ZurQuelle #01

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INHALT NUMMER EINS : ZWANZIG 13 ZUR QUELLE

STUDIUM EIN HERZ FÜR

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Erstie-Erlebnisbericht Eine App für jede Vorlesung: Tinder In der Sprechstunde von Dr. Marianne Lüdecke Erasmus in Granada Fotoreihe: Iran-Exkursion

POLITIK UND GESELLSCHAFT p. 20

Til Schweiger Mit unverwechselbarem Charme und einem präzisen Gespür für das, was der deutsche Film leisten kann, begeistert uns der Tatort-Komissar mit der sensiblen Darstellung packender Kriminalermittlungen, die durch sein facettenreiches Spielen an Authentizität gewinnen.

Bedingungsloses Grundeinkommen Pressekodex Snowden als Westernantiheld Der Untergang des Thomas-Dehler-Hauses: Darf man da lachen…? Ja. Sozialistische Internationale & SPD

KULTUR p. 32

Eine U-Bahnfahrt mit Bourdieu Gründe Said zu lesen • Filmkritik: Alphabet Deutschrap: Das ist Kunst! Loona-Konzertbericht • Kulturnachruf

WEITERES 44 Gegenüberstellung 46 Impressum • Kontakt • Aufruf 47 Was hört die Redaktion?


e d n e r e S tudi aller

Ihr haltet die erste Ausgabe der neuen und einzigartigen, weil besten Studierendenzeitschrift an der Uni Potsdam in Händen. Hierzu erst mal einen Glückwunsch. Diesen Griff werdet ihr nicht bereuen, auch wenn wir nach ein, zwei Artikeln nahezu ungelesen im Mülleimer landen oder achtlos auf dem S-Bahnsitz liegengelassen werden. Zur Quelle ist aus dem Gedanken heraus entstanden, dass das studentische Leben an der UP viel zu grau und trostlos ist. Dass die durchschnittliche Studierende wenig hat, was sie mit ihrer Universität verbindet. Wenn diese in Potsdam wohnt, sieht das natürlich anders aus, dafür fällt sie dann aber aus dem Durchschnitt. Deshalb ist es an der Zeit, dass ein Blatt etabliert wird, das über Potsdamer Themen hinausweist, das Feuilletonistische zelebriert, dabei den Anspruch einer klugen Studierenden von Welt aber nicht außer Acht lässt. Zuerst waren wir Wenige, als die Botschaft sich aber herumgesprochen, das Konzept immer weitere Kreise gezogen hatte und so mancher Geist nach langer Zeit des Inceptens Gefallen an der Idee gefunden hatte, hatten wir letztlich doch eine ansehnliche Gruppe von engagierten, netten und klugen Redakteurinnen beisammen, die in der Quelle bei Bier und

Schnaps zu brainstormen und zu arbeiten begannen. „Die Quelle?“, fragt ihr. „Zur Quelle ist doch auch der Titel der Zeitschrift“, stellt ihr stolz auf eure kombinatorischen Fähigkeiten fest. Elementary. „Zur Quelle“ heißt die Zeitschrift, weil die Kneipe, in der die Redaktion von „Zur Quelle“ trinkt, „Zur Quelle“ heißt. Dadurch steht „Zur Quelle“ in direkter Kontinuität mit den ersten Demokraten Deutschlands. Als nämlich Parteien und politische Organisationen noch weitgehend verboten waren, gab es keine derartige Infrastruktur in Deutschland. Das machte es für die Abgeordneten des ersten gesamtdeutschen Parlaments, das 1848 als Folge einer Revolution in der Paulskirche (des westdeutschen) Frankfurts zusammenkam nicht einfach, sich nach politischer Überzeugung zusammenzufinden. Irgendwie ging das aber doch und deshalb entschied man sich, die einzelnen Fraktionen nach den Lokalitäten zu benennen, an denen die Abgeordneten abends berieten, diskutierten und zechten. Den Gasthäusern. Der Deutsche Hof zum Beispiel war der Versammlungsort der Linken. Zum Glück wurde die Revolution bald niedergeschlagen, sonst wäre es womöglich gar nicht mög4

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EDITORIAL

lich, die großen Frauen und Männer von damals ideologisch zu überhöhen und sich in einer stolzen Tradition mit ihnen befindlich zu betrachten. Die Struktur von Zur Quelle ist denkbar einfach. Die drei Kategorien „Studium“, „Politik und Gesellschaft“ sowie „Kultur“ sind absichtlich so weit gehalten, dass alles irgendwie hineinpasst. In dieser Ausgabe findet ihr in der ersten Kategorie vornehmlich heiter-Vergnügliches, in der zweiten vor allem soziologische und politische Dinge und in der dritten – vielleicht denkt ihr es euch bereits – Artikel, die im weitesten Sinn mit Kultur in Verbindung gebracht werden können. Aufgefallen ist euch womöglich bereits, dass Zur Quelle auf das stupide Gendern verzichtet und stattdessen das generische Femininum verwendet. Angestoßen dazu wurden wir von unserem lieben AStA, der auch die Druckkosten übernommen hat. Hierfür auch ein dickes Dankeschön. Gleichzeitig möchten wir das aber auch als Statement gegen eine patriarchale Gesellschaftsstruktur verstanden wissen, die sich für manche subtil, einmal darauf gestoßen für die meisten aber doch ziemlich offensichtlich, auch in der Sprache äußert. Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass ihr als Leserinnen das ein oder andere Mal aus

dem Lesefluss gerissen werdet, denken aber erstens, dass das ein geringes Opfer auf dem Weg in die Progression ist und zweitens, dass das generische Femininum immer noch hübscher ist, als die Gendergap oder das Phallus-I. Außerdem verzichten wir in Texten, die klar ins Prosaisch-Kreative gehen auf diese Methode. Nun soll diese Stelle auch noch genutzt werden, um das Konzept noch ausdrücklicher auszuleuchten. Wir haben den Anspruch, jede von euch mitarbeiten zu lassen. Explizit bitten wir euch um eure Mithilfe. Nur so kann die Idee von dem Studierendenblatt, das von allen für alle gemacht wird, auch funktionieren. Hierbei machen wir wenig Vorgaben. Solange ihr keinen neoliberalen oder rechten Unsinn an die Frau bringen wollt, werden wir unser Möglichstes tun, um für eure Veröffentlichung zu sorgen. Wenn ihr also Interesse habt, schreibt uns. Bei einem feuchtfröhlichen Treffen in der Quelle lassen sich die Kleinigkeiten hierzu klären. Aber weil wir euch auch nicht langweilen möchten, so eine Bahnfahrt, Vorlesung oder Stuhlgang ja auch nicht ewig dauert, genug von uns. Liebe Leute. Viel Freude mit Zur Quelle. ROBERT HOFMANN

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DIE REDAKTION VON LINKS NACH RECHTS

RON GERMANISTIK UND PHILOSOPHIE,„LERNEN SIE ERNST NEHMEN, WAS DES ERNSTNEHMENS WERT IST, UND LACHEN SIE ÜBER DAS ANDERE!“ (HERMANN HESSE) ALEX TECHNISCHER UMWELTSCHUTZ, „GEWINNEN KANN JEDER, VERLIEREN IST DIE RICHTIGE KUNST!“ (OLI KAHN) DAVID GERMANISTIK UND POLITIK & VERWALTUNG, „MENSCHEN, DIE EIN GESPRÄCH FÜHREN WOLLTEN, WAREN MIR SCHON IMMER VERDÄCHTIG. GUT REDEN KANN MAN MIT EINFACHEN LEUTEN.“ (THOMAS BERNHARD) ROBERT GERMANISTIK UND GESCHICHTE, „WAS SOLL ICH DENN MACHEN? ICH BIN NUR EIN BOXER.“ (ARTHUR ABRAHAM) RONJA GERMANISTIK UND POLITISCHE BILDUNG, „MIT EINER PSYCHOSE KANN MAN SEINEN TRAUM LEBEN!“ (K.I.Z.) OLGA SOZIOLOGIE UND POLITIK, „VIELLEICHT GIBT ES SCHÖNERE ZEITEN, ABER DIESE IST DIE UNSERE.“ (JEAN-PAUL SARTRE) LEYLA POLITIK UND PHILOSOPHIE, „IN DER KUNST, MIT VIELEN WORTEN GAR NICHTS ZU SAGEN, MACHE ICH REISSENDE FORTSCHRITTE.“ (OTTO VON BISMARCK) CHRISTOPH GESCHICHTE UND LER, „JUNG, MODERN, FORSCHUNGSORIENTIERT: DIE UNIVERSITÄT POTSDAM.“ (UNI-POTSDAM.DE)


STUDIUM

ERSTI ERLEBNIS Jeder kennt es, jeder hatte es: ein halb vergessenes unvergessliches Ersti-Erlebnis ALEX HILCKMANN

CLUB OHNE TECHNO

Wie oft sitzen wir in einer Vorlesung und langweilen uns noch mehr als bei Gottschalk & Jauch gegen alle? Gegen die nicht enden wollende Zeit, zäh wie die ersten fünf Sekunden eines HubbaBubba-Kaugummis, hilft jetzt Tinder. CHRISTOPH GROSS

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ede kennt die Geschichten und jede hat selbst eine zu erzählen: Ein abgefahrenes Ersti-Erlebnis. Meines begann mit der Einladung der Fachschaft zu Bier und Grillfleisch im Bergbaugebäude der RWTH-Aachen. Die ein oder andere Person hatte man schon in den Vorkursen gesehen, doch im Großen und Ganzen hatte die Veranstaltung den Charme einer Party, auf der Niemand Niemanden kennt. Mit ein wenig gesellschaftlichem Schmiermittel lagen sich jedoch früher oder später alle in den Armen und das ist der Punkt, an dem bei vielen die Erinnerung aussetzt - zumindest teilweise. ell und dunkel, laut und leise wechselten sich ab. Die Erinnerung ist wie eine verschwommene DiaShow bei nicht konstanter Beschallung. Schließlich fand ich mich auf einer Toilette wieder. Ich las den Zettel, der auf Augenhöhe vor dem Stehklo hing. Party nächste Woche im Baugebäude, klingt gut. Beim Schließen des Reißverschluss fiel mir auf, dass ich die ganze Zeit daneben gepinkelt hatte. Egal. achdem ich das verzehrte Grillgut über den Parkplatz hinter dem Gebäude verteilt hatte, war es an der Zeit zu gehen. Der Rückweg, der mich wieder durch das Gebäude führte, stellte sich als

Spießrutenlauf heraus. Der polnische Abgang war das Mittel der Wahl. Der Wecker klingelte am nächsten Mittag und schlagartig wurde mir bewusst, dass an jenem Tag diese Ersti-Veranstaltung war. In der Email stand doch noch, dass die Anwesenheit sehr wichtig war. Ich quälte mich ungeduscht und ungewaschen mit vom Boden aufgelesenen Klamotten zur Uni. Der Hörsaal war voll. Nicht gut, ich stank wie eine Kneipe in ihrer Gänze, und neben mir saß auch noch diese hübsche Studentin, pure Rarität im technischen Studiengang. Bloß nicht anatmen! Der Kater von einem anderen Stern, die wenigen Stunden Schlaf - mir ging es gar nicht gut. Ein Infozettel wurde ausgeteilt: „Da steht alles Wichtige drauf? Ich muss hier raus!“ Durch die unbekannten Gänge des Gebäudes nach einer Toilette suchend wuchs in mir ein Bedürfnis. Ich übergab mich im Vorraum des Klos. Eine Kabine war besetzt, eine andere frei. Schnell in der freien versteckt. Erst mal durchatmen. Niemand hat mich gesehen? Das Handy vibriert. Eine Glückwunsch-SMS. Heute ist mein Geburtstag. Alles Gute.

