interview erklärt Günther Lindenlaub, Vorstand Unternehmenskunden und Märkte der Crowdfunding-Plattform Invesdor, welche große Rolle der „alte Kontinent“ in der modernen Geldanlage spielt. Herr Lindenlaub, wie wichtig ist Nachhaltigkeit im Bereich Crowdfunding? Lindenlaub: Nachhaltigkeit ist für die Kunden von Invesdor ein entscheidendes Kriterium für ihre Investments. Und da es unsere Mission als Anlegeplattform ist, Menschen dazu zu befähigen, die Zukunft aktiv zu gestalten mit einer Geldanlage in genau diejenigen Unternehmen, an die sie glauben, ist Nachhaltigkeit für uns ein wichtiges Thema. Ganz nebenbei sind wir auch selbst davon überzeugt, dass Nachhaltigkeit und Rentabilität sich mehr denn je bedingen. Welche Rolle spielt Ihr Fokus auf den Mittelstand? Lindenlaub: In Europa ist der Mittelstand das Rückgrat der Wirtschaft, das Innovation treibt und die meisten Arbeitsplätze schafft. Mittelständische Unternehmen haben allerdings kaum Zugang zum Kapitalmarkt, wie etwa in den USA. Das hemmt ihre Dynamik. Private Investoren können diese Dynamik rasch freisetzen – dafür benötigt es aber einen effizienten, technisch und regulatorisch leistungsfähigen Vermittler. Und das ist Invesdor. Invesdor sieht sich als europäisches Unternehmen. Warum eigentlich? Lindenlaub: Invesdor ist der Zusammenschluss von erfolgreichen Plattformen aus Deutschland, Österreich und Finnland zu einem Anbieter – was liegt da näher als sich als Europäer zu verstehen? Wir halten das Thema Europa aber noch aus einem anderen Grund hoch, der eher kultureller Natur ist. So weisen Europäer unter vielen Aspekten Gemeinsamkeiten auf: Die Sprachen ähneln sich oder sind weit verbreitet, zudem liegen die Wertebegriffe wie das jeweilige Verständnis von Wirtschaft und Demokratie sehr nahe beieinander. Das führt uns zu der Überzeugung, dass ein gewisser europäischer Home Bias vorliegt. Mit Home Bias wird die Neigung von Investoren bezeichnet, sich vorzugsweise am Heimatmarkt zu engagieren … Lindenlaub: Genau, und diese Vorliebe ist ja auch durchaus nachvollziehbar: Einen Markt, dessen Sprache ich spreche, dessen Gepflogenheiten mir geläufig sind und dessen wichtigste Player ich kenne, kann ich besser einschätzen als einen Markt, der mir gänzlich fremd ist. Und ein eigenes Urteil ist ein entscheidender Faktor für ein eigenverantwortliches Investieren. Also für genau das, was uns bei Invesdor am Herzen liegt. Dass sich die wirtschaftlichen Stärken einzelner Märkte unter einem gemeinsamen Wertedach ausspielen lassen, ist einfach ein riesiger Vorteil.

www.invesdor.de

Günther Lindenlaub

Vorstand Unternehmenskunden und Märkte

Wie äußert sich das? Lindenlaub: Dass die Stärkung von Europa und europäischen Werten mehr als nur eine politische Idee ist, zeigen die vergangenen Monate: Der Angriffskrieg Russlands hat den westlichen Ländern das große Risiko geopolitischer Unwägbarkeiten und die Fragilität internationaler Handelsbeziehungen vor Augen geführt. Die Verfügbarkeit von Rohstoffen wie Gas und Öl schien bis dato sicher – jetzt zeigt sich Europas Verwundbarkeit. Einen positiven Effekt hat dieser „Schock“ jedoch. Er zwingt europäische Politiker und Unternehmen dazu, längst überfällige Schritte zu tun. Zumal die Abhängigkeit von Öl und Gas nicht die einzige Herausforderung ist. Über Jahrzehnte haben westliche Unternehmen den Bezug von Rohstoffen und die Fertigung ihrer Produkte – und damit auch Arbeitsplätze – nach Asien verlagert, um Kosten zu sparen. Das muss jetzt radikal und rasch überdacht werden, vor allem da sich die zukünftige Rolle mancher Player wie etwa China noch gar nicht einschätzen lässt. Die Notwendigkeit eines starken und unabhängigen Europas ist deutlicher denn je. Wenn das gelingt, ist nichts nachhaltiger als Europa. Welche Schritte sind nötig, um diese Unabhängigkeit zu erreichen? Lindenlaub: Ein wichtiger Aspekt ist die Stärkung europäischer Wertschöpfungs- und Lieferketten. Die Einführung des Lieferkettengesetzes könnte in dem Zuge sicherlich einen Wendepunkt markieren: Das Gesetz verpflichtet Unternehmen auch bei ausländischen Geschäftspartnern zu kontrollieren, ob elementare Menschenrechte geschützt werden. Die Produktion im nichteuropäischen Raum wird teurer und ist somit, zumindest in dieser Hinsicht, kein Vorteil mehr. Apropos: Bei Invesdor unterstützen wir Unternehmen, die die Zukunft Europas nachhaltig positiv beeinflussen möchten, indem wir ihnen einen Zugang zu unserer Community und damit zu interessierten Investoren, Markenbotschafter oder sogar Kunden verschaffen. Auf der anderen Seite hat die Community die Chance mit ihren Investments einen schnellen und konkreten Beitrag zu leisten, Europas Wirtschaft nachhaltig zu stärken.


SCHWERPUNKT NACHHALTIGKEIT START-UPS

Was unterscheidet jüngere von älteren Unternehmern? Unsere Mittelstandsstudie liefert Hinweise Nicht nur die Klimakrise bereitet Jüngere Unternehmer empfinden jüngeren Unternehmern viele Herausforderungenmehr als Sorgen als älteren: besorgniserregender. Spaltung der Gesellschaft

Sie entwickeln grünes Methanol oder bieten Kameras zum Ausleihen an: Jungunternehmer mit nachhaltigen Geschäftsideen begeistern nun auch Investoren – und das liegt nicht an deren Idealismus

Klimakrise soziale Ungleichheit Rechtsruck

VO N CA RO LYN B RAU N

Pandemie-Folgen 0 25 - 44 Jahre

20

45 - 59 Jahre

40 60 % 60 Jahre und älter

Anteil der Befragten, die Anteil der Befragten, die die genannten die genannten Herausforderungen Herausforderungen als »besonders alsbesorgniserregend« »besonders besorgniserregend« empfinden empfinden Trotzdem blickten

87 %

der Jüngeren vor Beginn des Ukraine-Kriegs (sehr) optimistisch in die Zukunft. Unter den Älteren lag der Anteil bei nur

71 % Wenn Lösungder der Wenneses um um die die Lösung Probleme Jüngeren Probleme geht geht,ist ist den den jüngeren Unternehmern der Schutz der Nachhaltigkeit wichtiger als Umwelt wichtiger als den älteren: den Älteren. 25 bis 44 Jahre alt 45 bis 59 Jahre alt 60 Jahre oder älter

Da dreht sich was

64 % 58 % 44 %

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Bedeutung zumessen

I Im Sommer werden die Büros geräumt. Endlich. Es ist einfach zu eng geworden in den zwei Etagen des schmucklosen ehe­ maligen Fabrikgebäudes an der Berliner S-Bahn-Trasse von Ost nach West. Überall sitzen Menschen, plaudern oder tippen an improvisiert wirkenden Arbeitsinseln. Da­ zwischen Telefonzellen Marke Eigenbau, damit man wenigstens einigermaßen unge­ stört reden kann. Durch die offenen Fenster wehen die Melodien der Tanzschule von Detlev D. Soost – ja, genau: der aus der Casting-Show Popstars – und mischen sich mit dem Rattern der Züge und dem Hupen der Autos. »Wir platzen aus allen Nähten«, sagt Michael Cassau, der nun für seine junge Firma namens Grover wenige Kilometer entfernt in der Bülowstraße eine neue Zen­ trale gefunden hat: »Mit 6000 Quadratme­ tern ist das zehnmal so groß wie die Räume hier«, sagt der Unternehmer.

