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Neue alte Heimat

Von Susanne Altoè

Herr Zogg spielt auf seiner Mundharmonika «Es Buurebüebli» und «Oberschlesien, mein Heimatland». Frau Petrenko, die bei ihm auf dem Sofa sitzt, summt leise mit. Draussen bläst die Bise.

In einer Pause schweifen Herrn Zoggs Gedanken in die Ferne. Mit zitternder Stimme beschreibt er die Ereignisse: Seine Familie – Schweizer Auswanderer des 19. Jahrhunderts – waren 1945 unter Androhung von Gewalt mit vielen anderen vertrieben worden. Vorher hatte er erlebt, wie seine Schule an einem sonnigen Mittwochmorgen zerbombt worden war. Die Männer waren an der Front. Darum hatte er, der einen Traktor zu bedienen wusste, an jenem Morgen Baumaterial zum Bahnhof fahren müssen, statt in die Schule zu gehen.

Die Rettung erwies sich ohne schweres Gerät als unmöglich. Als Einziger sei er lebend davongekommen. In seinem Erzählen spiegeln sich Schock und Trauer, Dankbarkeit und Überlebensschuld. Schliesslich hatten roter Pass und Todesmut die Zoggs aus den endlosen Flüchtlingsströmen im Transportzug durch das Labyrinth des zerstörten Schienennetzes in die fremde Heimat Schweiz geführt. In einem Flüchtlingsheim seien sie interniert worden, erzählt Herr Zogg. Er schluckt und räuspert sich. Die Mundharmonika sei ihm geblieben –und die Musik.

Was uns Heimat gibt, besprechen wir bei Milchkaffee und Schoggicreme. Vom Loslassen, von den grossen Vertreibungen und von der kleinen, die der Weg ins Pflegeheim für manche bedeutet. Was bleibt? Was nimmst du mit? Was ist es, das die Katastrophen eines Menschenlebens überdauert?

Schweigend trinkt Frau Petrenko ihren Kaffee. Das Krankenhaus in Mariupol, wo ihr Hirntumor behandelt worden war, existiert nicht mehr. Unter dramatischen Umständen ist die Mutter von zwei Teenagern in die Schweiz gekommen. Tun kann man nichts mehr gegen den Tumor, sagten die Ärzte, aber ein wenig Frieden und Heimat geben könne man ihr noch… «Heimat?» Das Wort brennt in meinem Herzen.

Später sitzen wir allein da, Frau Petrenko und ich. Wir haben den gleichen Jahrgang. Ihre Sorge gilt den Kindern, die bald ohne Mutter sein werden, und dem Mann, von dem sie monatelang nichts gehört hat. «Vielleicht sterbe ich vor ihm, vielleicht auch nicht», versteht mein rostiges Russisch, «ich hoffe, Gott wird ihn beschützen!» Ich höre zu, und stimme ein in ihr Gebet: «Ja, Gott möge ihn beschützen!» Am liebsten möchte ich sie fragen, ob es etwas gibt, was ihr noch Heimat und Geborgenheit geben könnte. «Absurd», denke ich und schweige. Viel Kraft hat Frau Petrenko ja nicht zum Gespräch.

Herr Zoggs Mundharmonika erzählt von Bergen und vom Alpenglühen und es klingt wie ein Vermächtnis, als Frau Petrenko schliesslich sagt: «Meine Heimat ist hier». Sie legt beide Hände auf ihr Herz. «Hier drin ist die Liebe. Hier drin ist Gott.» Ob ihre Kinder diese Weisheit von ihr wüssten, frage ich bewegt. Frau Petrenko lächelt: «Sagen Sie es ihnen, wenn ich gestorben bin. Von Ihnen werden sie es vielleicht hören können.»

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