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as Prinzip dieser App ist denkbar einfach. Nach sah. Als er sich bereits nach wenigen Sätzen nachts der Anmeldung zeigt Tinder Fotos von Benutzern verabreden wollte, stieg sie aus der Unterhaltung in deiner Nähe, deren Aussehen du bewertest. Wenn aus. Sie hatte bei ihm eh „kein gutes Gefühl.“ dir das Foto gefällt, schwingst du deinen Daumen So richtig kann sie mir auch nicht erklären, mit welnach rechts oder nach links, wenn du erschrocken chen Erwartungen sie Tinder benutzt. „Langeweile? vom Stuhl gefallen bist. Sobald sich zwei Tinderaner Spaß? Neugierde? Wahrscheinlich von allem etgegenseitig gefallen, öffnet die App einen Chat. Je- was.“ Aus anderen Gründen hat sie ihrer Freundin der weiß, was jetzt kommt. Die große Liebe! die App empfohlen: „Nach sieben Jahren Beziehung In erster Linie zählt das Aussehen, wusste sie nicht mehr, wie sie auf Typen womit Tinder im Grunde die gleiche zugehen sollte. Durch das Smartphone Situation wie in einem Club konstruwurde ihr die Situation nun erleichiert, nur ohne Techno. Während das tert.“ Nach ein paar Stunden verabreKennenlernen auf der Tanzfläche in dete sie sich zu ihrem ersten Tinder-Daden seltensten Fällen auf eine ernsthafte. Back in the game dank einer App. te Beziehungen fokussiert ist und die Die Plattform weckt in Gesprächen oft Fronten beim homosexuellen Pendant ein latentes Schamgefühl. Immer wieGrinder eindeutig sexuell definiert sind, der höre ich die gleichen Aussagen. Erst bleib die Motivation bei Tinder unklar. neulich hätten sie Tinder installiert und aher habe ich Sara getroffen, um getroffen haben sie eigentlich auch zu erfahren, wie sie Tinder benutzt. noch niemanden. Ich glaube ihnen kein Ganz ehrlich, sie wird sich vor Likes Wort! So auch bei der Mitbewohnenicht retten können. Sie ist ziemlich rin meiner besten Freundin. Ständig heiß und lernt gerade freiwillig Latein. weicht sie mir aus, bis sie es zugibt. Sie Checkt das! Latein! Freiwillig! „Am sucht einen Stecher wie Lino. Doch das ersten Abend dachte ich: Boah, geil! Pendel unseres Gespräches schwenkt Die Auswahl meines Lebens!“, erzählt GEWINNSPIEL WER VON schnell wieder auf ihren letzten FriseurSara. Ich halte mich zurück und unter- EUCH ALS ERSTES EINEN besuch; da wären die MitarbeiterInnen lasse die Frage, warum sie mich nicht DOZIERENDEN BEI TINDER alle richtig tätowiert gewesen. „Echt?“, FINDET, GEWINNT IN DER positiv bewertet hat. „Es werden dir MENSA EIN GRATISMENU entgegne ich und denke nochmal kurz hunderte Typen vorgestellt und dann ESSEN 1. VIEL GLÜCK! an Sara. Vielleicht sollte ich mich auch heißt es Hopp oder Flopp. Eine richtige Massenabtätowieren lassen, um von ihr ein Herz bei Tinder zu fertigung.“ Stille kehrt in unser Gespräch ein. Sie erhalten. Golm wäre doch ein richtig cooler Schriftüberspielt die Pause mit einem Schluck Mate, wäh- zug für meinen Unterarm. Fetti, das wird was! rend ich mich immer noch frage, warum sie mich inder reduziert soziale Netzwerke, sowie Danicht geliked hat. Sie bricht das Eis, indem sie meiting-Portale auf ein Minimum und begeistert nen Club-Vergleich korrigiert: „Bei Tinder ist eine damit mehr als 1,5 Mill. BenutzerInnen. Tendenz: Abfuhr fast ausgeschlossen und außerdem entfällt exponentiell steigend. Jeder kann dabei selbst entdie Überwindung jemanden anzusprechen, wo- scheiden, wie er die App nutzen möchte. Bei Twitter durch das Kennenlernen doch noch unkomplizierter werden jedenfalls immer öfter Hochzeiten verkünwird.“ Sara erzählt von Lino, der sich oberkörper- det, deren Paare sich bei Tinder kennenlernten. Also frei ablichten ließ und wie ein richtiger Stecher ausdoch die große Liebe bei Tinder, ich fass‘ es nicht.

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STUDIUM

Sprechstunde IN DER

VON

DR. MARIANNE LÜDECKE Dozentin für Neuere Deutsche Literatur, 19. u. 20. Jahrhundert DAVID BÄUERLE

automatisch erwartet, dass sie sich um die Schwächeren kümmerten.

Wie kamen Sie zur Uni Potsdam, gab es dafür einen bestimmten Grund? Ich habe in Potsdam studiert, weil mir Berlin zu groß war. Nach dem Studium arbeitete ich erst zwei Jahre als Lehrerin bis die Anfrage der Hochschule für eine Aspirantur kam. Danach habe ich promoviert und blieb an der Universität in Potsdam (bis 1990/91: Pädagogische Hochschule, Anmerk. d. Red.), weil ich hier wohnte und auch hier meinen Mann kennen lernte.

Waren Sie mehr die fleißige Studentin oder eher der gemächlichere Typ? Ich war eher der gemächlichere Typ, weswegen vielleicht auch meine Englischkenntnisse nicht so doll sind, da man sich diese nicht erdenken konnte, sondern schlicht lernen musste (lacht). Wo müsste an der Universität dringend mehr Geld investiert werden? Wohl schlicht in mehr festangestellte Lehrkräfte. Dann müsste in mehr Seminarräume Geld investiert werden, wir Germanisten haben vier Seminarräume und einen teilen wir uns mit einem anderen Institut. Ohne Räumlichkeiten nützen uns auch mehr Lehrkräfte nichts.

Welcher Unterschied fällt Ihnen auf im Vergleich zu ihrer Studienzeit und der heutiger Studierender? Ich denke, das Studium war früher stärker organisiert; bestimmt auch stärker reglementiert und vielleicht war es dadurch auch einfacher zu studieren. Es gab weniger Wahlmöglichkeiten und eine festere Struktur im Gegensatz zu heute. Und ich denke, dass mit der heutigen Wahlfreiheit eventuell ein Teil der Studierenden überfordert sind und es einigen schwerfällt sich zu sortieren.

Unangenehme Seiten ihres Jobs sind...? Die Bürokratie, vor allem die Beschäftigung mit PULS. Dieses System frisst eine Menge Zeit, doch ansonsten bin ich in einem Alter, in dem der Job keine unangenehmen Seiten mehr hat.

War früher überhaupt etwas besser? Die Studierenden mussten weniger neben dem Studium arbeiten, es sei denn, man wollte sich ein Auto leisten. Für viele Studierende heute ist es wichtig nebenher zu arbeiten, um wenigstens halbwegs normal leben zu können. Meiner Meinung nach war auch das gegenseitige Helfen in den Seminargruppen intensiver. Wir mussten einander helfen, damit jeder das Studium rechtzeitig abschließen konnte, es war weniger individuell, was auch als Nachteil angesehen werden kann, denn es wurde von den Leistungsstärksten 10

Schon mal nach Sympathie benotet? Das ist schwierig, wenn nur in sehr geringem Maße. Beispielsweise wenn eine Studierende in der Prüfung besser als 1,7 war, jedoch nicht so gut, dass es für eine 1,3 gereicht hätte, ist auch deren Engagement im Seminar ein Kriterium, welches zu ihren Gunsten entscheidet. Haben Sie einen Wunsch? Gelassenheit! 11


ERASMUSBERICHT - DER ULTIMATIVE TEASER Zwischen Geheimakten entdeckt, unter höchster Anstrengung zutage gefördert. Kontroverser als fünfzig graue Feuchtgebiete: Erasmuserlebnisse eines Dissidenten. ROBERT HOFMANN


BOOK ONE THE FOLLOWSHIP OF THE NEW HOPE

ein Schriftsteller, der am Fuße des Kilimandscharos bemerkt, dass er sein Leben vergeudet hat, weil er sein Leben nicht gelebt sondern für seine Karriere missbraucht hat (eigentlich ist das Prinzip des mit einigem Abstand darüber Schreibens ganz und gar nicht so, wie das letzte aufgeführte Beispiel. Macht aber nichts, denn Anspielungen auf große Literatur wirken immer sehr gebildet). Durch diese Aufarbeitung denke ich, können wir die gesamte Zeit, die uns sonst nur als schwammig positiv in Erinnerung bliebe mit tatsächlichen Zitaten und Anekdoten aber auch mit einer Art Interpretation, ob künstlich mit tiefer Bedeutung aufgeladen oder nicht füllen. Wenn ich diesen Bericht geschrieben haben werde, so hoffe ich, werde ich mehr über die letzten 10 Monate, über mich und den Menschen an sich wissen.

Während meines Erasmus Aufenthaltes in Granada, Spanien habe ich Erfahrungen gemacht. Das ist wohl nicht allzu selten, zumal man prinzipiell immer Erfahrungen macht, auch wenn man vermeintlich gar nichts macht. Gähnende Langeweile, so langweilig sie auch sein mag, ist schließlich auch eine Erfahrung. Im Gegensatz zu der Erfahrung, die man macht, wenn man sich gähnend langweilt, werden wir aber dazu gezwungen, die Erfahrungen, die wir während unseres Erasmus Aufenthalts gemacht haben, schriftlich festzuhalten. Das ist, finde ich, eine hervorragende Idee. Aus zwei Gründen, die ich euch erklären möchte. Zum einen profitieren uns nachfolgende Erasmus Studierende von den Erfahrungen, die wir im Ausland gemacht haben, können also, sofern sie das Angebot annehmen, was mit Sicherheit wenn überhaupt nur ein verschwindend geringer Teil der Leute tun wird, versuchen, unsere Fehler zu vermeiden und somit einen einfacheren Start ins Erasmusleben haben. Ob das wirklich so vorteilhaft ist, belasse ich mal als indirekte Frage in den Raum gestellt, aber ich denke trotzdem, dass das Trial-and-Error Prinzip, mit dem ich an die ganze Sache herangegangen bin, einen aufregenden Teil der ganzen Erfahrung ausgemacht hat. Ich hatte allerdings auch keinen derart klugen und gut geschriebenen Erfahrungsbericht vorliegen, wie es die künftigen Erasmusstudierenden haben werden. Zum anderen werden wir gezwungen, uns mit unseren Erfahrungen aktiv auseinander zu setzen, die letzten 10 ( oder 4) Monate Revue passieren zu lassen, uns zu überlegen, was eigentlich unseren Erasmusaufenthalt ausgemacht hat, was es lohnt, an die Nachwelt weitergegeben zu werden. Ein bisschen so, als wären wir Großeltern, die ihre gerade in das intellektuell aufnahmefähige Alter gekommenen Enkel neben sich sitzen haben - zuerst dachte ich an das Bild des Schoßes. Weil ein Großteil der Geschichten aus dem Leben allerdings für kleine Kinderohren nicht geeignet wäre, denke ich dann doch lieber an ältere Enkel, die die Kapazitäten eines Schoßes übersteigen würden - und ihnen die prägnanten Geschichten ihres Lebens erzählen. Oder wie

BOOK DOS DIE SPANISCHE SPRACHE Es ist nicht schwer, Spanisch zu lernen. Zumindest, wenn man bereits einige Erfahrungen mit romanischen Sprachen gesammelt hat. Die Satzstruktur ist übersichtlich und relativ abwechslungsarm, die Konjugationen der Verben sind weitgehend selbsterklärend und es gibt auch nur zwei Geschlechter, die erfreulicher und vereinfachender Weise leicht erkennbar sind, sodass man nur für den aktiven Sprachgebrauch die vielen Unterschiede zum Deutschen lernen muss, was aber wegen eben des intuitiven Verständnisses im Passiven wie von selbst funktioniert. Trotzdem ist Granada nicht der Ort, an dem man problemlos Spanisch lernen kann. Ich - zum Beispiel - spreche Spanisch nur sehr gebrochen. Nicht ganz so gebrochen wie Batman von Bane gebrochen wurde aber trotzdem nicht mit sehr viel Rückgrat. Das liegt vor allen Dingen an der Tatsache, dass ich mich die meiste Zeit auf mein beeindruckendes Englisch verlassen habe und noch viel öfter auf mein perfektes Deutsch, das du, liebe Leserin in diesen Momenten bewunderst, wahrscheinlich beneidest. Nur in Notsituationen bin ich aufs Spanische ausgewichen, was dann allerdings gar nicht so selten war, da die Spanierin kein Englisch spricht und zwar ständig davon redet, nach Deutschland 14

zu ziehen, wenn das Studium vorbei ist, um dort wenigstens eine kleine Chance darauf zu haben, einen Job zu finden, aber keinerlei Anstalten macht, Deutsch zu lernen. Sogar meine Übersetzung studierende Mitbewohnerin weigerte sich partout, mit mir Deutsch zu sprechen. Ich habe mich nicht beschwert, sondern mein Spanisch auf Kosten ihres Deutschs geübt. Dass mein Spanisch sich allerdings hinter meinen Deutsch- und Englischskills durchaus verstecken sollte, um nicht ständig in die Situation zu geraten, von ihnen ausgelacht zu werden, liegt aber vor allem (noch vor all dem, was vor ihm liegt, wie zum Beispiel meinem nicht gezählten ersten Punkt im Absatz hierüber) an dem andalusischen Akzent. Ich liebe Andalusien und ich würde immer wieder dorthin zurückkehren wollen. Ich habe nie eine so schöne, entspannende und sympathische Region irgendeines Landes kennengelernt wie Andalusien, aber die Leute dort sprechen wie Bäuerinnen. Nicht, dass sie welche wären und die meisten sind sich dessen durchaus bewusst, deshalb hoffe ich, hier niemandem auf die Füße zu treten. Als jemand, dessen Spanisch genau ein halbes Jahr alt war, also noch in den nicht gehfähigen Kinderschuhen steckte (vielleicht eher …das noch auf seinen nicht gehfähigen Kinderfüßen stand, die noch in ihren Kinderfüßen steckten. Oder … das noch auf Kinderbeinen stand, die allerdings nicht gehfähig waren und in Füßen endeten, die noch in ihren Kinderschuhen steckten) war es mir sicher das gesamte erste halbe Jahr nahezu unmöglich, die Spanierinnen um mich herum zu verstehen. Und ich meine nicht die Spanierinnen in der Uni, die Weltraumphysikerinnen oder Philosophinnen, nein, ich meine die Wirtin, die mich fragt, welche Tapa ich zum Bier möchte, die Dönerdame, die mich fragt, ob ich gerne Zwiebeln darauf hätte, die hübsche Andalusierin, die fragt, ob ich Spanisch spreche (vor allem die!). Es war frustrierend. Nach diesem ersten halben Jahr jedoch kam mein Spanisch langsam in die Pubertät ( mit all der Eigensinnigkeit, die damit einhergeht: ein beliebter Trick meinerseits war es zum Beispiel, den Stamm englischer Wörter Spanisch auszusprechen und ein klassisches spanisches Suffix dranzuhängen, in der Hoffnung, nach dem Hit-and-Miss Prinzip durch Zufall richtiges Spanisch zu sprechen und verstanden zu werden. Mein Anliegen ist allerdings hier nicht, euch den