Cassau, 37, schwarzer Kapuzenpulli und schwarze Base­ cap, kann eine dieser Ge­ schichten erzählen, von denen BusinessSchool-Absolventen und Start-up-Investoren träumen. Eine Geschichte, die, wenn man sie genauer betrachtet, für einen grundlegen­ den Wandel in der Wirtschaft steht. Cassau war 30 Jahre alt, als er Grover – damals noch »Byebuy« – im Jahr 2015 gründete. Seine Idee: eine Art Netflix für Technik. Das Unternehmen kauft Elektro­ nikgeräte und vermietet sie über eine On­ line-Plattform an seine Abo-Kunden. Die zahlen dafür zwar nicht unbedingt weniger, als wenn sie die Smart­phones, Tab­lets und Kameras selbst kaufen würden. Bei einer Laufzeit von zwei Jahren wäre der Mietpreis sogar in etwa gleich hoch wie der Kaufpreis. Der Grover-Vorteil liegt in der Flexibilität: Man mietet nur so lange, wie man das Gerät braucht, und hat zusätzlich immer Zugriff


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Foto: Schmott für ZEIT für Unternehmer

Diese GoPro-Kamera hat Grover schon viele Male verliehen

auf die neueste Technik. Nach ein bis 24 Monaten geben die Kunden die Geräte zurück ans Unternehmen, Grover repariert viele von ihnen – derzeit sind es 1000 Reparaturen pro Monat – und verleiht sie erneut. Die Idee scheint zu funktionieren. 2021 überstiegen Grovers Abo-Einnahmen Firmenangaben zufolge 109 Millionen Euro, 149.000 aktive Abonnenten waren registriert, und die Zahl der aktiven Mieten lag bei über 250.000 – nach 440.000 im Mai des Vorjahres, als der Corona-Lockdown dem Unternehmen einen massiven Schub gegeben hatte. Wachstum überzeugt den Kapitalmarkt, im April sammelte Grover etwa 300 Millionen Euro von Investoren ein und verwandelte sich so zum »Einhorn« – also in ein Startup, das insgesamt von seinen Geldgebern mit mehr als einer Mil­liar­de Euro bewertet wird. In Deutschland gibt es davon laut

einem Report des Wagnisfinanzierers Atomico gerade einmal fünfzig. Wie viele Anteile die Investoren dafür an Grover übernommen haben, dazu schweigt die Firma. Das Besondere an Grovers Erfolg: Was beim Unternehmen für Umsatz sorgt, ist gleichzeitig gut für die Umwelt. Je länger die ­iPhones oder GoPros funktionieren, desto mehr Miete kann das Start-up dafür kassieren. Eine längere Nutzungsdauer führt außerdem dazu, dass die Geräte zirkulieren, anstatt in Schubladen zu verstauben oder als Elektroschrott zu enden. Zwei Jahre nach der Gründung wurde Grover daher in den exklusiven Kreis der CE 100 eingeladen. Darin versammeln sich besonders vielversprechende Unternehmen der Kreislaufwirtschaft, CE steht für Circular Economy. Dabei geht es darum, Materialien und Produkte so lange wie möglich zu teilen, zu leasen, wiederzuverwenden, zu reparieren und zu

recyceln. Und das fühlt sich nicht nur gut an, es schafft auch einen Wert, auf den viele Geldgeber neuerdings achten. Oder wie Cassau sagt: »Es gibt sehr viel mehr Investoren, die auch auf Nachhaltigkeit schauen, als vor sieben Jahren.« Viele Green-Tech-Unternehmer gehören wie Cassau zur Generation Y, sind also zwischen 1980 und den späten 1990er-Jahren geboren. Im Klimawandel sehen sie häufiger eine besorgniserregende Herausforderung als ältere Unternehmer, igeln sich deshalb aber nicht ein, sondern bieten mit ihren­ Ideen dem Klimawandel und dem Umweltfrevel die Stirn. Das zeigt die große Mittelstandsstudie von ZEIT für Unternehmer und der Stiftung »In guter Gesellschaft«, für die das Analyse- und Beratungsunternehmen aserto rund 100 Unternehmerinnen und 300 Unternehmer ausführlich befragt hat (siehe auch Seite 24).


SCHWERPUNKT NACHHALTIGKEIT START-UPS

Der Umfrage zufolge wirtschaften Unternehmer zwischen 25 und 44 Jahren anders als solche ab 60: Sie legen häufiger mehr Wert auf Kollaboration im Unternehmen, vertrauen dabei häufiger auf Tools, die die Teamarbeit erleichtern, sowie auf agile Arbeitsmethoden. Doch nicht nur ihre innovativen Arbeitsmethoden verbinden sie. Vor allem sagen 60 Prozent der Jüngeren, dass sie mit ihrer Firma die Welt zu einem besseren Ort machen wollen, auch wenn sie damit auf Umsätze verzichten. Unter den Älteren liegt der Anteil nur bei 47 Prozent. Aber ist das überhaupt noch ein Dilemma, vor dem Unternehmer mit nachhaltigen I­ deen stehen? Nicht aus Sicht von Investoren wie Energy Impact Partners oder Circularity Capital, die Grover mit ihrem Geld zum Unicorn gemacht haben. Das Start-up ist damit ein gutes Beispiel für sogenanntes Impact Investing, das Rendite und Weltrettung kom-

biniert. Und das liegt im Trend: Laut einer Studie der Bundesinitiative Impact Investing aus dem Jahr 2020 waren die vergangenen Jahre von einem »enormen dynamischen Wachstum, aber auch einer Diversifizierung des Marktes in allen Segmenten und Anlageklassen« geprägt. Allein von 2014 bis 2020 hätten Investoren ihren Kapitaleinsatz mit 884 Millionen Euro mehr als verzehnfacht, heißt es in der Untersuchung, die das Centrum für soziale Investitionen und Innovationen der Uni Heidelberg durchgeführt hat. Tim Schumacher, 45, ist einer jener Geldgeber, die ihr En­gage­ment ausgeweitet haben. Früher tickte er anders. Im Jahr 2001 gründete er Sedo, einen Online-Handelsplatz für Internet-Domains, und verdiente mit dessen Börsengang 2009 viel Geld. Das steckt er seither in Jungunternehmen, und zwar zunehmend in nachhaltige Geschäfte wie die ökologische Suchmaschine Ecosia des Gründers Christian Kroll, 38. Wie

Google verdient Ecosia sein Geld mit Werbung, finanziert damit aber Aufforstungsprojekte und dokumentiert das genau: Von 2,2 Millionen Euro Einnahmen flossen im März rund eine Million in Bäume. Gewinne sollen am Ende nicht übrig bleiben. Vergangenes Jahr schließlich hat Schumacher mit drei Partnern den »World Fund« aufgelegt, der mit 350 Millionen Euro Kapital der größte Klimafonds Europas werden soll, die Hälfte hat er schon zusammen. Bewerber gibt es reichlich, 1500 hat der Fonds seit dem Herbst 2021 gezählt – geplant sind aber nur 30 bis 40 Investments. Schumacher betont, dass es ihm nicht um Wohltätigkeit geht, sondern um das, was bei seinesgleichen Win-Win heißt: »Wir wissen, dass wir die Klimakrise nur bewältigen können, wenn wir den Anteil der Treibhausgase in der Atmosphäre schnell und signifikant reduzieren.« Dafür müsse die Wirtschaft dekarbonisiert werden. »Damit


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steht ziemlich sicher fest, dass all die Startups und Technologien, die uns dazu verhelfen werden, zu den wertvollsten Unternehmen der nächsten Dekade gehören werden.« Bisher gibt es fünf Unternehmen, denen die World-Fund-Analysten dieses Potenzial zutrauen. Zum Beispiel Juicy Marbles, das pflanzenbasierte Steaks erfunden hat und produziert. Und Freshflow, einen Anbieter einer Soft­ware für Lebensmittel-Frischware, die mithilfe künstlicher Intelligenz Nahrungsverschwendung abbauen soll. Das klingt alles zukunftsweisend, doch es reicht nicht, um an Geld zu kommen. Einem Investment gehe eine harte Prüfung voraus, sagt Schumacher. Zum einen müssen alle Start-ups die Messlatte der vom World Fund gesetzten ESG-Kriterien erfüllen, also erst mal beweisen, dass sie zum Beispiel ressourcenschonend arbeiten und ihre Mitarbeiter gut behandeln, ihr Geschäft also nachhaltig betreiben.

