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«Ein riesiger Hosenlupf!»

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Alle machen Musik

Alle machen Musik

Einst arbeitete Raphael Golta selbst als Betreuer im Flüchtlingsheim, heute ist er als Sozialvorsteher der Stadt aus der Ukraine, aber für alle anderen «ja nicht zu attraktiv» sein zu wollen. Dies aus Angst vor den asyl-kritischen politischen Kräften. Ukrainische Flüchtlinge wurden mit offenen Armen empfangen und privat untergebracht, die Flüchtlinge aus allen anderen Weltregionen wurden als «irreguläre Migranten» abgestempelt, obwohl man weiss, dass im Moment rund 60 Prozent von ihnen ein Aufenthaltsrecht erhalten. So wurden einem schwierigen Narrativ Tür und Tor geöffnet.

Zürich oberster Verantwortlicher für das Flüchtlingswesen. Was ihn in der Politik antreibt, warum es die Kirchen braucht und was ihm Mani Matter bedeutet, erklärt er im Gespräch.

Simon Spengler: 1998/99 haben Sie selbst als Betreuer in einem Asylheim in Schlieren gearbeitet. Was war Ihre Aufgabe?

Raphael Golta: Es war eine kleinere kommunale Unterkunft mit einigen Wohneinheiten. Übers Wochenende war ich als Student dort im Einsatz, damit die Bewohnerinnen und Bewohner am Abend und über die Nacht nicht allein im Haus waren.

Was haben Sie dort gelernt?

Vor allem, dass die unterschiedlichen Fluchtgründe und die Persönlichkeiten der Geflüchteten nicht schaurig viel miteinander zu tun haben. Es gibt im Fluchtbereich alles, wie auch sonst in der Welt: Sympathische und Unsympathische, Faule und Engagierte. Es ist also eine sehr heterogene Gruppe von Menschen.

Heute ist der Student von damals Sozialdirektor der Stadt Zürich und damit oberster Verantwortliche für das Flüchtlingswesen. Was hat sich unterdessen verändert?

Die Flüchtlingspolitik hat sich in vielen Bereichen doch positiv entwickelt. Ich denke an die beschleunigten Asylverfahren oder an die Integrationsagenda. Integration war damals noch viel weniger entwickelt. Es gab Sprachkurse, aber nicht viel mehr. Da hat sich einiges getan. Die Menschen wurden während der langen Zeit des Wartens auf einen Entscheid in den Unterkünften belassen und lebten dort teils über Jahre in einer ungewissen Zwischenwelt: Sollen sie sich hier integrieren, oder müssen sie bald schon wieder fort? Damit umzugehen, war für viele extrem schwierig.

Für Sie gab es also einen Fortschritt in eine positive Richtung?

Ich weiss, dass es auch Kritik gibt und genügend Verbesserungsmöglichkeiten, aber grundsätzlich ist es für die Betroffenen sehr wichtig, schnell zu wissen, wie es für sie weitergeht. Ausserdem haben wir auf Bundesebene die Integrationsagenda. Die Stadt Zürich war damals Vorreiterin, mittlerweile wird die Integration auch vom Bund finanziell unterstützt. Bis dieses Anliegen auf Bundesebene angekommen war, dauerte es allerdings sehr lange.

Also alles bestens in der Asylpolitik?

Das Asylwesen ist eines der umstrittensten Politikfelder. So schwingt das Pendel immer hin und her. Es gab natürlich auch Verschärfungen und neue Schwierigkeiten.

In welche Richtung?

In Richtung von mehr Abschottung und weniger Integration; lieber nicht zu viel investieren, damit nicht zu viele bleiben. Wir laufen gerade Gefahr, dass das Pendel sehr stark in diese Richtung schlägt.

Wo zum Beispiel?

Gerade im letzten Jahr hat auf der Ebene des Bunds die Planung nicht gut funktioniert, bezüglich der Unterbringung hat er auch zu passiv und zu langsam reagiert, vielleicht auch aus einer bestimmten politischen Haltung heraus.

Wie meinen Sie das?

Ich spreche von der Haltung, zwar sehr offen zu sein für Flüchtlinge

Wie wollen Sie das verhindern?

Indem wir transparent aufzeigen, wie die Situation ist, dass wir vor gigantischen Herausforderungen stehen. Wir haben es mit der grössten Flüchtlingskrise seit dem 2. Weltkrieg zu tun. Ein riesiger Hosenlupf!

Dann hat die SVP also recht, wenn sie von «Asylnotstand» spricht?

Nein, gar nicht! Unsere zweite Botschaft muss viel mehr sein, dass wir diese Situation bewältigen können, wenn alle ihre Aufgaben erfüllen und ihren Job machen. Wir müssen nur wollen.

Geld wäre in Zürich ja genug da, oder?

Geld ist aktuell tatsächlich nicht das prioritäre Problem. Es mangelt mehr am klaren politischen Willen. Und wir haben eher Ressourcenprobleme zum Beispiel bei den Unterbrin- gungsmöglichkeiten oder sehr stark auch bei der Rekrutierung von ausgebildetem Betreuungspersonal. Aber Geld steht nicht im Fokus. Nochmals: Bei uns sind ganz viele Menschen aus Afghanistan, Syrien oder aus der Türkei, die einen anerkannten Grund haben, zu flüchten. Wir müssen ihnen jetzt eine Perspektive bieten.

Wie nehmen Sie das Engagement der Kirchen im Flüchtlingsbereich wahr? Kirche ist für mich vor allem eine wichtige gesellschaftliche Stimme, die immer wieder anmahnt, dass wir es stets mit Menschen zu tun haben –und nicht mit «irregulären Migranten», «Wirtschaftsflüchtlingen» oder anderen Umschreibungen. Wir pflegen den Austausch mit den Kirchen.

Was könnten die Kirchen noch mehr tun?

Im Moment können wir Hilfe in allen Bereichen gebrauchen. Alle Initiativen, die den Menschen Strukturen und Austausch ermöglichen, sind sehr willkommen.

Die Kirchen leisten auch Seelsorge, in den Bundesasylzentren, neustens auch muslimische Imame. Wie wichtig ist die Seelsorge im Flüchtlingsbereich?

Je nach Herkunft und Kultur sind die Bedürfnisse natürlich unterschiedlich, aber ich bin sehr dankbar, dass die Religionsgemeinschaften diesen Dienst anbieten. Auch darüber, dass muslimische Seelsorge nun in den Bundeszentren etabliert werden konnte.

Sie haben mal Wahlwerbung gemacht mit dem Slogan: «Ich bin davon überzeugt, dass wir alle gewinnen, wenn die Schwächsten unserer Stadt bessergestellt werden!» Das tönt ja fast wie in der Bibel.

Ich denke dabei eher an Mani Matters Lied «Dene wos guet geit, giengs besser, giengs dene besser, wos weniger guet geit.» Aber ja, das ist der Ursprung meines ganzen politischen Engagements und meine tiefste Überzeugung. Deshalb empfinde ich es auch als Privilleg, dass ich im Sozialdepartement für die Menschen tätig sein darf, denen es nicht so gut geht.

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