Mut zu nehmen, euch der Herausforderung zu stellen, sondern vielmehr, die Schnürsenkel der Kinderschuhe eures Spanischs zu binden, sodass ihr, wenn die Kinderfüße irgendwann gehfähig sind, direkt lossprinten könnt. Zuerst ein paar wichtige Spanische Wörter und Floskeln: Eres una chica guapa, vamos a la playa – Du bist ein hübsches Mädchen, lass uns an den Strand gehen. Dos cervezas, por favor. Dos cervezas, por favor – Zwei Bier, bitte. Zwei Bier, bitte. Vamos a la playa, a mi me gusta bailar, el ritmo de la noche, sounds of fiesta. – Lasst uns an den Strand gehen, mir gefällt das Tanzen, der Rhytmus der Nacht, die Geräusche des Feierns. Hey Latino, latino Lover, dame un beso con mucho amor, tu y yo toda la noche, hasta el, hasta el final. – Hey Latino, latino Liebhaber, gib mir einen Kuss mit viel Liebe, du und ich, die ganze Nacht bis hin zum, bis hin zum Finale. Donde esta la biblioteca? No lo sabes, no pasa nada, vamos a tomar unas cervezas. – Wo ist die Bibliothek? Du weißt es nicht? Macht nichts, lass uns ein paar Bier trinken gehen. Porque hay tantos perros en toda la playa, y porque los estan bailando? Es una fiesta de perros aqui? Vale, muestrame los cubos de sangria. – Warum sind hier so viele Hunde am Strand und warum tanzen sie? Ist das hier etwa eine Hundeparty? Na gut, zeig mir die Eimer voll Sangria. Señor, por favor! – Ich bitte Sie, verehrter Herr. Natürlich weiß ich, dass das hier niemanden durch ein ganzes Jahr in Granada bringen wird, aber für den Anfang wird jede zumindest ein paar Anhaltspunkte haben, an die er anknüpfen kann. Ich wäre froh gewesen über diesen kleinen Sprachführer, da bin ich mir sicher. Wenn Ihr mehr von den Abenteuern Roberts in der Welt des nicht untergehenden Katers lesen möchtet, besucht unsere Homepage – da findet ihr den Rest des Epos.

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IRAN 2013 CHRISTOPH GROSS


Während Fettes Brot fragen, ob du schonmal einen Rapper geküsst hast, frage ich dich, ob du schonmal die Exkursionen der Universität gecheckt hast? Dort finden sich nämlich jedes Jahr neue Perlen wieder. So bot das Institut der Religionswissenschaften im letzten Oktober, nach Indien und Israel in den vergangenen Jahren, das dritte große „I“ an. Die Reise gen Mittleren Osten erfolgte auf Einladung der Partneruniversität URD in Qom.

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WAHLPLAKAT

Ausgehend von den wenigen Zugängen zu dem Land und dem meckernden Ex-Präsidenten im Fernsehen überraschte uns der Iran in seinem Facettenreichtum jeden Tag erneut. Das Erbe des Persischen Reiches, der Ausdruck der Frömmigkeit an heiligen Orten oder die kontrastreiche Landschaft sind nur einige Höhepunkte dieses Iran-Trips. Insbesondere die Herzlichkeit der Iranerinnen und ihre Neugier an den wenigen Touristinnen prägten die vierzehn Tag nachhaltig, dass wir mit einem breiten Grinsen in Berlin aus dem Flugzeug stiegen. Weitere Informationen zum Austausch mit der URD sind auf der Institutseite der ReWi zu finden.

KANG

QOM

TEHERAN


POLITIK & GESELLSCHAFT

Die Idee eines Grundeinkommens ist schon Jahrhunderte alt, doch im Moment bekommt die Idee einen neuen Aufschwung. Zunächst einmal: Was ist ein Grundeinkommen? Ein Grundeinkommen ist ein Einkommen, das bedingungslos jedem Mitglied einer politischen Gemeinschaft gewährt wird (Definition des Netzwerks Grundeinkommen). Mit dem Betrag, der ausgezahlt wird, sollen alle Grundbedürfnisse, die im Leben entstehen, gedeckt werden können, etwa Essen, Wohnen und gesellschaftliche Teilnahme. Bei derzeitigen Preisen in Deutschland könnte die Summe etwa 1000€ Betragen, für Kinder weniger. Bedingungslos soll buchstäblich verstanden werden. So soll es keinen Zwang zur Arbeit geben, es gibt keine Bedürftigkeitsprüfung, jede Bürgerin hat Rechtsanspruch darauf. Jeder Mensch hat ein Einkommen, in welcher Form auch immer. Bereits heute beziehen 59% der Deutschen ihr Einkommen nicht durch eigene Tätigkeit, sondern durch Rente, Verwandte, BAföG, Arbeitslosengeld etc. So abenteuerlich sollte uns der Gedanke also nicht vorkommen. Sozialleistungen, die heute über dem Grundeinkommen liegen, würden nur bis

schlafen, nochmal (oder länger) studieren, verreisen oder ähnliches. Die Leserin fühle sich aufgerufen, sich selbst diese Frage zu stellen. Menschen möchten arbeiten um dem Gefühl und Bewusstsein willen, gebraucht zu werden, anerkannt zu sein im sozialen Netzwerk. Es gibt keine repräsentativen Studien, ob es gelingt, dass nicht plötzlich alle Menschen zu Couchpotatoes verkommen. Ein bisschen Vertrauen und Zuversicht gehört also dazu, wenn die Idee umgesetzt werden soll. Das Grundeinkommen könnte auch die Sichtweise auf Arbeit verändern. Schon heute werden viele Arbeiten ohne Bezahlung durchgeführt, angeblich doppelt so viele Stunden wie entlohnte Arbeitsstunden. Der Zwang zu arbeiten, um die Existenz zu sichern, würde entfallen. Stattdessen hätten Menschen die Freiheit, ihren Interessen nachzugehen (etwa in einer Studierendenzeitschrift zu schreiben); einen Beruf zu wählen, der ihnen gefällt, unabhängig vom Lohn. Studiengänge müssten nicht mehr nach Jobmöglichkeiten gewählt werden. Es bliebe Zeit, die Pflege in der Familie bei Pflegefällen selber durchzuführen.

ERSCHAFFEN WIR EINE BESSERE WELT! ANGEFANGEN MIT DER ARMUT. DIE WIRD NÄMLICH ABGESCHAFFT: MIT DEM BEDINGUNGSLOSEN GRUNDEINKOMMEN.

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Bedingungsloses Grundeinkommen ALEX HILCKMANN

zu dem Betrag des Grundeinkommens gekürzt, sodass für niemanden ein Nachteil daraus entstände. Es gibt stets zwei große Fragezeichen und Gegenargumente. Die erste ist: Wer soll das bezahlen? Es gibt verschiedene Ansätze zur Finanzierung. Die ursprüngliche Idee ist die Finanzierung über die Einkommenssteuer, die mit einem Grundeinkommen erhöht werden könnte. Eine neuere Variante ist die Finanzierung über die Mehrwertsteuer. Hierbei würden alle, ja alle, Steuern abgeschafft außer der Mehrwertsteuer, die drastisch erhöht würde. Sicherlich haben beide Varianten Vor- und Nachteile. Wirtschaftsexperten, die die Finanzierung des Grundeinkommens durchgerechnet haben, sagen es ist umsetzbar (DM-Chef Götz Werner ist ein großer Verfechter). Die zweite große Frage ist: Wenn jede genug zum Leben hätte, würde dann überhaupt noch jemand arbeiten? Eine Umfrage zeigte, dass 60% sagen: Ja, ich würde so weitermachen wie jetzt. 30% sagen: Ja, aber… unter anderen Bedingungen, etwas anderes etc. Nur 10% sagten: Nein, ich würde erst mal aus-

Doch wer würde dann die Jobs machen, die keiner machen will, die gefährlichen oder schmutzigen? Wenn alles optimal liefe, würden diese Jobs aufgewertet werden, die Arbeitsbedingungen müssten verbessert werden und/oder der Lohn steigen, damit sich noch Leute finden, die sich bereit erklären, solch einen Job anzunehmen. Falls das nicht funktioniert, bleiben noch zwei Möglichkeiten: automatisieren oder selber machen. Das Grundeinkommen könnte Träumereien von einer besseren Gesellschaft mit der Realität verbinden. In der Schweiz gibt es eine Volksinitiative zu diesem Thema. Die Einführung eines Grundeinkommens wird demnächst abgestimmt. Falls die Initiative durchkommt, falls das Konzept funktioniert, falls die Finanzierung klappt, falls sich das Konzept von der wohlhabenden Schweiz auf andere Länder übertragen lässt, haben wir vielleicht in Zukunft eine Gesellschaft frei von finanziellen Sorgen, in der bessere Lebensbedingungen herrschen und absolute Armut abgeschafft ist.

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Von freier Meinung Boulevardjournalismus & zahnlosen Tigern Unsere Autorin tut, was Autorinnen nun mal tun. Sie berichtet von markerschütternden Bildern, Politikerinnen im Urlaub, herzzerreißenden Schicksalen und einer uralten Fehde. Alles ganz normal in der Welt der Medien. Immer wieder werden der Deutsche Presserat und sein Pressekodex belächelt. Handele es sich bei einem Kodex doch, wie heißt es so schön im Fluch der Karibik, eher um Richtlinien als Gesetze. Der Presserat sei ein zahnloser Tiger; eine Institution, die zwar eine überwachende Funktion und festgelegte Regeln hat, aber keine Möglichkeit gegen Verstöße vorzugehen. Öffentlich Rügen mit Abdruckpflicht – das ist alles; die schwerwiegendste Sanktionsmöglichkeit im Kampf gegen pietätlose und hetzerische Meinungsbildung.Und wir wissen alle, wie sexy ein Bad-Boy-Image sein kann. Im Jahr 2012 gingen insgesamt 1137 Beschwerden beim Presserat wegen Verstößen gegen den Pressekodex ein. Die meisten wegen Vestoßes gegen „Ziffer 1“, Wahrhaftigkeit und Schutz der Menschenwürde, „Ziffer 2“, Sorgfalt und „Ziffer 9“, Schutz der Ehre. Interessanterweise hat unser aller Lieblingsschandblatt, die BILD-Zeitung, gar nicht den größten Anteil daran, sondern vor allem regionale Tageszeitungen. Zugegeben: Hat mich auch gewundert. Dennoch stehen die auflagenstärkste Zeitung Europas (!) und der deutsche Presserat in stetiger Diskussion miteinander. Das liegt vor allem daran, dass in vielen Fällen eine eindeutige Entscheidung über die Auslegung des Pressekodex schwer fällt. Ist ein schockierendes Foto schon Sensationsberichterstattung oder ist es ein Dokument der Zeitgeschichte?