Zum anderen geht es um den Impact, also darum, wie das Geschäft die Welt verbessern kann. In diesem Fall: durch Klimaschutz. »Den Impact messen wir auf kurze Sicht, also auf die ersten drei Jahre nach dem Investment, und langfristig auf das Jahr 2040 bezogen«, erläutert Schumacher. Für beides habe der World Fund eine­ eigene Methode entwickelt. Den Ansatz, mit dem ins Jahr 2040 geblickt wird, haben die Manager CPP – Climate Per­for­mance Potential Assessment – getauft. Dabei haben sie gelernt: Um den Einfluss der Technologie auf den Markt und alle Beziehungen zu anderen Lösungen vorauszusehen, erst recht auf lange Sicht, bräuchte man eine Glas­ kugel. Die Wirkung auf die Biodiversität, den Zustand der Ozeane, die Gesellschaft lässt sich kaum im Detail ermessen. Aber es gibt eine Größe, in der sich all diese Effekte spiegeln: die CO₂-Emissionen. Daher konzentriert sich der World Fund

darauf, die »total avoidable emissions« zu kalkulieren: eine Kennzahl, anhand derer sich die Wirkung verschiedener Ge­schäfts­ ideen vergleichen lässt. Die zentrale Frage, sagt Schumacher, sei: »Kann die Technologie, die das Start-up verwendet, dazu führen, dass wir damit ab 2040 mindestens 100 Megatonnen CO₂ pro Jahr einsparen?« Das sei gleichzeitig der zentrale Indikator für höchste finanzielle Rendite. Die Chancen, die Schumacher erkennt, sehen immer mehr neue Wagnisfinanzierer wie Planet A Ven­tures in Hamburg oder Revent in Berlin. 2021 flossen elf Mil­liar­den Euro in europäische Green-Tech-Gründungen – das sind zwar immer noch weniger als zehn Prozent der knapp 120 Mil­liar­den für die Start-up-Szene insgesamt, aber es ist eine Verdoppelung gegenüber 2020. Climatechs seien bereits seit 2014 erfolgreicher als der Gesamtmarkt, hat der Finanzdienstleister Cam­bridge Associates ausgerechnet.

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SCHWERPUNKT NACHHALTIGKEIT START-UPS

Jamie Butterworth glaubt, dass das am Wettbewerbsvorteil der Kreislaufwirtschaft liegt. Er ist Gründungspartner bei der Private-­Equity-­Ge­sell­schaft Circularity Capital, einem der Grover-Investoren. Und er ist ein geduldiger Mensch, denn diesen Vorteil und den Impact auszurechnen ist aufwendig. So aufwendig, dass die Berechnung in zwei Schüben stattfindet: Vor dem ersten Investment gibt es nur eine grundsätzliche Prüfung, bei der der Impact des Geschäftsmodells gegenüber den Wettbewerbern mit klassischen linearen Geschäftsmodellen definiert wird. Erst danach beginnt die Due Diligence, bei der diese Annahmen gemeinsam mit dem Start-up und externen Partnern validiert und quantifiziert werden. Nur wenn die Firmen diesen Test bestehen, wird Circularity Capital weiter investieren. Bei Grover sah es so aus: 2018 arrangierte der Investor eine Finanzierungsrunde in Höhe von 37 Millionen Euro für das Unternehmen. Und 2021 legte er als Teil einer 60-Millionen-Euro-Runde nach. Grovers große Finanzierungsrunde in diesem Jahr wurde dagegen von Energy Impact Partners angeführt, einem ImpactInvestor, der sich auf CO₂-Reduktion konzentriert. Nazo Moosa, dortige ManagingPartnerin und Aufsichtsrätin bei Grover, arbeitet seit zwei Jahrzehnten im Investmentgeschäft. Tatsächlich sei Impact Investment zu Beginn mit Philanthropie zu vergleichen gewesen, sagt sie: Man investiert aus Überzeugung, verdient aber nichts damit. Später hätten Impact-Investoren eine Zeit lang bestimmte Sektoren, die als schädlich angesehen wurden, vermieden. Inzwischen habe sich die Erkenntnis breitgemacht, dass sich damit tatsächlich Geld verdienen lasse. Folgt man der Spur des Geldes von Energy Impact Partners, stößt man auf eine interessante Entdeckung: Das Kapital stammt von Konzernen, die aus strategischen Gründen nachhaltige Investments tätigen, etwa der US-Strom-und-Gas-Anbieter D ­ uke Energy oder die französische Elektrizitätsgesellschaft EDF. Also Firmen, die Öko-Aktivisten durchaus kritisch sehen; EDF etwa betreibt 56 Atomreaktoren, die zwar kein CO₂ emittieren, aber von Natur-

schützern aufgrund ihrer radioaktiven Abfälle trotzdem sehr kritisch gesehen werden. Aber neue nationale und europäische Vorgaben schaffen auch für solche Firmen Anreize, nachhaltig zu investieren. Genau wie Pensionsfonds und Kleinanleger. Ein kleiner Teil der neuen Mittel ist gerade bei C1 gelandet, dem neuesten Unterfangen von Christian Vollmann. Der 44-Jährige hat sich als Business-Angel an über 70 Gründungen beteiligt. Zu seinen

60 % der 25- bis 44-jährigen Unternehmer würden auf Umsätze verzichten, um die Welt zu verbessern (ZEIT-Mittelstandsstudie)

eigenen Unternehmungen zählen das Dating-Portal eDarling oder die Video-Plattform MyVideo. Dabei handelt es sich um Ideen, die er mit dem Geld der umstrittenen Samwer-Brüder als Nachahmungen anderer Firmen (»Copy­cats«) startete und bei denen Nachhaltigkeit keine Rolle spielte. Doch 2014 begann Vollmann umzudenken: Er gründete das soziale Netzwerk nebenan.de, zu dem die gemeinnützige nebenan.de-Stiftung gehört, die sich für nachbarschaftlichen Zusammenhalt einsetzt. Seither will Vollmann mehr tun, als nur schnöde Geld zu vermehren: »Einmal Impact-Gründer, immer Impact-Gründer«, sagt er. Seine Kinder hätten ihn zum Klimawandel so lange ausgefragt, bis er beschloss, für den Klimaschutz aktiv zu werden.

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Die Idee von C1 ist, mit Hochleistungsrechnern – Quantencomputern – chemische Verfahren zu simulieren, die erneuerbare Rohstoffe und Energien verwenden. Das beschleunigt und vergünstigt die Entwicklung klimafreundlicher Methoden, weil nicht mehr eine Vielzahl von Verfahren im Labor ausprobiert werden muss, bevor das beste gefunden ist. Der erste chemische Prozess, den C1 nach eigenen Angaben so entwickelt und mit Wissenschaftlern zur Marktreife bringen will, ist ein Verfahren zur Herstellung von Methanol, das »deutlich effizienter und nachhaltiger« sein soll als andere Methoden. Ab 2024 soll dieses grüne Methanol in dezentralen Anlagen aus überschüssiger Biomasse, Altplastik oder Kohlen­ dioxid und Wasserstoff produziert werden – und die Chemie-Industrie so unabhängiger machen von Öl, Gas und Kohle. Der Plan passt also aus einer ganzen Reihe von Gründen in die Zeit – und hat schnell Fans gefunden: In einer Finanzierungsrunde haben Geldgeber fünf Millionen Euro in C1 investiert. Darunter ist – neben namhaften Industriemanagern wie dem ExBASF-Chef Jürgen Hambrecht und dem Siemens-Aufsichtsratsboss Jim Hagemann – der Hamburger Impact-Investor Planet A. Solche Geldgeber an Bord zu holen »wäre vor zehn Jahren nicht möglich gewesen«, sagt Vollmann, »da haben die deutschen Investoren ihr Geld noch am liebsten in Copycats gesteckt«. Ihm sei klar, dass die Idee von C1 ein »moon­shot« sei, ein visionäres, bahnbrechendes Projekt also, dessen Erfolg alles andere als sicher ist. Dennoch hätten sich die Investoren darum gerissen. Heute ist es sogar schon so, dass das Geld der Wagnisfinanzierer den Willen zur Nachhaltigkeit noch verstärken kann. Michael Cassau von Grover sagt, er habe den Aspekt der Nachhaltigkeit bei der Gründung nicht auf dem Schirm gehabt: »Ich habe einfach an die Geschäftsidee geglaubt.« Heute ist das anders. Cassau weiß inzwischen ziemlich genau, welchen Impact Grover erbringt: Eine ganze Abteilung trägt die Daten zusammen, mit denen er den Beitrag zur Weltrettung messen will. Auch weil die Investoren genau wissen wollen, was ihr Geld bewirkt.