Besonders schwer fallen diese Entscheidungen in Hinblick auf Persönlichkeitsrechte. Die wichtigste Frage hier: Ab wann ist man eine Persönlichkeit von öffentlichem Interesse? Wo fängt dieser oft unfreiwillige Titel an, wo hört er auf? Ist es von öffentlichem Interesse, wenn Angela Merkel volltrunken Burger vom Boden futtert? Oder wenn David Hasselhoff Urlaub im schönen Südtirol macht? Hinzu kommt, dass ein Großteil dieser Persönlichkeiten der Zeitgeschichte sich niemals mit Absicht in die Öffentlichkeit drängen. Man denke an Eltern vermisster Kinder, Mordopfer, Betroffene von Katastrophen. Keine Frage, irgendwie sind wir alle abhängig und beeinflusst von Medien – doch was bedeutet es für eine junge Frau und ihre Umgebung, plötzlich als ehezerstörendes Partyluder bezeichnet zu werden? Medien haben Macht, vielleicht die Größte, nämlich die der Meinungsbildung. BILD dir deine Meinung! Axel-Springer-Meinung und bloß keine andere. Aber ich möchte hier nicht gegen die BILD hetzen – im Gegenteil. Auch oder vielleicht gerade eine Zeitung wie sie, hat ihre Daseinsberechtigung. Denn wie ihr Erfolg zeigt, bedient sie bei ihren zigmillionen Leserinnen eine ganze Reihe von Bedürfnissen. Wer bildet denn das Sprachrohr des „Normalbürgers“? Es sind sicher nicht Theater, 3sat und FAZ. In regelmäßigen Abständen ärgere ich mich über die 22

Boulevardpresse. Gäbe es da bloß eine Institution, die in Sachen Pietätlosgikeit der Presse und insbesondere der BILD gegenüber ein wahres Machtwort sprechen könnte. Ich erinnere mich dabei zurück an das Titelbild des 26. Juli 2010, zwei Tage nach dem Loveparadeskandal in Duisburg. Es zeigte eine Nahaufnahme einiger Menschen aus der Menge, die Panik steht ihnen in den Blick geschrieben. Bilder sagen mehr als Worte und welche Bilder abgedruckt werden, sehr viel über die Redaktion. Dieses Bild nahm ich damals zum Anlass, das erste Mal eine Beschwerde beim Presserat einzureichen. Ich weiß, wie das alles hier klingt. Axel-Springer-Hetze und eine ablehnende Haltung gegenüber Boulevard-Journalismus. Dabei nehme ich mich selbst gar nicht raus. Irgendwoher wissen alle von der Trennung der Van der Vaarts. Wie auch immer: Medien machen Meinung und genau aus diesem Grund ist es so wichtig, dass Medien frei sind. Und wie zahnlos der Presserat auch sein mag, letztlich halte ich ihn, den Kodex und auch die Regelungen drum herum für sinnvoll. Und das hat einen denkbar einfachen Grund: „In Deutschland findet keine Zensur statt“. So ist es und so ist es gut. Denn wer legt am Ende fest, wo die Regeln für „guten Journalismus“ aufhören und wo Zensur anfängt? Es darf einer Institution schlicht nicht möglich sein, Medien im Allgemeinen, der öffentli-

chen und auch ganz privaten Meinung, vorzuschreiben, was erlaubt ist und was zu weit geht. Sei es das zehnte Gerücht darum, Brangelina ließen sich scheiden. Das heißt aber noch lange nicht, dass die Journalistinnen, die in den Zeitungs- und Magazinredaktionen dieses Landes sitzen, schreiben können, was auch immer sie wollen. Das ganze richtet sich schließlich auch nach der freien Marktwirtschaft, was sich nicht verkauft fliegt, und nach Loyalität mit der eigenen Redaktionslinie. Die Einhaltung des Pressekodex hat nämlich nicht nur die Funktion, gewisse normierte Verhaltensweisen für „die gute Journalistin“ festzusetzen. Ob und wie die Schreiberlinge eines Mediums sich an die Einhaltung des Pressekodex halten, ist außerdem ein super Indikator für Seriosität und das Eigenverständnis des jeweiligen Mediums. Wir arbeiten übrigens derzeit an unserer Standleitung zum Presserat. Ganz egal zu welchem Zweck diese Freiheit letztendlich genutzt wird. Um investigative Bilder von Promi-Hochzeiten abzudrucken, Streitigkeiten im Bundestag zu dokumentieren oder eine Seite darüber, wie Lampedusa-Flüchtlinge in einer Kirche auf St. Pauli unterkommen müssen. Letztendlich tun sie alle, was Presse nunmal tut – sie berichtet. RONJA KOLLS

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POLITIK & GESELLSCHAFT

DER OUTLAW DES INTERNET-ZEITALTERS

Edward Snowden wird aufgrund der Weitergabe geheimer NSA-Daten von den USA weltweit gesucht. Doch aus moralischer Sicht handelt er aufrichtig. Macht ihn das zum Helden? Aus popkultureller Sicht schon. DAVID BÄUERLE

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Als Staatsfeind wird er von den USA angesehen, als einer der gegen geltendes Recht verstößt und sich zum Verräter des wohl mächtigsten Staates der Erde gemacht hat. Das politische Washington würde ihn am liebsten vor einem US-amerikanischen Gericht sehen, vor diesem er sich u.a. wegen Diebstahl von Regierungseigentum und Spionage zu verantworten hätte. Aus der Sicht einer vermeintlich vorbildlichen Amerikanerin sieht eine typische Heldentat wohl anders aus. Doch sind Edward Snowdens Weitergabe und Veröffentlichung relevanter Geheimdienstdaten wirklich von einer solch unamerikanischen Natur? Er selbst führt als Motivation für seine riskante Vorgehensweise seine moralischen Werte und Prinzipien an. An sich Eigenschaften die eine ehrbare Amerikanerin ausmachen. Etwas weitergedacht also Eigenschaften, die einen ordentlichen Westernheld ausmachen, wobei hier freilich von einem Outlaw gesprochen werden muss. Snowden, der sich bei der amerikanischen Regierung nicht gerade beliebt gemacht hat, sieht sich nach wie vor als zwar zutiefst besorgter, aber nichtsdestotrotz überzeugter Amerikaner, der seinem Land helfen anstatt Schaden zufügen will. Kurzum alles Eigenschaften von Cowboy-, Outlawund Sheriff-Figuren, die vor allem vom Genre der mittleren und späten amerikanischen Westernfilme definiert worden sind. Diese einsamen Helden der Prärie leben oft von der Gesellschaft isoliert, außerhalb der zivilisierten, als dekadent dargestellten politischen Klasse und sehen sich nicht selten von korrupten oder bestochenen Gesetzeshüter verfolgt. Das Motiv des ausgestoßenen Helden zieht sich durch die ganze Geschichte der US-Popkultur bis in die Welt der Superhelden. Zuletzt wurde das Motiv wieder hervorgeholt von Regisseur Christopher Nolan im jüngsten Batmanstreifen. Darin muss der Held Bruce Wayne alias Batman den gesellschaftlichen Buhmann spielen und sich gegen Verbrecher und Staatsmacht gleichermaßen zur Wehr setzen, bevor ihm am Ende offiziell Anerkennung zuteil wird. Es ließen sich viele Beispiele auflisten, in denen das (Anti-)Helden Motiv in dieser Spielart Verwendung findet. Abgesehen davon, dass Edward Snowden mit dem Flieger und nicht mit dem Pferd nach Russland gekommen ist, und der Vergleich womöglich auch an anderer Stelle ein klein wenig hinken mag, passt der Whistleblower sehr gut in das Narrativ des amerikanischen Helden und somit perfekt in die Popkultur

der USA. Er zahlt einen hohen Preis und verzichtet auf seine bürgerliche Existenz und das alles für etwas, das womöglich von offizieller, amerikanischer Seite nie Anerkennung erfahren wird. Die ganze Geschichte um den ehemaligen NSA-Mitarbeiter liefert natürlich hervorragend Stoff für eine vielversprechende, finanziell höchst profitable Vermarktung seiner Person: Merchandising Produkte wie Tassen und T-Shirts mit dem Konterfei Snowdens bedruckt, USB-Sticks für die ganz persönlichen „geheimen“ Daten würden sich sicher gut verkaufen. Auch ein hippes Modelabel, inklusive einem tollen Brillenmodell, mit dem Namen „Edwards – Covers Your Secrets“, hätte in der Marktforschung Chancen auf Erfolg. Dazu braucht es selbstredend einen Blockbuster, eine neue Heldengeschichte, die, um den Bogen zum einsamen Western-Outlaw zu schließen, ganz ohne Superkräfte und Schießereien (zumindest stark reduziert!) auskommt und nur die Tatkraft und Wertvorstellungen eines jungen Mannes benötigt. Also auch ein Film mit pädagogischen Ansprüchen, der sowohl für anspruchsvolle ZEIT-Abonenntinnen mit festen Moralvorstellungen „interessant“ ist, als auch die einfache Schichtarbeiterin von Nebenan „super“ unterhält. In diesem Film hält unser Outlaw jedoch keinen Revolver in seiner Hand, mit dem er Werte und Moral verteidigt, sondern schlicht einen USB-Stick mit geheimen Informationen der NSA. Auch helfen ihm anstatt Farmerburschen und grobe Kerle der Prärie Journalisten bei seiner Mission, die absolute Aufklärung zum Ziel hat. Aber das mit der Aufklärung ist wieder eine ganz andere Geschichte - und schreit nach einer pfiffigen Serie.

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DER UNTERGANG DES THOMAS-DEHLER-HAUSES DARF MAN DA LACHEN? JA.

Seit dem 22.September sind sie omnipräsent: Witze über die Wahlniederlage der FDP. Weil uns das zu einfach ist, fragen wir uns eher woher dieser Spott kommt und ob er berechtigt ist (kleiner Tipp: Die Antwort darauf steht bereits in der Überschrift). RON SOMMERFELD

J

ede(r) kennt solche Situationen: Man sitzt nachmittags im Seminar, das eigentlich seit fünf Minuten offiziell vorbei ist. Der Blick auf die Uhr verrät, dass man den Regionalzug vielleicht doch gerade noch bekommen könnte, was wichtig wäre, da doch nachher noch ein Termin ansteht… und dann hebt die Kommilitonin direkt neben einem die Hand. Sie fragt, ob es möglich wäre, noch einmal auf den dritten Punkt des Seminarplanes einzugehen, weil dieser doch klausurrelevant sei und sie noch nicht alles ganz verstanden habe. Man selber hat vor fünfundvierzig Minuten aus dem Augenwinkel sehr gut gesehen, wie sie während der Zeit, in der Punkt drei besprochen wurde, schwer damit beschäftigt war, mit ihrem Smartphone virtuelle Süßigkeiten zu stapeln. Die Dozentin kommt der Bitte natürlich nach und durch das angelehnte Fenster kommt es einem so vor, als könne man in der Ferne den abfahrenden Regionalzug hören. Später am Bahnhof wartet man dann verärgert bei herbstlichen Temperaturen, als plötzlich dieselbe Kommilitonin an einem vorrübergeht und ihr dann ungeschickterweise beim Telefonieren das Handy aus der Hand rutscht und auf dem Boden zerschellt. Das Gefühl, das man dann hat: dieses leichte Kribbeln, dieses heimliche Schmunzeln, das schnelle Wegdrehen – das ist die Schadenfreude. bgesehen davon, dass mittlerweile im Bundestag Kinderlieder gesungen und plumpe Wortwitze gerissen werden, wird man an sich niemals müde zu

beteuern, wie volksnah man doch sei, wie menschlich man geblieben ist. So stellt sich darauf die Frage, inwieweit dann auch so etwas Menschliches wie die Schadenfreude in der Politik erlaubt ist? Darf man sich über den Untergang einer ehemals ehrwürdigen Partei lustig machen und Witze reißen? Darf man darüber lachen, dass die FDP genauso drastisch zerschellt ist wie ein iPhone, das auf den Boden gefallen ist? Ich denke ja. enn man ehrlich ist, nervt es doch ziemlich, dass es in der deutschen Politik gang und gäbe geworden ist, dass geheuchelte menschliche Reaktionen für Selbstbeweihräucherungen instrumentalisiert werden. Man schaue sich nur die übertriebenen Reaktionen auf Parteitagen an: Nach “wichtigen“ Redebeiträgen werden diese oftmals mit schon lächerlich ausgedehnten, RTL-haft wirkenden „Standing Ovations“ bejubelt, dass man zu Hause vor dem Fernseher ernsthaft überlegt, ob man nicht noch schnell bis zum nächsten Redebeitrag eine Staffel Breaking Bad schaut oder kurz die Großeltern im Schwarzwald besuchen fährt. Wenn die Politik menschliche Gefühle als Mittel der Inszenierung einsetzt, muss man auch damit leben, dass es menschliche Gefühle zum Untergang einer Partei gibt - und das Gefühl der Schadenfreude kennt man auf der ganzen Welt. eid und Antipathie sind die Ursachen für dieses Gefühl und für beides hat die FDP in den letzten Monaten vor der Wahl reichlich Gründe geliefert.