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SCHWERPUNKT NACHHALTIGKEIT SOLARENERGIE

Unter Starkstrom Dieter Ortmann ist Fotovoltaik-Unternehmer aus Waltershausen. Zu Besuch bei jemandem, der seit dem Ukraine-Krieg so volle Auftragsbücher hat, dass er Kunden vertrösten muss – oder gar nicht mehr ans Telefon geht VO N TO M S C H M I DTGEN

Solarmodule sind knapp und gefragt. Spiegelt man sie, wächst ihre Menge leider nur scheinbar


Foto: Schmott für ZEIT für Unternehmer

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Dieter Ortmann könnte den ganzen Tag telefonieren, so viele Menschen wollen gerade was von ihm. Besucht man ihn auf dem Dreiseitenhof in Waltershausen in Thüringen, in dem sein Unternehmen sitzt, dann steht er da im Gang – und redet in sein Smartphone. Wie er es schon zu Hause getan hat, kurz nach dem Aufstehen. Oder im Auto, mit dem er dann zur Arbeit gefahren ist. Oder später am Tag im Büro, als ihn ein Politiker anrufen und um Rat fragen wird. Warum das so ist, wird schnell klar, wenn man weiß, womit Ortmann sein Geld verdient. Auf dem Dach des früheren Bauernhofs reihen sich Solarpanels aneinander, im Innenhof steht Ortmanns Tesla. Der 54-Jährige ist Gründer und Geschäftsführer der Maxx Solar. Mit seinem Unternehmen projektiert er Fotovoltaikanlagen für Hausbesitzer und Gewerbekunden, außerdem betreibt er einen Großhandel für Solar­ panels und Speicher. Um den Stau an Anfragen und Aufträgen abzuarbeiten, braucht Ortmann Leute. 38 Mitarbeitende hat er schon, 13 Stellen sind offen. Für Elektriker. Elektrotechniker. Elektroplaner. Sogar »Quereinsteiger und Durchstarter« sucht er gerade, so steht es auf seiner Website. »Erweitere Deinen Horizont in einer der spannendsten und schnell wachsenden Branchen«, steht da. Und: »Sofort den Sinn in Deinen Aufgaben und Deiner Arbeit sehen«, das sei bei der Solarfirma möglich. Zwei neue Mitarbeiter hat er gerade gefunden, um neun Uhr an diesem Tag ist ein Treffen mit ihnen angesetzt, kurze Begrüßung, ein paar Worte zur 2008 gegründeten Firma. Dann sagt Ortmann ihnen im Stakkato, warum Solarenergie sich für Kunden lohnt, er wirft mit Zahlen um sich, rechnet auf seinem Smartphone etwas vor, redet über Renditen und return of invest. All das sollen seine Mitarbeiter den Kunden auf einer »Bierdeckelrechnung« erklären können, also so einfach wie möglich. Im Detail müsse man den Kunden den Nutzen einer Fotovoltaik­ anlage auf dem Dach gar nicht mehr erklären. Sie wollen einfach nur unab­ hängiger von den steigenden Energie­ kosten werden. Koste es, was es wolle.

»Vertrieb haben wir früher mal gemacht«, sagt Ortmann. »Heute geht’s nur noch um die Unterschrift.« Es sei doch so: Für viele Hausbesitzer müsse sich eine Anlage nicht einmal mehr rentieren, hat Ortmann beobachtet. »Die meisten wollen Notstrom«, erklärt der Unternehmer. Er liefert ihnen dann zusätzlich zur Fotovoltaikanlage Speichermodule, mit

»Jetzt wollen sie alle Solardächer. Aber das können wir gar nicht bedienen« Dieter Ortmann

50 Mrd.

Kilowattstunden Solarstrom wurden 2021 in Deutschland produziert. Laut Umweltbundesamt wächst die Menge zu langsam, um die Klimaziele der Bundesregierung zu erreichen

denen sich die Stromversorgung zu Hause aufrechterhalten lässt, falls aus dem Netz kein Strom mehr kommt, weil zum Beispiel Hacker ein Umspannwerk lahmgelegt haben. Notstrom, das ist Ortmanns Verkaufsschlager aktuell, auch wenn so eine Batterie etwa 4000 Euro kostet. Viele Unternehmen und Privatleute wollen jetzt ihren Strom selbst produzieren, jeder vierte Hausbesitzer will dieses Jahr in

eine Solaranlage investieren, das belegen Zahlen des Marktforschungsinstituts Appino. »Seit dem Krieg drehen die Leute durch. Jetzt wollen sie alle Solardächer«, sagt Ortmann, »aber das können wir gar nicht bedienen.« Aktuell, überschlägt Ortmann, muss sein Team jeden Kunden im Schnitt etwa durchschnittlich zwei Wochen warten lassen – auf eine erste Rückmeldung wohl­ gemerkt. Wer bei dem Waltershausener Unternehmen anruft, wird direkt von einer Stimme vom Band vorgewarnt. Auf der Website seiner Firma steht ein gelbes Banner, ein »Gedulds-Update«: Man freue sich über jede Anfrage, aber wegen der schieren Menge sei es »leider derzeit nicht möglich, Ihnen zu antworten«. Ein Mitarbeiter telefoniere ständig Wartelisten ab, falls jemand abspringt. Etwa 400 Kunden bedient Ortmanns Firma im Jahr, 50 davon sind gewerbliche Kunden. Dieter Ortmann kennt auch noch die Zeiten, in denen das Geschäft härter war. »Die Solarbranche war lange in Verruf«, sagt der Unternehmer. Zwar löste das Erneuerbare-Energien-Gesetz nach dem Jahr 2000 einen Boom aus, weil es festlegte, dass grüner Strom über die EEG-Umlage vergütet wird. So wuchs auch die Solar­ industrie in Deutschland, Hersteller wie Solarworld und Q-Cells stiegen zu Weltmarktführern auf. Ab 2012 aber wurde die Förderung schrittweise beschnitten, in Deutschland gingen viele Unternehmen pleite, auch weil die Konkurrenz in China laufend günstiger produzierte. Von einst mehr als 150.000 Beschäftigten in der Solar­industrie im Jahr 2011 ist heute nur knapp ein Drittel übrig. Das waren auch für Ortmann keine guten Jahre, weil weniger Solarpanels verlegt wurden als erhofft. Ortmann redet sich in Rage, wenn er über die Berliner Politik dieser Jahre redet. Von Unternehmen wie seinem, erzählt er, hätten in der Region nur die wenigsten überlebt. Er habe nur durchgehalten, weil er sich in dieser Zeit für einen neuen Markt interessiert hat am anderen Ende der Welt, in Südafrika. Auf dem Schreibtisch in seinem Einzelbüro, in das er aus dem Großraumbüro