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N 26

Es ist wahrlich eine Form von Neid, wenn man mitbekommen hat, wie einfach und offen Lobby-Politik durchgesetzt wurde (Stichwort Hotelsteuer), während andere auf die Straßen gingen, zu Demonstrationen aufriefen und im Großen und Ganzen gesehen, nicht viel erreichen konnten. Ironisch wird es dann noch, wenn sich diese Leute für Themen stark gemacht haben, die eigentlich Themen einer liberalen Partei gewesen wären, wie etwa die gänzliche Aufklärung der NSA-Affäre, welche erst genauerer Beachtung geschenkt wurde, als herauskam, dass Angela Merkels Angry Birds Highscore gelöscht wurde. Noch viel mehr jedoch dürfte die Schadenfreude über das Versagen der FDP durch Antipathie entstehen. Es geht dabei gar nicht um die genauen politischen Vorgänge, um das Verhältnis zur CDU/ CSU oder um die Rollenverteilungen in der Partei, usw., sondern ganz alleine um das Bild, das die FDP in den letzten Jahren von sich gezeichnet hat. Wie erklärt man z. B. 11.000 Angestelltinnen von Schlecker, dass sie arbeitslos geworden sind, weil die FDP eine rettende Finanzspritze von 71 Millionen € als Eingriff in die freie Marktwirtschaft abgelehnt hat und gleichzeitig Millionenbeträge für Fußballstadien oder Milliarden für Flughäfen vorhanden sind? as ganze Verhalten der FDP wirkte in den letzten Monaten vor der Wahl dermaßen unbeholfen, dass man sich doch teilweise gefragt hat, ob das überhaupt alles ernst gemeint sein soll. Der Höhe-

punkt wurde dann kurz vor der Wahl erreicht, als die Partei nach der desolaten Landtagswahl in Bayern offen mit einer Zweitstimmenkampagne warb, obwohl Phillip Rösler 2011 bei seinem Amtsantritt als Parteivorsitzender meinte, dass dies das unwürdigste sei, was der Partei jemals passieren könne. s ist schade, dass es keine liberale Partei im 18. deutschen Bundestag geben wird, aber genauso schade ist es, dass es auch schon lange vor dem 22. September 2013 keine liberale Partei mehr im Bundestag gegeben hat. „Liberale sein“ bedeutet nicht nur, seine eigene Freiheit zu sichern und sich Vorteile zu ermöglichen, sondern auch die Freiheit anderer zu garantieren und ihnen Chancen zu bieten. Das ist allerdings nicht zu vereinbaren mit Lobbypolitik.

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»Sei denn dies dein Abschiedszeichen«, schrie ich, »Unhold ohnegleichen! Hebe dich hinweg und kehre stracks zurück in Plutos Sphär`! Keiner einz`;gen Feder Schwärze bleibe hier, dem finstern Scherze Zeugnis! Laß uns unsern Schmerze allein! -;hinweg dich scher! Friß nicht länger uns am Leben! Pack dich! Fort! Hinweg dich scher!« . . . . . . . Denn der Wähler sprach, »Nimmermehr.«

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Leicht veränderter Ausschnitt von Edgar Allen Poes Der Rabe. 27


POLITIK & GESELLSCHAFT

KANN BEWAHRENSWERTES PROGRESSIV SEIN? ZUM UMGANG DER SPD MIT DER SOZIALISTISCHEN INTERNATIONALEN Der Sozialdemokrat hat wenig, worauf er stolz sein kann. Dass es nun gerade das glorreiche Erbe seiner Partei ist, das mit Füßen getreten wird, lässt einen düsteren Einblick in das Wertesystem der Parteiführung zu. ROBERT HOFMANN

Als die Internationale Arbeiter-Assoziation unter Schirmherrschaft Karl Marx‘ 1864 gegründet wurde, hatte das noch nicht viel zu sagen. Auch wenn man sich als große Vorreiterin für Humanismus und Gleichberechtigung betrachtete, blieb der Wirkungskreis doch noch relativ beschränkt. Als sich die bourgeoisen Kräfte Frankreichs und Deutschlands 1871 trotz Krieges mutig zusammenschlossen, um der revoltierenden Arbeiterklasse der Pariser Kommune blutig das Handwerk zu legen, war der Aufschrei der paar Sozialdemokraten im deutschen Parlament groß. Die Pariser trotzdem tot. Über Streitereien ging man bald schon wieder auseinander, Anarchismus hin, Demokratie her, no money, no power - no socialism. Marx guckte natürlich bedröppelt, würde sich aber heute gleich doppelt umdrehen, wenn er im Grabe die Nachricht von der

Behandlung seines Erbes durch seine Urenkel erführe. Glücklicherweise ist er aber tot, Leichenfledderei kann ihm egal sein. 1889, Engels ließ sich die Unterstützung nicht nehmen und mobilisierte Wilhelm Liebknecht, der die Idee liebte und ganz vorne mitritt. Die Sozialistische Internationale, heute als „Die Zweite Internationale“ oder „Erste Sozialistische Internationale“, je nach Definition und Perspektive, bekannt und Bezugspunkt für das, was heute langsam entmachtet wird, war gegründet. Der Arbeiter war als politischer Faktor noch nicht im Establishment angekommen. Was Marx ab 1848 und seine erste Internationale noch einigen Erfolg hatte haben lassen, die Unterstützung der bürgerlich-demokratischen Bestrebungen der Wohlhabenden bei gleichzeitiger Ablehnung des monarchischen 28

Systems, hatte seine Kinder gefressen. Der Bürger war jetzt wohlhabender denn je und nicht nur systemrelevant, sondern das System - the Man. Die Internationale Solidarität wurde auch nur so lange hochgehalten, wie der Nationalstaat von oben herabblickte. Sobald er angesichts der Scheiße, in der er bis zum Hals steckte, freundlich lächelte und der jeweils nationalen Arbeiterbewegung gegen den kleinen Gefallen, ihn da rauszuschaufeln, Macht anbot, war die internationale Solidarität vergessen. Bald steckte der Arbeiter tief im Schützengraben und noch viel tiefer in der Scheiße, als jeder Staat es jemals könnte. Dass Luxemburg und Liebknecht junior das zu doof

mes im einst so hoffnungsvoll bewunderten post-revolutionären Russland und auch die Sozialistische Arbeiter-Internationale der 20er und 30er, die nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in der Versenkung verschwand, konnte aufgrund auseinanderlaufender Interessen der einzelnen Mitglieder keinen grünen Zweig pflücken, um auf einen roten Faden zu kommen. So war es erst 1951, dass diejenige Organisation gegründet wurde, die bis heute Bestand hat, auch wenn fleißige Sozialdemokraten versuchen, ihr den Hahn abzudrehen. Als Sigmar Gabriel dieses Jahr einen Vortrag an der Uni Potsdam hielt, verwies er mehrfach auf die lan-

war, führte dann in Deutschland zur Spaltung der Arbeiterbewegung. In Frankreich war das bereits viel früher geschehen. Für die „Gruppe Internationale“ Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs, die weiterhin für die Solidarität der internationalen Arbeiterklasse einstand, nach dem Krieg bald zum Spartacusbund wurde, der letztlich in USPD und KPD aufging und zu großen Teilen erschossen wurde, lief es nicht gut. Luxemburg und Liebknecht als Aushängeschilder wurden schon Anfang 1919 unter verantwortlicher Beteiligung machtgeiler Führer der Sozialdemokratie ermordet. Die Internationale war tot und kommunistisch-sovjetische Versuche, sie wiederzubeleben, konnten nicht gutgehen. Die KomIntern entwickelte sich zum verlängerten Arm des totalitären Unrechtsregi-

ge Tradition und Geschichte seiner Partei, er zitierte die Klassiker - auch Wilhelm Liebknecht war dabei. Am Tag vorher war durch die Presse gegangen, dass er eine neue Internationale Organisation gründen wolle, die parallel zur Sozialistischen Internationalen bestehen und sich „Progressive Alliance“ nennen solle. Was hat es damit auf sich? Er nannte sowohl vor studentischem Publikum, als auch in der Presse seine Argumente: Die SI sei ein verkommener Haufen. Geführt von einer katastrophal korrupten Clique um den Griechen Georgios Papandreou. Die SI habe seit Jahren keine Antworten mehr geben können, sie sei ineffizient. Der SI gehörten Gruppierungen an, die nicht mit den Werten der SPD konform sind. Undemokratisch ist wohl noch schmeichelhaft. Auch brauche man ein neues Netzwerk, in dem sich mehr Gruppen 29


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wiederfinden können als der SI. Die amerikanischen Demokraten zum Beispiel würden niemals einem Bündnis beitreten, das sich als „sozialistisch“ definiert. Was sagt man dazu? Zuerst einmal: Recht hat er. Doch ist die Konsequenz, die Mittel zu streichen und der traditionsreichsten internationalistischen Organisation Europas, ja der Welt mitsamt allem, wofür sie steht - oder wofür sie stehen könnte - den Rücken zu kehren, richtig? Wenn man schon so gefragt wird, kennt man die Antwort meistens bereits und auch hier trügt die Intuition nicht: Nein, ist sie nicht! Die deutsche Sozialdemokratie steckt heute in einer tiefen Krise. Die Leute, allen voran die Arbeiter, sofern diese als klassisches Milieu überhaupt noch wert sind, erwähnt zu werden, nehmen ihr nicht ab, aufrichtig für sie zu kämpfen und tatsächlich für das einzustehen, als was sich die Sozialdemokratie einst definiert hat. Eine Rückbesinnung auf Traditionen, eine Renaissance der klassischen Werte mit dem Zitieren ihrer Vordenkerinnen, erfolgreichen Vorgängerinnen und Identitätstifterinnen wäre durchaus angebracht und die fast lächerlich groß angelegte 150-Jahrs-Feier in Leipzig und später Berlin (Das

VON LINKS NACH RECHTS KARL MARX, WILHELM LIEBKNECHT, KARL LIEBKNECHT, ROSA LUXEMBURG VON OBEN NACH UNTEN WILLI BRANDT UND SEIN BONDGIRL, SIGGI GABRIEL OHNE BONDGIRL

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„Deutschlandfest“ - als hätte man so gar nichts gelernt) deuten darauf hin, dass diese Einsicht bereits an den richtigen Stellen Einzug genommen hat. Willy Brandts Konterfei jedenfalls fand sich auf jedem dritten verkauften Bierbecher des Deutschlandfests. Auf seinem Sterbebett wurde Willy Brandt gefragt, worauf er politisch besonders stolz sei. Er erwähnte die Sozialistische Internationale, deren Präsident er von 1976 bis 1992 war. Die Brisanz tritt genau hier zutage. Als Willy Brandt die Präsidentschaft übernahm, war er gerade als Bundeskanzler zurückgetreten, er hatte den Friedensnobelpreis für seine bahnbrechende Ostpolitik verliehen bekommen, sein außenpolitisches Renommee war unvergleichlich. Er war Vorsitzender derjenigen Mitgliedspartei der SI, die mit Abstand am finanzstärksten war und die meisten Mitglieder verbuchte. Willy Brandt kam aus einer Position der Stärke und weigerte sich, die Präsidentschaft zu übernehmen, wenn nicht tiefgreifende Reformen getätigt würden: Die SI galt als hoffnungslos ineffizient, ihr gehörten sehr zwielichtige Gruppierungen an, mit denen die SPD nicht in einen Topf geworfen werden wollte. Die Situation der SI war in Augen Brandts derart aussichtslos, dass er kurz zuvor nicht nur mit dem Gedanken, eine neue internationalistische Organisation zu gründen, geliebäugelt hatte sondern genau das auf – vorerst - informeller Basis getan hatte. Zur tatkräftigen Unterstützung der jungen, post-diktatorischen Republiken in Portugal und Spanien war die SI nicht fähig gewesen, weswegen Brandt die Sache mit einigen internationalen Kolleginnen selbst in die Hand genommen hatte. Er zählte auch noch weitere Dinge auf, doch es sollte deutlich geworden sein, wo die genannte Brisanz liegt. Die Situation war dieselbe wie heute. Und die Lösung lag in der Person Brandts als Präsident. Mit einem klaren Ziel, einer Persönlichkeit, die sich durchsetzen konnte und internationalem Renommee ausgestattet, fand er die Mittel, der SI zu neuer, ungeahnter Kraft zu verhelfen. Brandt musste nicht spalten, obwohl er es gekonnt hätte, dabei setzte auch er sich nicht für den Marxismus, sondern für einen moderaten dritten Weg ein, legte sein Hauptaugenmerk aber auf die Dritte Welt und Integration außereuropäischer Staaten. Die Entscheidung Gabriels, eine Parallelorganisation, die auf kurz oder lang, aufgrund der Unterstützung der mächtigen deutschen Sozialdemokratie

(vergleichbar mit der Vorstellung, die Bundesrepublik trete aus der EU aus), der SI jegliche Tatkraft rauben wird, ist nichts anderes, als bewusste Spaltung. Aber Gabriel ist kein Willy Brandt, Gabriel ist noch nicht mal ein Schmidt oder Müntefering. Gabriel muss das Projekt einer internationalen Sozialdemokratie an die Wand fahren. Das wäre angesichts des Konzepts der Progressive Alliance auch nicht so schlimm, wenn auf dem Weg zu ihrer Entstehung nicht internationalistische Federn gelassen worden wären, mit denen sie sich jetzt schmückt, die sie aber paradoxer weise nicht einmal will, die der SI nun aber an lebensnotwendiger Stelle fehlen. Die US-amerikanischen Demokratinnen sind keine Sozialdemokratinnen, geschweige denn Sozialistinnen, was das Anliegen, das Konzept der Progressive Alliance von Grund auf als verrottetes, stinkendes und verlogenes Geschwür entlarvt. Gabriels aktueller Kurs ist, überstürzt eine Organisation zu etablieren zu suchen, die ihm öffentlichkeitswirksame Auftritte mit internationalen Persönlichkeiten beschert und auf ein Format hieven soll, das ihm die Kanzlerkandidatur ermöglicht. Dieser Kurs ist genauso kurzsichtig wie der der SPD, die sich dabei selbst die Illusion internationalen Einflusses vorhält. Stattdessen sollte die deutsche Sozialdemokratie darauf warten, dass sie auf nationaler Ebene so aufgestellt ist, womöglich sogar eine beachtenswerte Anzahl Wähler hinter sich versammelt, dass sie auf internationaler Bühne die Kraft hat, die SI nach ihren Wünschen zu reformieren wie Brandt es einst tat, wie Liebknecht und Marx sich das mal vorgestellt haben.

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KULTUR

ZURÜCKBLEIBEN, BITTE! EINE U-BAHNFAHRT MIT PIERRE BOURDIEU. Soziologische Theorie is all around: Die Autorin fragt sich nicht, was sie mit ihrem Studium mal anfangen soll. Man kann einfach anders durch die Stadt gehen, die Leute auschecken und sich dazu interessantere Gedanken machen. OLGA KEDENBURG

„Hast du schon `nen Taxischein oder was macht man später damit?“ Wer Soziologie studiert, muss darauf gefasst sein, solche oder ähnliche Reaktionen auf die Wahl des Studienfachs zu bekommen, obwohl sich Absolventinnen dieser Disziplin vermehrt auch in der Markt-

forschung, Werbung und Kommunikationsberatung wieder finden. Will man als Soziologiestudentin von diesen Optionen für den Berufseinstieg Abstand nehmen und kann das Klischee der ‚Taxifahrerin Dr. Phil.‘ mangels Führerschein nicht erfüllen, so gibt einem das 32

Studium zumindest die Möglichkeit, seine Beobachtungen im öffentlichen Nahverkehr theoretisch zu fundieren: Nicht Taxifahrerinnen, sondern kompetente U-Bahnfahrerinnen bildet die sozialwissenschaftliche Fakultät aus. Dass wir unseren Geschmack und Lebensstil nicht individuell sondern gesellschaftlich geprägt ausbilden, haben die meisten Menschen im Gefühl. Ohne nachdenken zu müssen, ordnen wir beispielsweise die Kuscheltier-Miniatur an der Handtasche einer erwachsenen Frau oder die seitlich geknöpfte Jogginghose als Freizeitkleidung einem bestimmten Milieu zu. Dieses entspricht nicht demjenigen, in dem wir die ganz in schwarz gekleidete Mitvierzigerin mit strengem Dutt und dunkelroten Lippenstift, die an der Weinmeister Str. zusteigt, vermuten würden. Die Abgrenzungsmechanismen, die diese symbolische Ordnung der Geschmacksurteile und damit auch Grenzen der sozialen Mobilität aufrecht erhalten, hat der französische Soziologe Pierre Bourdieu in seinem Buch „Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft“ dargelegt, das seine Theorie der Repdroduktion sozialer Ordnung über kulturelle Klassifikation empirisch fundiert darstellt. In Anlehnung an Marx teilt Bourdieu auch die moderne Gesellschaft noch in Klassen ein, die sich jedoch in seiner Konzeption nicht allein am Kriterium der ökonomischen Güter unterscheiden lassen. Vielmehr findet der Klassenkampf sein zeitgenössisches Äquivalent im Konkurrenzkampf um Distinktion und die symbolische Aneignung legitimer Kultur. Die Unterscheidung der Lebensstile fasst Bourdieu mit dem theoretischen Konzept des Habitus, der als Gesamtheit von Denkweisen, Gewohnheiten und Geschmack die Einzelnen klassifiziert: Er drückt sich zum Beispiel in der Haltung, Kleidung und Sprache, also im Auftreten von Personen aus. Gleichzeitig bildet dieser Habitus auch das System von Werthaltungen aus, mit dem diese Personen wiederum ihre Umwelt klassifizieren: Zurück in der U8 hilft er uns also zu verstehen, wieso die Jugendlichen vom Kottbusser Tor sich über den Stoffbeutel der jungen Frau amüsieren und spöttisch mutmaßen, sie könne sich keine Handtasche leisten. Dass dieser ein Abgrenzungsmerkmal gegen den populären Geschmack darstellt, kann jemand, der in den Grenzen eben dieses Habitus‘ urteilt, nicht einordnen. Auch die Studentin selbst kann ihr Geschmacksurteil nicht objektiv unter Einbezug ih-

rer Stellung im sozialen Raum betrachten: Einem gehobenen sozialen Hintergrund entstammend hat sie ein Selbstverständnis ausgebildet, das sie ihren durchweg studentisch-subversiven Geschmack als eigenen, originellen Stil wahrnehmen lässt. Der Konkurrenzkampf um legitime kulturelle Symbole bleibt im Unbewussten, nicht ein Abgrenzungsbedürfnis, sondern ‚guter Geschmack‘ sorgt in der eigenen Deutung des heranwachsenden akademischen Milieus für die Ausprägung des entsprechenden Lebensstils. Davon ausgehend, dass die Einteilung in ‚geschmackvolle Kleidung‘, ‚erlesene Kunst‘ und ‚anspruchsvolle Literatur‘ und ihre Gegenteile, den Kitsch und Schund, immer von den Herrschenden vorgegeben ist, ordnet Bourdieu der gehobenen Klasse den ‚distinktiven Habitus‘ zu, mit dem die obere Klasse sich in permanentem Streben nach Abgrenzung des Populären ihre Einzigartigkeit sichert. Sobald sich die unteren Klassen auf diesen Wettlauf einlassen und die Zeichen des gehobeneren Lebensstils auf ‚prätentiöse‘ Weise nachahmen, werden diese Symbole dem gewöhnlichen Geschmack zugeordnet: So erging es dem Tennis in den achtziger Jahren und vor nicht allzu langer Zeit Nerd-Brillen, Schnurrbart-Symbolen und dem Karohemd. Laut Bourdieu verschieben sich Inhalte und Schauplätze, die Abstände zwischen den sozialen Schichten jedoch bleiben auf diese Weise gleich. Indem Pierre Bourdieu mit seinem Werk die unbewusste Symbolik von Geschmack und Auftreten der Analyse zugänglich macht, liefert er einen Erklärungsansatz zur Beziehung von sozialer Herkunft, beruflicher Laufbahn und späterer gesellschaftlicher Stellung. Mit der Offenbarung der Disktinktionsmechanismen als Reproduktion sozialer Ungleichheit greift er die „Illusion der Chancengleichheit“ an und gibt Anlass zum Hinterfragen der eigenen Deutungsmuster. Angekommen am Hermannplatz kann man nach nur einigen Metern Fußweg überprüfen, wie sich die jungen Distinktionsmeister von der Sonnenallee gegen die Rückeroberung der Nike Air Max One durch die populären Klassen der Jugendkultur rächen: Vielleicht tragen sie ihre selbstzufriedene absolute Gleichgültigkeit gegenüber akzeptierten Modetrends schon bald mit einem ironischen Revival der ‚Umlandhose‘ zur Schau: vorne Jeans, hinten Cord und mit praktischen Halteriemen für die Mate-Flasche. 33


KULTUR

WEAPONS OF MASS CONSTRUCTION

Eine minikleine Einführung in die Postkoloniale Theorie. Ein kleines Plädoyer fürs Lesen und Streiten. Eine ein klitzekleines bisschen größere Erinnerung an Edward Said. LEYLA SOPHIE GLEISSNER

Im Haus der Kulturen der Welt fand Anfang November ein Symposium statt, das den Namen „A journey of ideas across“ trug. Es war einem Mann gewidmet, dessen Werk auch nach seinem Tod im Jahre 2003 zum Zustimmen, Widersprechen, Augenöffnen und Obacht Geben anregt. In Vortrag und Film näherte man sich gemeinsam dem Leben und Werk Edward Saids. Schließen wir uns diesem Ansatz an, denn eben dieses Leben und dieses Werk sind kaum trennbar. 1935 wurde Said als Sohn einer palästinensischen christlich-orthodoxen Familie in Jerusalem geboren. Dank seines wohlhabenden Elternhauses genoss er nach der Übersiedlung nach Kairo eine bestmögliche Schulbildung, um anschließend in Princeton und Harvard zu studieren. Er gilt als eloquentestes Sprachrohr der Palästinenserinnen, er war ein politischer Aktivist. Jemand, der eng beschriebene politische Pamphlete aus dem Fenster seines Elfenbeinturms wirft. Man könnte schnell meinen, Said sei schlicht Teil einer privilegierten Bildungselite, jemand der es „sich leisten kann“ sich zu vielem zu äußern, während er sich auf dem sicheren nordamerikanischem Boden des Bildungsbürgertums bewegt. Doch diese Einschätzung wird ihm nicht gerecht. Es gibt eine Menge Gründe, weshalb sich die Auseinandersetzung mit diesem Autor lohnt.

neu zu setzen. Das gilt auch für wissenschaftliche Fachbereiche. Auch heute neigen wir dazu, Fächer zu kategorisieren, ihre Verflechtungen nicht wahrzunehmen, blind einer einzigen Methodik zu folgen. Auch dass ein Literaturwissenschaftler sich vor allem mit politischen Themen auseinander setzt, scheint auf den ersten Blick nicht selbstverständlich. Said aber sieht sich selbst als politisch Verantwortlichen. So gründete er beispielsweise mit seinem argentinisch-israelischen Freund Daniel Barenboim das „West-Eastern Divan Orchestra“, in welchem Muslimas, Jüdinnen und Christinnen gemeinsam musizieren. „Weapons of mass construction“ nennen sie das. Seine Tätigkeit als Wissenschaftler und als politisch Praktizierender führt er zu jedem Zeitpunkt seines Schaffens zusammen. Er zieht eine Analogie zwischen der Vergleichenden Literaturwissenschaft und seinem erklärten politischen Ziel: Kulturelle Vorgehensweisen vergleichen, mit einander in Bezug stellen, den roten Faden suchen in dem Wirrwarr der Weltgeschichte, Unterschiede aufzeigen ohne zu werten, welche Form von Kultur eine Daseinsberechtigung hat. „Orientalismus“ ist eine Analyse der westlichen Wahrnehmung arabischer Kultur. Der Titel des Buches orientiert sich an Orientalismus als westlich-wissenschaftlicher und künstlerischer Bewegung, die sich im 18. Jahrhundert etabliert. Häufig wird hier ein sexualisiertes, mystisches, ästhetisiertes Bild des arabischen Kulturkreises vermittelt. Orientalismus ist die „Linse“, die der Westen beim Betrachten des Fremden trägt. Ein Orient grade so wie er uns passt- als heutige Auswüchse dessen dürfte man wohl Disneys Aladin bezeichnen. Um dies zu zeigen, wertete der Literaturwissenschaftler verschiedenste Materialien von historischen Quellen bis hin zu Filmen und Zeitungsbeiträgen aus. So stellte er fest, dass die Vorstellungen von der arabischen Welt sich in den letzten Jahrhunderten kaum