ziehen musste, weil seine Leute fanden, er telefoniere zu viel, steht eine kleine Südafrika-Flagge, hinter ihm hängt ein Bild des Tafelbergs in Kapstadt, und auf dem Schrank: ein Bild von ihm mit der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel, mit der Ortmann auf ihrer Südafrika-Reise vor zwei Jahren unterwegs war. Ortmann sagt, er sei in das Land verliebt, seit er dort im Jahr 2000 einen Englischkurs besucht habe. Etwa drei- bis viermal im Jahr reist er nach Afrika, vor einem Jahr ist er sogar zum Honorarkonsul ernannt worden. Und vor zehn Jahren baute Ortmann in Südafrika einen Großhandel für Solarmodule und eine Solarschule auf, 3500 Menschen hätten dort schon gelernt, wie man beispielsweise Solar­panels montiert. Doch Ortmann will mehr: Seit eineinhalb Jahren baut Maxx Solar an einer­ virtuellen Solarschule im virtuellen Raum, dem Metaverse. Mit VR-Brillen sollen Schülerinnen und Schüler dort ein virtuelles Schulgebäude betreten und am Unterricht teilnehmen können, in dem sie­ lernen, wie man eine Fotovoltaikanlage installiert. Bildung sei der beste Weg, damit Entwicklungsländer Anschluss finden, sagt Ortmann, und sein Angebot sei sein Beitrag dazu. Die größte Herausforderung der virtuellen Solarschule sei die Datenmenge. Sein Lehrangebot müsse »buschfähig« werden, so sagt Ortmann das tatsächlich und mehrmals, damit Schüler­ innen und Schüler sich auch mit ge­ ringerem Datenvolumen einschalten können. Dann will er Tausende erreichen – und damit Geld verdienen. So sympa­ thisch Solarenergie vielen Menschen ist: Ortmann ist weniger Idealist als G ­ e­ schäftsmann. Jetzt: Auf in den Tesla, ab zu einem Außentermin, ein Rentner aus Ortmanns Nachbarschaft, deshalb fährt er noch­ persönlich hin. Auf dem Glastisch frischer Kaffee. Der Mann nimmt es genauer als andere Kunden, er hat ein Konkurrenz­ angebot eingeholt, nun soll Ortmann nachlegen. Ortmann montiert nur Module von Herstellern, die in Europa vertreten sind, der Konkurrent bezieht sie in China.

»Das würde ich nicht machen«, erklärt Ortmann. »Wenn das ein Garantiefall ist, hast du keinen Ansprechpartner in Deutschland.« Überzeugt. Weiter geht’s: Ortmann: »Willst du Notstrom?« Nachbar: »Hm. Brauche ich das denn?« Ortmann: »Das kann ich dir nicht sagen. Da tickt jeder anders. Manche wollen den Opel, andere den Mercedes. Aber mit

10­  % des hierzulande erzeugten Stroms stammten 2021 aus Fotovoltaikanlagen. Damit lag der Anteil doppelt so hoch wie 2012

Ortmann, 54, ist weniger Idealist als Geschäftsmann. Einst verkaufte er Aufsitz­ rasenmäher: »Da leuchteten die Augen«

beiden kommst du gut von Hamburg nach München.«­ Nachbar: »Dann den Mercedes bitte.« Dass Ortmann nicht nur Unternehmer, sondern auch ein beherzter Verkäufer ist, liegt wohl an seiner Biografie. In der DDR fing er mit einer Lehre zum Elektromechaniker an, brach die aber ab und arbeitete bei seinem Vater in einem Handwerksbetrieb. Nach der Wiedervereinigung absolvierte er

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eine Ausbildung zum Mechaniker und wurde anschließend Verkäufer von Gartentechnik. In den Nullerjahren machte er sich selbstständig und tüftelte am ersten AllradAufsitzrasenmäher, dem Maxx-Trac. Ortmann ist ein Tausendsassa, der viel ausprobiert und lieber neue Wege sucht, statt alte Pfade abzuwandern. Im Wirtschaftssystem der DDR wäre er damit wohl nicht weit gekommen, aber in der Marktwirtschaft konnte er sich entfalten. Ortmann zeigt Fotos des Rasenmähers, den er erfunden hat. Nachdem der in Serie ging, verkaufte er die Firma. »Nebenbei habe ich damals auch Solarplatten verkauft«, sagt Ortmann. Darauf baute er seine zweite Firma auf, Maxx Solar. Liebe auf den ersten Blick sei das nicht gewesen, dafür bieten Fotovoltaikanlagen zu wenig Erlebnis. Anfangs wollte er nicht das Klima retten, mit dem Vertrieb von Solarplatten ließ sich einfach viel Geld verdienen. »Wenn ich Kunden auf den Rasenmäher gesetzt habe, leuchteten die Augen«, sagt Ortmann. »Bei Solarplatten tut es nur weh, wenn man sie anfasst.« Mittlerweile weiß er, wie wichtig seine Arbeit für die Energiewende ist. Selbst in die Politik zu gehen kommt für den Honorarkonsul aber nicht infrage: »Ich mache zu ungern Kompromisse.« »Hey, Thomas!«, ruft Ortmann plötzlich in sein Telefon. Thomas Kemmerich, Thüringens früherer Kurzzeit-Ministerpräsident und Parteivorsitzender der Thüringer FDP, ruft an. Es geht um die Probleme der Branche und die Klimaziele. »Wir müssen so große Fotovoltaikanlagen wie möglich bauen«, sagt Ortmann. »Man sollte viel mehr auf Gewerbe gehen.« Dann dreht sich das Gespräch um die hohen Energiepreise und die Inflation. »Wer von meinen Mitarbeitern mit dem E-Auto kommt, spürt nichts von dem ganzen Zirkus.« Voraus­ gesetzt, sie tanken eigenen Solarstrom. Nach etwa 20 Minuten ist das Gespräch zu Ende. »Jetzt hat parallel auch noch die Thüringer Umweltministerin eine E-Mail geschrieben«, sagt Ortmann hinterher und grinst. Wer den Unternehmer so erlebt, kann den Eindruck gewinnen, er macht bereits Politik, auch wenn er nicht im Landtag sitzt.

Foto: Guido Werner

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Wo geht’s zum Geld? Förderprogramme können Unternehmen dabei helfen, nachhaltiger zu werden – nur sind die Angebote leider kaum bekannt und erfordern oft viel Bürokratie VO N GÜ NT ER H EI S M A NN

findig zu sein wie Haase, der vor einigen Jahren einen Schwachpunkt in Laveranas Klimabilanz gefunden hat: das Werk Ronnenberg, am südwestlichen Stadtrand von Hannover gelegen. Der Gebäudekomplex wurde bereits in den 1970er-Jahren errichtet und seither niemals von Grund auf energetisch saniert, verbrauchte also zu viel Energie. Aber Haase konnte nicht viel tun, um das Objekt auf Energieeffizienz zu trimmen. Seine Firma war nur Mieter. Also entschied er vor zehn Jahren: Ein neues, eigenes Zentrum für die Produktion und den Vertrieb der Kosmetika müsse her. Haase suchte ein Baugrundstück und fand es in Barsinghausen, einer Kleinstadt am Nordrand des Deisters, 2017 rollten die Bagger an und errichteten ein Produktionsund Logistikzentrum, dem auch ein Bürotrakt angeschlossen ist. Ein Mammut­ projekt, Kosten: 30 Millionen Euro. Seit Anfang 2022 ist der Bau fertig – und Haase ist ziemlich stolz: Das Industrie- und Verwaltungsgebäude ist mit Mineralwolle gedämmt, die Beleuchtung übernehmen LED-Lampen mit besonders niedrigen Verbrauchswerten, Isolierfenster sind Standard. In der Produktion nutzt Laverana Maschinen und Anlagen mit intelligenter Steue-

rung. Eine ausgeklügelte Soft­ware sorgt dafür, dass Geräte, die nicht fortlaufend benötigt werden, nur bei Bedarf zu­ geschaltet werden; auf diese Weise lassen sich Leerlauf und Energieverschwendung vermeiden. In der Logistikhalle springt ein weitgehend automatisiertes Hochregallager ins Auge: Die Bremsenergie der Bedienungseinheit wird aufgefangen, gespeichert und dann im Betrieb erneut genutzt. Das ist besonders grün – und sparsam. Geld für nachhaltigere Gebäude Geholfen hat Haase beim Bau ein Angebot, das nur wenige Unternehmerinnen und Unternehmer kennen: ein Förderdarlehen der staatlichen Kf W-Bank über die Hälfte der Kosten. Die Zinsen dieses Kredits sind vergleichsweise günstig und liegen unter dem, was Geschäftsbanken in der Regel verlangen. Außerdem winkt ein Tilgungszuschuss, wenn es dem Unternehmen gelingt, mit dem neuen oder sanierten Gebäude dauerhaft mindestens 45 Prozent weniger Energie zu verbrauchen als vorher. Der Zuschuss wird dem Unternehmen gutgeschrieben, sobald das Vorhaben abgeschlossen ist.