1978 erschien sein Hauptwerk „Orientalismus“ welches als ein Gründungsmoment Postkolonialer Theorie gelten darf. Diese beschäftigt sich mit sämtlichen Ursprüngen und Abläufen kolonialistischer Herrschaftsstrukturen und deren Konsequenzen. Inwiefern definiert die Besatzungs- und Unterdrückungsgeschichte die Identität einer postkolonialen Kultur? Wie findet Dekolonialisierung statt? Wie nehmen die jeweiligen „Seiten“ einander wahr? Zur Klärung braucht es verschiedene Disziplinen wie Geschichte, Kulturwissenschaft, Politologie und andere. Das Ziel ist es Grenzen abzubauen anstatt sie 34

weiter entwickelt haben: Die heute gängigste Assoziation des Westens zu Muslimas und Araberinnen sei die der Öllieferantinnen und Bombenlegerinnen. Ihr findet das polemisch? Achtet mal darauf, wie oft sie in einem anderen Kontext thematisiert werden. Die Bilder mögen sich ändern, der Prozess bleibt gleich.

sich gegen die Gegenüberstellung von dem konstituierenden Element und den „Anderen,“ die in ihrer Setzung als solche scheinbar abhängig sind. Was interessieren uns die Verbrechen von gestern fragt ihr jetzt? Nun ja: Sie dauern an. Kulturimperialismus ist nicht ausgestorben. So spannt Said den Bogen von der britisch-französischen Kolonialgeschichte zur heutigen Vorherrschaft der USA. Sämtliche arabische Kulturkreise werden hier als homogene Masse wahrgenommen, die islamische Welt wird zur westlichen Projektionsfläche. Der männliche, starke, vernünftige, objektive Westen. Der weibliche, aggressive, sinnliche und archaisch-unbändige Osten. Das stellt nicht die Existenz islamistischen Terrors in Frage, sondern erinnert daran, dass „Arabien“ kein Land ist und, dass in jedem Land verschiedenste Menschen leben können. Ihr merkt vielleicht: Edward Said ist ein streitbarer Autor. Einer, der zum Diskutieren einlädt. Misstrauisch machen sollten einseitige Urteile, nicht solche, die intensive Debatten auslösen. Sie können ein Ausweg sein aus scheinbaren Widersprüchen und eine Hilfe Gemeinsamkeiten zu entdecken.

Fast spielerisch verbindet Said historische Vorgänge mit ihren allgegenwärtigen Konsequenzen. Napoleons Invasion 1798 in Ägypten betrachtet Said als Anfangspunkt einer neuen Ära zwischen westlicher und arabischer Welt. Mit im Gepäck hatte Herr Bonaparte eine ganze Menge an Wissenschaftlerinnen, die neue Erde inspizieren und vermessen sollten, jeden Stein zweimal in der Hand umdrehen, mit wachem Interesse begutachten und aufzeichnen. Ägypten als Zahl. Ein ungleicher Kampf, in dem Wissen zu Macht wird. Längerfristig entsteht so ein Mechanismus, in dem mächtige Kulturen andere Kulturen nach außen hin zu repräsentieren beginnen und sie dadurch neu bestimmen. Grade so als hätten diese Kulturen vor der Belagerung kaum existiert. Das Begutachten anderer Lebensformen wird zu einem „Sie-sich-zu-eigen-machen“. Saids Kritik richtet

VERBUCHSTABIERT FILMKRITIK: ALPHABET

Genervt vom Arrangement des Films fragt sich die Autorin, ob ihre Unfähigkeit, die unkommentierten Fragmente anzunehmen vielleicht daran liegt, dass sie dem leistungsorientierten Bildungssystem schon zum Opfer gefallen ist. Trotz beeindruckender Passagen überwiegt am Ende die Unzufriedenheit mit der im Aufbau verschleierten plumpen Aussageabsicht der Dokumentation. OLGA KEDENBURG

Mit seiner neuesten Dokumentation „Alphabet“ wendet sich Erwin Wagenhofer dem leistungsorientierten Bildungssystem zu, indem er Positionen zum grundsätzlichen Zugang zu Erziehung und Bildung darstellt sowie fragmentarisch unterschiedliche Bildungserfahrungen portraitiert. Die Dokumentation ist ein breit angelegtes Projekt, das verschiedene Blickwinkel auf Bildung, ihre gesellschaftlichen Zielsetzungen und Auswirkungen auf Einzelne zu

einem Bild der Fundierung einer Konkurrenzgesellschaft arrangieren will. Nachdem der Regisseur in „We Feed The World“ und „Let‘s Make Money“ bereits schonungslos die globalisierte Nahrungsmittelproduktion und Finanzwirtschaft mit ihren sozialen und ökologischen Folgen beleuchtet hat, ist die ganzheitliche Befassung mit dem Thema keine Überraschung. Es geht nicht allein um Fehlentwicklungen im Bildungssystem, 35


KULTUR

vielmehr wird seine grundsätzliche Ausrichtung am ‚Funktionieren‘ abgebildet. Die unkommentierten Sequenzen zeigen Szenen aus Bildungsinstitutionen, die ihren Wettbewerbscharakter besonders am chinesischen Beispiel deutlich offenlegen. Daneben gibt es Standpunkte von Pädagogen, die zur Erhaltung kindlicher Kreativität und der Wertschätzung individueller Begabungen aufrufen und die Ausrichtung an der Logik des Arbeitsmarktes kritisieren sowie einige individuelle Darstellungen von Menschen mit ihrem Werdegang in Bildung und Erziehung. Das fragmentarische Vorgehen des Films stellt in dieser unkommentierten Weise recht hohe Ansprüche an die Zuschauerin, besonders durch die häufigen Sprünge der Kontexte und Eben wird die Dokumentation streckenweise sehr langatmig. Ich frage mich hinterher, ob meine Erwartung eines übergeordneten Regisseurs, der mir in Form von Kommentaren seine beabsichtigte Aussage mitteilt, mich nicht als Produkt genau des gezeigten Bildungssystems entlarvt: Was ist das ‚Lernziel‘ des Films, will ich wohl wissen; was soll vermittelt und kann später abgefragt werden? Diese erlernte Rezeptionsweise mag ein Grund für das Unbehagen mit den filmischen Mitteln sein, darüber hinaus jedoch wirken sie auf den zweiten Blick zudem scheinheilig: Die Auswahl der Bildungsforscher sowie des Neurologen ist klar auf die gewünschte Aussage zugeschnitten, sodass der Film eher Plädoyercharakter hat als die selbstständige Auseinandersetzung mit dem Thema anzuregen. Besonders im Bereich der persönlichen Portraits gelingen dem Film trotzdem sehr eindrückliche Passagen: Die geseufzte Bermerkung „Man, wir haben echt keine Probleme“ aus der Sitzreihe hinter mir bringt das verstörende Bild eines jungen Arbeitslosen, der anstelle der erbetenen Ausbildung eine Vollzeit-Maßnahme im Sicherheitsdienst mit Nachtschichten zum Stundenlohn von 1,25 € absolviert, in seiner Abscheulichkeit so ziemlich auf den Punkt. Gezeigt werden ebenso eine junge Gymnasiastin, die beklagt, wie die schulischen Verpflichtungen ihren Alltag vereinnahmen und dass die Lerninhalte wenig Referenz zur eigentlichen Lebenswelt Jugendlicher bieten. Als Beispiele für gelungene individuelle Förderung von Talenten begleitet der Film den ersten spanischen Hochschulabsolventen mit Down-Syndrom sowie den französischen Gitarren-

bauer André Stern, der nie eine Schule besucht und aus eigenem Antrieb unter Anleitung seiner Eltern all das erlernte, was ihn interessierte: In perfektem autodidaktisch angeeignetem Deutsch malt er die Vorzüge eines Heranwachsens aus, in dem er sich niemals auf fremdbestimmte Weise Inhalte aneignen musste, die er nicht lernen wollte. Als Sohn des Pädagogen Arno Stern, der in Paris einen Malraum zur Förderung des kreativen, konkurrenzfreien Spiels von Kindern betreibt, waren in diesem Fall offensichtlich die Rahmenbedingungen für eine solch freie Erziehung gegeben. Das Beispiel der Familie zeigt eine weitere deutliche Schwäche des Films, indem ausgeblendet wird, dass ein Großteil der Eltern sich in Erwerbsverhältnissen befinden, welche die Betreuung ihrer Kinder in Bildungsinstitutionen zum Sachzwang machen. Auf dem französischen Landsitz der Familie lässt sich in idyllischer Umgebung über freie Bildung und Förderung philosophieren, während die meisten Familien auf Grund sozialer Verhältnisse und eigener Bildungskarrieren weder finanziell noch fachlich in der Lage wären, ihre Kinder selbst zu unterrichten. Die integrative Funktion staatlicher Bildung, die mit anderen pädagogischen Konzepten durchaus weniger normierend und wettbewerbsorientiert arbeiten könnte, wird im gesamten Film nicht besprochen. Zwar prangert er die Ökonomisierung der Lebenswelt auch gesamtgesellschaftlich an und kritisiert die Markt- und Profitorientierung über das Bildungssystem hinaus, in dieser unkommentierten und durch die Protagonisten selbst leider unreflektierten Darstellungsweise jedoch gerät die sozioökonomische Perspektive auf selbstorganisierte unautoritäre Erziehung und Bildung in den Hintergrund: Die Dokumentation geht hier entweder zu weit oder doch nicht weit genug, in dieser Form jedenfalls wird der emanzipierte Bildungsbürger in seinen erhabenen Einsichten auf eher unkritische Weise überhöht.

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DAS IST KUNST MINDESTENS IN 1000 JAHR‘N Ein kurzes Plädoyer für mehr Toleranz gegenüber den Musikgeschmäckern anderer. RONJA KOLLS

W

enn ich neue Leute kennen lerne, ist eine der ersten und unweigerlichen Fragen die nach dem Musikgeschmack. Das liegt vor allem daran, dass die meisten Menschen sich sehr darüber identifizieren. Einige mehr, andere weniger. Ich zähle zu dem Mehr. Aufgrund meiner großen Leidenschaft für Rap folgt darauf oft eine riesige Diskussion. Häufigster Diskussionseinstieg: „Bäh, Hip Hop mag ich gar nicht.“ Das Interessante daran ist, dass diese Aussage in den meisten Fällen gar nicht stimmt, weil ich meistens wenigstens einen Rapper nennen kann, zu dem diese Menschen dann sagen, „Naja, ok, der geht klar.“ Darum soll es hier aber nicht gehen. Sondern viel mehr darum, dass dieser Musikform so häufig ihr künstlerischer Anspruch abgesprochen wird. Und das verstehe ich nicht. Die Frage, die ich mir dann stelle, ist, was soll das überhaupt sein, ein künstlerischer Anspruch? Wer bestimmt denn eigentlich, ob etwas Kunst ist, oder nicht? Wie nicht nur die Juristinnen unter uns wissen sollten, gewährt das Grundgesetz Deutschlands, besser gesagt der Artikel 5, jeder Bürgerin das Recht der freie Meinungsäußerung „in Wort, Schrift und Bild“. Dass dieses Recht häufig mal, gerade in den formellen und informellen Strukturen der Uni, leicht beschnitten wird, ist kein Geheimnis. Jede, die schon mal der ein oder anderen Dozentin zugehört hat oder sich auf eine Diskussion mit ihr eingelassen hat, wird mir zustimmen. Da werden eigene Meinungen häufig einfach mal nicht anerkannt. Dieses elementare Gesetz der Demokratie scheint für so einige Themen, insbesondere für den Kunstbegriff, nicht zu gelten. Ich studiere Lehramt Deutsch. Auch ich werde später meinen Schülerinnen erzählen, dass bestimmte Werke nuneinmal nicht unter dem Begriff der Kunst laufen. Ob dazu dann auch bestimmte musikalische Kunstformen gehören werden, werde ich dann sehen. Je nachdem, ob meine Schüler sich mit Bach oder mit Obie Trice (was macht DER eigentlich?) in ihren Kopfhörern beschäftigen...

Halt mal, das ist doch lächerlich!

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erade ich, als leidenschaftlicher Deutschrapfan, kenne es allzu gut, für seinen Musikgeschmack belächelt zu werden. Ist man dann noch davon überzeugt, Rap und Germanistik würden fabelhaft zusammen passen und Rapper wären doch auf die Quintessenz herunter gebrochen auch nur Linguistinnen und Literatinnen, auf einem rhytmischen Beat, erntet im besten Fall einen schiefen Blick, oder eben eine handfeste Diskussion. Eine dieser Diskussionen, die keine Diskussionen sind, weil nur einer spricht und partout kein Argument gelten lässt und irgendwann beendet wird mit: „ist mir auch egal, du hast doch keine Ahnung“.

A

ber zurück zu der Frage, was ist denn eigentlich Kunst? Liegt Kunst nicht, wie man so schön sagt, im Auge der Betrachterin? Wenn eine Person die Empfindung hat, hier handelt es sich um Kunst, wenn eine Künstlerin von sich sagt, er betrachte das, was er tut, als Kunst, reicht das nicht aus für einen künstlerischen Anspruch? Die Wahrheit ist, ich möchte über meine Empfindung für Kunst bzw. über mein Gefallen nicht diskutieren müssen. Nicht nur weil ich es per Gesetz nicht muss. Wenn mich etwas berührt, in welcher Art auch immer, dann hat der Gegenstand, in diesem Fall das Lied, und damit die Person, die es geschaffen hat, doch bereits genügend zu dessen Daseinsberechtigung als Kunstgegenstand beigetragen. Kunst hat nicht den Anspruch schön zu sein, oder wohlklingend oder jeder zu gefallen. Kunst ist das, was jemand für Kunst hält. Sie kann ekelhaft sein, und auch gewalttätig, und ja sogar sexistisch (uuuh, böse!). Sie kann von Moral frei sein, oder ideologisch überladen Und genau diese Ambivalenz und die Tatsache, dass sie sich an nichts messen lässt, macht sie aus. Art pour l‘art – die Kunst ist sich selbst Genug. Und deshalb wird demnächst meine letztes Argumetn in dieser Frage sein: „Wenn ich es für Kunst halte, ist es das auch!“ Basta!

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LOONA BEI NACHT Nur wenige kennen das Gefühl, zu beobachten, wie Weltbewegendes geschieht. Wenn Loona ihre Hüften schwingt, bleiben nicht nur keine Füße still, sondern auch kein Rad der Geschichte unbewegt. ROBERT HOFMANN

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Die Qualität eines Konzerts resultiert, wie schon jedes Kind weiß, nicht ausschließlich aus der Qualität des Auftritts derjenigen, die man zu sehen kam. Schon der Preis ist ein Faktor, mit dem die Einschätzung einer solchen Veranstaltung stehen oder fallen kann. Ein Wu-Tang Clan Konzert kann noch so geil sein. Wenn man vorher knapp hundert Euro dafür bezahlt hat, kann man nur enttäuscht sein,

wenn nicht mindestens ODB und Tupac zusammen eine Hymne auf die Versöhnung zwischen East- und Westcoast anstimmen. Dann natürlich die Getränkepreise, das Publikum, die Location, die Atmosphäre. Und hier wird es schwierig, die Qualität zu messen. Denn all diese Faktoren spielen zusammen, bilden gemeinsam ein großes, farbenfrohes Konstrukt, das 39


aus verschiedenen Perspektiven betrachtet völlig anders wirken kann. So wie jeder auf der Solarys anders von dem Planeten in den Kopf gebumst wird, muss auch die Perzeption eines Loona-Konzerts einer jeden Zuschauerin anders ausfallen. Davon abgesehen war das Loona-Konzert am 04.10. um etwa ein Uhr morgens sehr, sehr perfekt. Auch objektiv, weil es nichts auszusetzen gab. Für niemanden. Die dicken Mittdreißigerinnen standen direkt an der Bühne und kreischten sich die Seele aus dem Leib, der bodygebuildete Schlosser, der sich kurz zuvor anlässlich des großen Ereignisses noch eine Prise Sonnenbank gegönnt hatte, stand weiter hinten und hüpfte böse guckend auf und ab. Die zierliche Studierende stand ebenfalls ganz vorne, versuchte krampfhaft, Loona in einzigartiger Pose zu photographieren und war, weil das unmöglich zu sein schien sowie der Tatsache, dass sie mit Loonas „Latino lover“ die schönste Nacht ihres Lebens in Verbindung brachte, deren Einmaligkeit ihr aber erst später bewusst wurde und der sie nun für immer hinterhertrauern wird, den Tränen nahe. Und Loona war professionell. Loona war die Professionalität in Person. In 40 Jähriger, falschbrüstiger Person. Sie tanzte, sie sang live, sie klatschte, sie hielt immer mal wieder inne, um ihren Fans den Arm um die Schulter zu legen oder freundlich in die Kamera zu strahlen. Sie sang nicht alle ihre Hits. Weder der „Tiburón“ tauchte auf, um sich ein bisschen großartige Stimmung zu reißen, noch die „Policia“, um Loona wegen ihres „culo[s]s too sexy [sic!]“ zu verhaften. Stattdessen gingen wir mehrmals an den Strand, weil uns und Loona das Tanzen gefiel, die Rhythmen der Nacht präsent waren - von den Klängen der Fiesta ganz zu schweigen. Auf dem Weg nach Hause folgten der Euphorie tiefe Einsichten in Gesellschaft, Feminismus und die Vergänglichkeit unseres Daseins. Loona ist und bleibt die Philosophin der Tanzmusik, die nicht müde wird, uns neben Freude am Tanzen und Lebendigsein, die Augen öffnet und das Hirn in Bewegung versetzt. Zu Rhythmen der Nacht, Sounds der Fiesta.


KULTUR

SEND IN THE MARINES. WO SIND DIE MARINES?

Dass Geschichte nie ganz vergeht und immer wiederkommt, lässt uns hoffen, dass wir eines Tages wieder Akzente aus aller Welt beim One-Linen belauschen dürfen. Und dass am Ende alles explodiert. ROBERT HOFMANN

E

s war in den Achtzigern und frühen Neunzigern, also der Zeit, in der unsere Besten frühmorgens und spät abends jede Gelegenheit suchten und, sofern gefunden, auch wahrnahmen, so viel Fernsehen, Süßigkeiten und Stumpfsinn zu konsumieren, wie ihnen möglich war. Ich spreche nicht von den Scripted-Reality- und menschenverachtenden Reality-TV-Shows, von denen unsere Besten von heute und morgen nicht genug zu bekommen scheinen. Ich spreche vom Actionfilm. Rambo, Commando, Missing in Action, Red Scorpion. Klassiker eines Genres, das heute nicht mehr in der Form existiert wie damals. Während fast alle anderen Genres sich in ihrer Überflüssigkeit und Uninspiriertheit problemlos über die Jahre retten konnten, musste der Actionfilm so einige Federn lassen. Natürlich soll anerkannt werden, dass heutzutage einfach weniger feindliche Systeme bereitstehen, um dem unseren den Garaus zu machen. Kriege enthalten heute nur noch auf einer Seite schweres Gerät und schicke Uniformen und der Turban als Manifestation des Bösen wäre offenbar sogar Filmproduzenten zu dumm und xenophob. Doch die Konsequenz dieser falschverstandenen Political-Correctness ist eine grausame: Bis auf ironisch selbstreferentielle, stets über dem alles verschlingenden Abgrund des Klamauks balancierende Filme wie den „Expendables“, finden wir keine klassische Action mehr in Medien, die diese zu würdigen fähig wären. „I‘m gonna hit you with so many rights, you‘re gonna beg for a left!“ - Für linke Systemkritik war dieses Genre natürlich lebensfeindliches Terrain. Zumindest so lange, wie die stupide Systemkritikerin den Sprung über den roten Schatten zu machen nicht willens oder fähig war. Als Persiflage aus kulturhistorischerVogelperspektive betrachtet, wird nämlich sogar diese anspruchsvolle Kostverächterin nicht nur hervorragend unterhalten, sondern auch mit einem Einblick in die Mentalität eines Zeitalters Heute sind es vor allem die Wrestler, die sich mutig und mit anabolikageschwelllter Brust dem Untergang des Actionfilms in den Weg stellen. Das Maschinengewehr geschultert, die leichtbekleidete Frau im Arm, warten sie auf den Moment, an dem in dem Genre wieder Prestige zu erlangen ist. Bis dahin zeigen sie ihr Können in zweitklassigen, manchmal drittklassigen Produktionen. Doch die Zeit wird kommen, in der der sehnige Bizeps den Felsen aus dem Eingang der Gruft rollt und die Welt sich auf die Erlösung von Langeweile, langen Dialogen und Fremdwörtern einzustellen hat. Noch leidet unser Liebling am Kreuz für die Sünden der Filmindustrie, doch die Zeit wird kommen, in der er uns das Licht des Mündungsfeuers zeigen darf und uns in messianischer Manier das Fleisch von den Knochen ballert.

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GEGENÜBERSTELLUNG

JEDE AUSGABE STELLEN WIR EUCH HIER UNSERE BESTEN VOR: DIE LIEBLICHSTEN IHRES FACHS BEANTWORTEN DIE GLEICHEN FRAGEN UND ÜBERRASCHEN UNS VIELLEICHT MIT BRECHUNGEN SORGSAM GEPFLEGTER KLISCHEES.

MEIN NÄCHSTES REISEZIEL

WO SIEHST DU DICH IN 10 JAHREN?

MEIN NÄCHSTES REISEZIEL

WO SIEHST DU DICH IN 10 JAHREN?

AUF MEINEM MP3-PLAYER LIEF ALS LETZTES:

WANN HAST DU DAS LETZTE MAL GEWEINT?

AUF MEINEM MP3-PLAYER LIEF ALS LETZTES:

WANN HAST DU DAS LETZTE MAL GEWEINT?

AUF MEINEM NACHTTISCH LIEGT:

WAS NERVT DICH?

AUF MEINEM NACHTTISCH LIEGT:

WAS NERVT DICH?

HIGH FIVE ODER GHETTOFAUST?

WAS FEHLT DIR?

HIGH FIVE ODER GHETTOFAUST?

WAS FEHLT DIR?

EAST- ODER WESTCOAST?

DEINE SCHLIMMSTE JUGENDSÜNDE:

EAST- ODER WESTCOAST?

DEINE SCHLIMMSTE JUGENDSÜNDE:

POTSDAM ODER BERLIN?

POTSDAM ODER BERLIN? DEIN LIEBLINGSZITAT:

DIE BESTE BAR DER STADT?

DIE BESTE BAR DER STADT? DURCH DIE NACHT MIT...

UND WENN ALLE STRICKE REISSEN...

DEIN LIEBLINGSZITAT:

DURCH DIE NACHT MIT... UND WENN ALLE STRICKE REISSEN...


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OLGA • ALT-J: SOMETHING GOOD „OH SOMETHING GOOD TONIGHT MADE ME FORGET ABOUT YOU FOR NOW“- SCHWELGERISCHE MELANCHOLIE FÜR TRÜBE NOVEMBERTAGE UND EINE GROSSE HERAUSFORDERUNG FÜR UNTERWEGS, WENN MAN DAZU NEIGT, INSTRUMENTALPASSAGEN DRAMATISCH MITZUDIRIGIEREN. CHRISTOPH • THE WEEKEND: LOVE IN THE SKY VON DEM SPANNENDSTEN R‘N‘B KÜNSTLER UNSERER ZEIT, DER MAL EBEN PORTISHEAD UND FOX THE FOX AUF EINER PLATTE SAMPLED. MUSIK ZUM TANZEN, LIEBE MACHEN UND FÜR DEN MORGEN DANACH. ALEX • SUPER MARIO THEME SONG SUPER MARIO LAND THEME SONG: GENAU DAS RICHTIGE, WENN MAN SICH IM KAMPF MIT SCHILDKRÖTEN UND FIESEN INSEKTEN BEFINDET, UM EINE PRINZESSIN ZU RETTEN. ROBERT • LOONA: VAMOS A LA PLAYA VAMOS A LA PLAYA, A MI ME GUSTA BAILAR, EL RITMO DE LA NOCHE, SOUNDS OF FIESTA. DER STRAND IST HIER ALS SYMBOL ZU VERSTEHEN. DAS GLEICHE GILT FÜR DIE RHYTHMEN DER NACHT, DIE SOUNDS DES FEIERNS UND NATÜRLICH DAS TANZEN. NUR LOONA, DIE MEINT SICH ERNST. RON • OLLI SCHULZ: KOKS UND NUTTEN EIN LIED ÜBERS SCHEITERN UND WEITERMACHEN, ÜBER HASS UND LIEBE UND ÜBER HOFFNUNG UND MUSIK.JA, WAS WILL MAN DENN MEHR? LEYLA • FRANÇOISE HARDY: LE TEMPS DE L’AMOUR STATT GRAUEM BERLINER WINTERHIMMEL HINTRÄUMEN UNTER DIE MOHNBLAUE PARISER FRÜHLINGSVERSION. BESONDERS SCHÖN EINGEBETTET WURDE DIESES SÄUSELLIED IN WES ANDERSONS FILM „ MOONRISE KINGDOM“. TROP ROMANTIQUE, HEIN? RONJA • SSIO: NUTTÖÖÖ WER IST SSIO? SO VIELES, SO FACETTENREICH, ALSO LASS DEM JUNGEN SEINEN SPASS UND IHN ENDLICH MAL EIN BULLENAUTO FAHREN. AUSSERDEM IST ER FAIR UND BUMST AUCH DICKERE FRAUN NUTÖÖÖÖ!

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D I S K U T I E R E O N L I N E M I T: Z U R Q U E L L E .WO R D P R E S S.C O M


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