Illustration: Pia Bublies für ZEIT für Unternehmer

Wenn man ein Unternehmen nachhaltiger machen will, hilft nicht allein die passende Überzeugung – man muss das auch praktisch umsetzen können. Bei Thomas Haase kommt beides zusammen. Zum Beispiel haben der 67-Jährige und sein Team genau ermitteln lassen, wie viel CO₂ sein Unternehmen einschließlich der Lieferkette ausstößt: 2020 und 2021 insgesamt 54.916 Tonnen. Und er hat einen neuen, nachhaltigeren Produktions- und Logistikkomplex gebaut und dafür ein Darlehen zu einem unschlagbar günstigen Zinssatz aufgetan. Thomas Haase ist ein Unternehmer, den man in Deutschland nicht unbedingt kennt, obwohl seine Produkte der Marke Lavera in vielen Badezimmern stehen: Haase hat 1987 die Firma Laverana mit Sitz in Wennigsen bei Hannover gegründet, einen der ersten Anbieter für Naturkosmetik in Deutschland. Bis heute mixt Laverana deshalb keine chemisch erzeugten Zutaten in seine Schönheitsmittel. Laveranas Nachhaltigkeitsanspruch sei »ganzheitlich«, sagt Haase, und umfasse »die gesamte Lieferkette – von der Rohstoffgewinnung bis zur Entsorgung der Verpackung durch unsere Kunden«. So weit muss man nicht gehen, um die Welt grüner zu machen. Aber es hilft, so


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Auf das Förderprogramm brachte Haase ein Tipp der Landesbank Hessen-Thüringen, mit der er seit vielen Jahren zusammenarbeitet. Die KfW will grüne Programme künftig noch stärker fördern, nach eigenen Angaben ist sie heute schon »Deutschlands größte Umwelt- und Klimabank« und hat 2021 für Umwelt- und Klimaschutz Gelder in Höhe von 46 Mil­liar­den Euro ausgezahlt. Geld für sparsame Maschinen Eine zentrale Rolle spielt die »Bundesförderung für Energie- und Ressourceneffizienz in der Wirtschaft«. Damit können Unternehmen innovative Produktionstechnologien finanzieren, die erheblich weniger Energie verbrauchen als die zuvor genutzten Anlagen. Gefördert werden da auch Verfahren und Lösungen, mit denen sich die anfallenden Mengen an Abluft, Abwasser und Abfällen reduzieren lassen. Je nach Art des Projektes gewährt die KfW Tilgungszuschüsse von maximal 40 bis 55 Prozent. Kleine und mittlere Unternehmen mit bis zu 250 Mitarbeitern erhalten bessere Konditionen als Großbetriebe. Geld für grüne Technologien Noch breiter gefasst als die Bundesförderung ist die »Klimaschutzoffensive für den Mittelstand«, die aus insgesamt sieben Modulen besteht. Förderfähig sind so unterschiedliche Dinge wie Windkraftanlagen oder grüne Informationstechnologie. Unternehmen bis zu einem Umsatz von 500 Millionen Euro können die Förderung beantragen. Die Anforderungen sind eher niedrig, dafür gibt es bei diesem Programm aber höchstens drei Prozent des Kredit­ betrages als Zuschuss. Geld für mehr Effizienz Und dann bietet die Förderbank die »Bundesförderung für effiziente Gebäude« (BEG) an. Damit können Firmen energiesparende Wohnhäuser finanzieren. Ein separates Teilprogramm können Unternehmen nutzen, um Fabrikhallen und Bürogebäude zu bauen oder Altbauten zu sanieren.

Beihilferecht beachten Viele der rund ein Dutzend Fördermaßnahmen für Mittelständler lassen sich kombinieren: Der Umweltbonus etwa, die staatliche Kaufprämie für Elektroautos, kann unter bestimmten Bedingungen um KfWKredite ergänzt werden. Allerdings müssen Unternehmen bei der Kombination von Förderprogrammen die beihilferechtlichen Obergrenzen beachten, die in der EU gelten.

DAS HUF HAUS

FEELING

Im Dschungel orientieren Nahezu jeden Monat wird ein neues Programm gestartet oder ein altes eingestellt. Auch die Konditionen ändern sich laufend. Zur Beratung geht man am besten zur Bank: Die hat am ehesten einen Überblick über den Förderdschungel. Ohnehin müssen die Unternehmen den Förderantrag bei ihrer Hausbank stellen; ein direkter Kontakt zur KfW ist im Allgemeinen nicht möglich. Formalien beachten Nichts ist einfach, wenn der deutsche Staat der Wirtschaft helfen will. Wer Geld von der KfW haben möchte, um etwa eine energieeffiziente Produktion aufzuziehen, muss genau beziffern, wie hoch die erzielbaren Einsparungen sind. Unabhängige Experten, die eine Zertifizierung der KfW vorweisen können, müssen sie bestätigen. Bei Laverana errechneten Gutachter, dass mit dem neuen Komplex pro Jahr 230.000 Kilowattstunden Strom und gut 80 Tonnen CO₂ eingespart werden können. Thomas Haase reicht das nicht. Laverana nutzt zwar bereits zu 100 Prozent Ökostrom aus Wasserkraft, will aber selbst klimaneutralen Strom erzeugen. Also wird auf dem Dach des Hallenkomplexes eine Fotovoltaikanlage installiert. Und dann sind da ja noch die 54.916 Tonnen CO₂, die Laverana und seine Zulieferer in die Atmosphäre gepustet haben. Das nur auszurechnen reicht Haase nicht: Laverana kauft Emissions­minderungszertifikate in Klimaschutz- und Entwicklungsprojekten in Peru, Kenia und Malawi, um den Ausstoß zu neutralisieren.

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EIN TAG MIT ... KERSTIN HOCHMÜLLER

Hochmüller in der Eingangshalle von Marantec. Ein Büro braucht sie nicht mehr

Scheuklappen runter Viel Ostwestfalen, reichlich Berlin, ziemlich viel zu tun: Wie eine Familienunternehmerin einen Weg sucht, ihre Firma zu modernisieren – und den Mittelstand gleich mit VO N M A N U E L H E C K E L

Als der große Moment des Tages kurz bevorsteht, wird es plötzlich hektisch im Hinterzimmer eines Ladenlokals in Berlin-Mitte. In einer halben Stunde soll Kerstin Hochmüller mit drei Mitstreitern vor einem zugeschalteten Publikum darüber sprechen, wie Mittelständler besser zusammenarbeiten

können, aber die Mägen knurren, und der Burger-Laden kann die Großbestellung so schnell nicht liefern. »Nimm mein Fahrrad«, ruft Hochmüller und wirft ihren Schlüssel einer jüngeren Mitarbeiterin zu. Es ist nicht das erste Mal, dass Hochmüller an diesem Tag improvisieren muss.

Die 54-Jährige ist Geschäftsführerin der Marantec-Gruppe, die Steuerungen und Antriebe für Tore herstellt – Garagentore, Schiebetore, Drehtore. Sie will den Hidden Champion aus dem Kreis Gütersloh in ein Vorzeigeunternehmen für einen modernen Mittelstand umbauen. Credo: Lieber voran-


Foto: Max Slobodda

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gehen als untergehen, wenn digitale Transformation und Fachkräftemangel zusammenkommen. Hochmüller pendelt dafür zwischen ostwestfälischem MaschinenbauKosmos und Berliner Start-up-Welt; bewegt sich permanent zwischen großer Vision und Mikromanagement. An diesem Frühlingstag hat die Initiative »New Mittelstand« zum »Summit« in die Hauptstadt geladen. Hochmüller gehört zu den Gründungsmitgliedern, unter den Unterstützern sind auch Bahlsen und Frosta. Erklärtes Ziel der Initiative: eine »nachhaltige Wirtschaft der Zukunft« gestalten – aus der Erkenntnis heraus, dass der Mittelstand in Deutschland erfolgreich, aber ziemlich angestaubt ist. Und längst nicht mehr so erfinderisch wie früher. Die Quote der Innovatoren ist laut der KfW von über 40 Prozent in den Nullerjahren auf 22 Prozent im Jahr 2020 gefallen – Zahlen, die Hochmüllers Initiative oft bemüht. Und deshalb fordert, die »Scheuklappen« abzunehmen und den Mittelstand »radikal innovativer« zu machen. Aber was heißt das konkret? Wie arbeitet eine moderne Unternehmerin, wie füllt sie diese Begriffe mit Leben? Begleitet man Kerstin Hochmüller einen Tag lang, dann bekommt man ein Gefühl dafür, wie das gehen kann – aber auch, wie anstrengend es ist. Kurz nach sieben, Hochmüller setzt sich auf ihr Leihfahrrad und radelt von ihrer Unterkunft – Motel One, nicht Adlon – zu einem Haus in der Berliner Torstraße, das so manches Start-up-Klischee atmet: siebter Stock, Altbau, ein Co-Working-Büro. Im Rucksack hat Hochmüller alles dabei, was sie braucht, um ihren Mittelständler mit etwa 100 Millionen Euro Umsatz und mehr als 600 Mitarbeitern von unterwegs aus zu führen, darunter ein Collegeblock, auf dem sie immer wieder Stichworte notiert, Begriffe umkreist und Gedanken mit Strichen verbindet. Hochmüller klappt ihren Laptop auf, erlaubt einen Blick auf ihren digitalen Terminkalender. Blau steht für interne Termine,­ Orange für Netzwerktreffen, Grün für Blöcke, in denen sie ungestört arbeiten möchte, Rot für private Dinge. Die Balance muss stimmen: »Ich gucke immer mal wieder auf

die Woche und darauf, ob die Farben gut verteilt sind«, sagt sie. Man lernt: Einen Mittelständler modern führen, das kann man heute von überall – es braucht kein Chefbüro mit Hochflorteppich und schalldichter Tür mehr. Mit blauen Terminen geht es heute los. Aus Wien grüßt der Marantec-Marketingleiter, zeigt Bilder von einem internen Dreh – zwei Marken innerhalb der Gruppe werden gerade zusammengeführt. »Da würde ich auch gerne etwas für Linked­In machen«, sagt Hochmüller. Auf der Plattform postet, likt und kommentiert sie permanent. Modernes Unternehmertum bedeutet für sie: präsent und ansprechbar sein. Kurze Zeit später berichtet der Produktions­leiter aus dem Stammwerk in Marienfeld nordwestlich von Gütersloh, eine Nachhaltigkeitszertifizierung steht an. Eine Handvoll solcher fixen Termine strukturieren Hochmüllers Woche, egal wo sie gerade den Laptop aufklappt. Am Stammsitz gibt es einen gemeinsamen Raum für das Führungsteam. Voll ist es dort selten: »Niemand erwartet mehr, dass ich im Büro bin«, sagt Hochmüller. Statt offener Türen gibt es ein offenes E-Mail-Postfach. Heute wird ein Unternehmens-Blog starten, in dem Mitarbeiter über Transformationsprozesse bei Marantec berichten sollen. Darum geht es in Hochmüllers nächstem Gespräch. »Legt doch bitte noch einen anderen Filter aufs Titelfoto des Blogs«, sagt sie. Der Pressesprecher auf dem Bildschirm nickt, ihr Projektleiter für Nachhaltigkeitsthemen ebenso – der sitzt mit im Co-­Wor­king-­Space. Das Logo überzeugt sie nicht völlig, aber sie winkt es durch. »Früher hätte ich das nicht ausgehalten«, sagt sie nach Ende der Videokonferenz. Sie hat gelernt, nicht überall die letzte Entscheidung zu treffen. Auch wenn die Farben zu grell wirken oder im Unternehmens-Blog ein paar Grammatikfehler auftauchen könnten. Hochmüller steht exemplarisch für einen neuen Mittelstand, der eher pragmatisch als perfektionistisch ist. Denn ihr Kalender ist schon so gut gefüllt. Das Unternehmen, das Hochmüller führt, liegt eine halbe Autostunde von Bielefeld entfernt: ostwestfälischer Mittelstand,

grundsolide; acht Produktionsstandorte, acht Vertriebsgesellschaften – und ein in Unternehmerkreisen bekannter Gründer: Michael Hörmann, Spross der GaragentorFamilie Hörmann. 1989 startete er den­ Betrieb für Elektromotoren, mit denen man Tore öffnet und schließt. Mittlerweile entwickelt Marantec Elektronik, Antriebe und vernetzte Geräte, um Garagen- und Industrie­tore zu bewegen. Ende der 1990er-Jahre engagierte der Gründer Kerstin Hochmüller als externe Marketingberaterin. Erst wurde sie seine Ehefrau – und 2013 Geschäftsführerin. Zuvor hatte ein familienfremder Geschäftsführer übernommen, als sich Hörmann zurückziehen wollte. Doch der brachte den Mittelständler nicht so voran, wie es sich die Gesellschafterfamilie wünschte. Hochmüller will nicht verwalten, sondern verändern. Ein bisschen aus innerem Antrieb. Aber auch, weil Marantec zu einer Firmengruppe gewachsen war, in der nicht mehr jeder wusste, was der andere so tut; und so etwas führt schnell dazu, dass die Kosten aus dem Ruder laufen und kaum noch neue I­ deen entstehen. Gute Ideen will Hochmüller heute auch in der Start-up-Welt finden. Statt des Titels Hidden Champion, den viele mittelstän­ dische Weltmarktführer stolz tragen, will sie ein »Open Champion« sein. Der Mittelstand, davon ist Hochmüller überzeugt, müsse sich öffnen, wenn er innovativ bleiben will – gegenüber jungen Gründern und etablierten Konkurrenten. Diese Haltung sorgt mitunter für Befremden, im eigenen Betrieb und in der Branche. Schließlich stellt Hochmüller so auch das Erfolgsrezept der letzten Generationen infrage. Immerhin: »Das Interesse an unserem Weg wächst«, sagt Hochmüller. Je härter der Preiskampf, je brüchiger die Lieferketten, je schwerer die Suche nach Fachkräften, desto mehr Familienunternehmer klopfen an; der Initiative New Mittelstand haben sich neben Bahlsen und Frosta eine ganze Reihe von Firmen angeschlossen. »Der Druck muss schon groß sein, bevor sich manche bewegen«, sagt Hochmüller. Die Herausforderung: der alten und der neuen Welt gerecht zu werden. Hochmüllers


Co-Geschäftsführer Andreas Schiemann reist an diesem Tag zu einem ehemaligen Konkurrenten aus der klassischen Industriewelt, um eine Zusammenarbeit auszuloten. Sie selbst war zuletzt oft in den USA, um dort ein neues Produkt auf den Markt zu bringen, mit dem beispielsweise Paketlieferanten ein Garagentor öffnen können. »An manchen Kooperationen habe ich zwei Jahre gearbeitet«, erzählt Hochmüller. In der Start-up-Welt geht das alles schneller. Auf dem kurzen Weg zum Mittagessen – quer durch die Co-Working-Küche, sieben Stockwerke runter und raus aus dem Hinterhof, rein ins koreanische Restaurant – pitcht ihr ein Organisator der New-Mittelstand-Initiative die Idee für ein gemeinsames Unternehmen. Kerstin Hochmüller hört zu, nickt, bedankt sich, ordert vegetarische Maultaschen und Grüntee. Und gibt zu bedenken: »Das müssen wir natürlich auch erst mit den Gesellschaftern besprechen.« Hochmüller ist beharrlich und diszipliniert. Auf dem Konferenztisch des Co-­ Working-Büros steht eine Schokoladenbox. Am Morgen hatte sie angekündigt, sie frühestens mittags anzurühren. Und tatsächlich: Erst nachdem sie vom Lunch wieder im temporären Büro im siebten Stock angekommen ist, greift sie zu. Eine Videoschalte in die Heimat steht an. An der Fachhochschule Bielefeld soll sie morgen eine Rede per Video halten, ein nervöser Student führt sie durch die Technik. Immer häufiger wird sie für solche Veranstaltungen angefragt, der energische Einsatz für ein neues Mittelstandsimage sorgt für Aufmerksamkeit. Wenn es wie in dieser Videoschalte mal nicht so richtig vorangeht, wenn jemand unnötig lange seine Gedanken erklärt, dann wippt Hochmüller mit den Beinen. Der Lohn: Unter den Studierenden kann sie am nächsten Tag für Marantec als Arbeitgeber werben. »Programmierer können wir immer gebrauchen«, sagt sie. In Sachen Pragmatismus kann sich der Mittelstand normalerweise viel bei der Start-up-Welt abschauen. Beim Bielefelder Start-up Valuedesk etwa, einer Plattform für besseres Kostenmanagement, war Marantec ein Pionierkunde. Doch als die Pandemie begann und bei Valuedesk die Um-

24 Prozent

mehr Umsatz als andere Firmen erzielen Mittelständler, nachdem sie eine Innovation realisieren

Anteil der Innovatoren im Mittelstand

42 % 40

22 % 20

0 2002/ 2004

2007/ 2009

2012/ 2014

2017/ 2019

171 Mrd.

Euro hat die deutsche Wirtschaft 2020 in Neuheiten investiert – 3,6 Prozent weniger als 2019

8 Prozent

weniger als 2020 wollen kleine und mittelgroße Firmen im Jahr 2022 für Innovationen ausgeben

sätze wegbrachen, übernahm Hochmüller kurzerhand für ein paar Monate einen Software-Entwickler des Start-ups in ihr Team – Zeitarbeit unter Freunden. Und jetzt, am frühen Nachmittag, taucht Valuedesk-Gründer Torsten Bendlin im Zoom-Call auf dem Berliner Bildschirm auf. Ein paar Jahre jünger als Hochmüller ist er, schwarzer Pullover, weiße Airpods im Ohr, große Begeisterung: »Kerstin ist die krasseste Unternehmerin, die ich kenne«, ruft Bendlin. Gemeinsam haben er und Hochmüller die Initiative »Unternehmerherz« gegründet. Die Idee: Gestandene Familienunternehmer sollen sich von ihresgleichen »challengen« lassen – welcher Kern steckt wirklich in ihrer Firma, wie würde man sie heute vielleicht anders bauen? »Es ist super, wenn Leute das ohne die Angst machen können, Aufträge zu verlieren«, sagt Bendlin. Um das Projekt größer zu machen, will Hochmüller ihre Kontakte in den Mittelstand von Ostwestfalen nutzen, sie notiert ein paar To-dos im Collegeblock. Jetzt wartet die finale Abendveranstaltung, einen Straßenblock weiter in den Büros der Initiative New Mittelstand. Nach fünf Minuten im Laufschritt atmet Hochmüller einmal tief durch. Sie weiß, in welchem Kühlschrank das Bier steckt, findet auch die Tüte Chips. Nach und nach gesellen sich die Mitarbeiter der Initiative dazu, alle eine knappe Generation jünger als Hochmüller. Mit ihren Nike-Sneakern, dem blauen Pulli und der Apple-Watch fällt sie in der Gruppe nicht auf. Um halb neun beginnt die Podiums­ diskussion via Stream. Lange Tage gehören zum Alltag, so ganz passen die zwei Welten der Kerstin Hochmüller nicht in einen Arbeitstag. Trotzdem ist sie in der Gesprächsrunde noch hellwach. Darin wird auf die Politik geschimpft, aber Hochmüller sieht auch die Unternehmer in der Verantwortung: »Alles wird gut, wenn wir dafür sorgen, dass es gut wird«, sagt sie in die Kamera. Der Stream endet, es folgt ein spätes Mahl mit Pommes, Burgern und Wein – dank der tatkräftigen Mitarbeiterin und Hochmüllers Fahrrad. Der letzte Chili-Lemon-Burger wird natürlich in der Gruppe geteilt.

ZEIT-Grafik, Quelle: Kf W, ZEW

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EIN TAG MIT... KERSTIN HOCHMÜLLER


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DIE ERFINDUNG MEINES LEBENS

Metin Colpan hat 2021 den Europäischen Erfinderpreis erhalten

Vom Labor an die Börse Metin Colpan ist der Mann hinter dem Aufstieg des Biotech-Pioniers Qiagen VO N CA RO LYN B RAU N

Die Idee Also sucht er nach einer Methode, um RNA – und DNA – aus einer Probe schneller zu isolieren. Mit Erfolg: Was bisher zwei bis drei Tage erfordert, geht mit seiner Erfindung in rund 60 Minuten. Ein Durchbruch. Denn jeder, der Gen­codes von Lebewesen erforschen will, muss zuvor die Biomoleküle der DNA und RNA aus Material wie Viren und Tierproben extrahieren. Dank Colpan geht das nun schneller – und günstiger.

Die Marktlücke Colpan sagt heute, die Bedeutung sei ihm sofort klar gewesen: »eine Erfindung wie die Eisenbahn, die die Welt verändern würde«. Der Mann, über den Wegbegleiter später sagen, er könne »Märkte riechen«, wusste, wie rasant sich die Gentechnik entwickeln und wie sehr sie auf schnelle und günstige Reinigungsverfahren angewiesen sein würde. Nur: »Eine Idee kann jeder haben«, sagt Colpan, »eine Innovation allerdings ist die Umsetzung einer Entdeckung in wirtschaftlichen Erfolg.« 1984 gründet Colpan mit seinem Professor Detlev Riesner und den Doktoranden Karsten Henco und Jürgen Schumacher in Hilden bei Düsseldorf eine Firma, aus der später Qiagen wird. Zweifler und Förderer Kurz nach der Gründung überzeugen Colpan und Henco den US-Biotech-Mentor Moshe Alafi. Er sagt drei Millionen Mark zu – vorausgesetzt, sie treiben die gleiche Summe noch einmal auf. »In der Stadtsparkasse Düsseldorf kannte aber niemand den Namen Alafi«, erzählt Colpan. Mit Mühe kratzen sie 2,5 Millionen zusammen, aber Alafi verdoppelt auf fünf. Es kann also losgehen. Die

Anfangsjahre sind hart, viele Deutsche lehnen Gentechnik ab. Also reist Colpan in die USA, um dort von Labor zu Labor zu ziehen. Die Forscher wollen kleinere Mengen, verpackt in handliche Plastikkartuschen. Ab da liefert Qiagen gebrauchsfertige Einweg-Kits: die Basis für die molekulare Dia­gnos­tik und den Aufstieg von Qiagen. Der Erfolg Heute steckt die auf Colpans Patent aufbauende Qiagen-Technik etwa in Vaterschafts- oder Covid-Tests. Sie wird eingesetzt, wenn Opfer einer Katastrophe identifiziert werden müssen oder die Kripo mit DNA-Tests nach Verbrechern fahndet. Die Technologie hat sich weiterentwickelt, genau wie Qiagen: 1996 geht es als erstes deutsches Unternehmen an die Nasdaq, 1997 dann an den Neuen Markt der Deutschen Börse. Seit 2021 ist es im Dax. Im selben Jahr wird Colpan vom Europäischen Patentamt mit dem Erfinderpreis für sein Lebenswerk ausgezeichnet. »Es war das richtige Produkt zur richtigen Zeit mit den richtigen Personen«, sagt er heute. Nur eine Sache bedauert er rückblickend: Anfang der 1990er keinen BWL-Kurs gemacht zu haben.

DIE NÄCHSTE AUSGABE VON ZEIT FÜR UNTERNEHMER ERSCHEINT AM 22. SEPTEMBER 2022

Foto: Tom Maurer/EOP

Die Irritation Es ist die Ungeduld, die Metin Colpan in den 1980er-Jahren antreibt. Der BiochemieDoktorand, 1955 in Istanbul geboren und in Hessen als Kind eines Gastarbeiterpaares aufgewachsen, untersucht damals Erreger, die Nutzpflanzen wie die Tomate befallen. Dazu muss er die RNA dieser Viroide, die kleiner sind als Viren, aus den kranken Pflanzen isolieren und reinigen. Wie die DNA ist die RNA ein Biomolekül, das bei bestimmten Virentypen Träger der Erb­ infor­ma­tion ist. Allerdings: Die RNA aus den fünf Tonnen Pflanzen zu extrahieren, die Colpan braucht, würde Jahre dauern. Viel zu lang, findet der junge Forscher.


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