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BERGE
STEPHAN SIEGRIST ERSTBEGEHUNG FÜR SEINE VERSTORBENEN FREUNDE
text Laurent Grabet fotos Nicolas Hojac
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Märchenlandschaft: Wind und Kälte erzeugen auf den oberen Hängen der Andengipfel teilweise bizarre und anmutige Gebilde.
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Irreführend: Die Berge in Patagonien sind nicht sonderlich hoch, doch die Gletscher, Schneekuppen und schmalen Felskämme lassen sie wie Hochgebirge wirken.
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Ohne geht nichts: Das Eisgerät mit der steil geneigten Haue ist in diesem Eis- und Schneegelände unverzichtbar.
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Der bekannte Schweizer Alpinist Stephan Siegrist hat diesen Winter seine 19. Expedition in Patagonien beendet. Zusammen mit zwei Landsmännern eröffnete er in der steilen Nordostwand des Cerro Cachet (2700 m) eine neue Route. Das Trio widmete die Erstbegehung den verstorbenen Bergsteigern Julian Zanker, David Lama und Ueli Steck.
«Ich lebe fürs Bergsteigen. Ich liebe den engen Kontakt mit den Elementen während der Gipfelbesteigung. Und ich mag es, wenn das Abenteuer bereits beim Aussteigen aus dem Flugzeug beginnt, wie das diesmal der Fall war.» Stephan Siegrist hegt auch mit 48 Jahren noch immer die gleiche Leidenschaft für die Berge. Sie hat sich im Lauf der Jahre, der Erfahrungen und mit dem Tod von Freunden zwar etwas gemässigt, ist aber tiefer geworden. Vom 3. November bis 15. Dezember 2019 unternahm der Berner Alpinist und Bergführer seine 19. Expedition in Patagonien. Höhepunkt des Abenteuers war die anspruchsvolle Erstbegehung der Nordostwand des Cerro Cachet (2700 m).
WETTERKAPRIOLEN
Stephan Siegrist und seine Seilbrüder tauften die neue Route in Erinnerung an Ueli Steck (1976-2017), David Lama (1990-2019) und Julian Zanker (1990-2019) Homenaje a los amigos perdidos (Hommage an verlorene Freunde). Zanker, der im Februar 2019 bei einem Sturz in der Eigernordwand tödlich verunglückt ist, hätte eigentlich bei der Patagonien-Expedition mit dabei sein sollen. Siegrist und er hatten ihr Vorhaben anhand einer Fotografie, einigen Screenshots von Google Earth und spärlichen Informationen aus früheren Expeditionen in dieser Region geplant. Der Norden Patagoniens ist bei Bergsteigern noch relativ unbekannt. Es gebe keine genaue Geländekarte, was die Besteigungen noch abenteuerlicher mache, sagt Siegrist. Er wurde von zwei Landsmännern begleitet: dem Appenzeller und angehenden Bergführer Lukas Hinterberger (26) und dem Berner Nicolas Hojac (27). Beide hatten dem Expeditionsteam des Schweizer Alpen-Clubs (SAC) angehört und beide waren noch nie zuvor in Patagonien gewesen. «In Patagonien sind die Berge nicht sehr hoch, es braucht daher keine lange Akklimatisierungsphase», berichtet Hojac. «Dafür ist das Wetter extrem wechselhaft, was das Ganze kompliziert.»
UNWIRTLICH UND DOCH MAGISCH
Ein Auge stets auf die Wetterprognosen gerichtet mussten die drei Männer geschlagene drei Wochen im sparta-
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Inschrift: Die drei Schweizer Bergsteiger haben sich auf diesem Felsen am Rande eines patagonischen Walds neben ihrem Basislager verewigt.
nischen Basislager ausharren, das sie eigenhändig an einem verlassenen Waldrand gebaut hatten. Es herrschte eine friedliche «Into the Wild»-Atmosphäre, auch wenn sich die Warterei ziemlich lange hinzog. «Wir haben die Zeit mit Lesen, Gitarrespielen und Schach totgeschlagen», erzählt Stephan Siegrist. «Als sich dann endlich ein Wetterfenster öffnete, sind wir sofort zum Cerro Lago (2799 m) aufgebrochen.» Ein gutes Warm-up! «Eigentlich glich dieser Ausflug eher einer anstrengenden Skitour mit einer kurzen Eiskletterpartie als einer Gipfelbegehung. » Die wirkliche Herausforderung aber stand erst noch bevor: der Cerro Cachet. Er war 1971 von einem neuseeländischen Team erstbegangen worden, allerdings über eine deutlich weniger schwierige Route. Die Schweizer wollten es über die Nordostwand versuchen. «Sie ist praktisch durchgehend senkrecht und erinnert an die Grandes Jorasses», beschreibt der Ringgenberger die Herausforderung. «Wir hatten vereinbart, sie zu dritt zu besteigen, denn in diesen abgelegenen Bergen, wo das Wetter abrupt umschlagen kann, erhöhen wir so bei einem Unfall die Überlebenschancen.» Um 7 Uhr morgens erreichten sie die ersten heiklen Stellen. Unter Zeitdruck und Adrenalin kletterten sie gleich weiter. Als erstes meisterten sie eine Schlucht mit eis- und schneebedecken Wänden. «Die Morgensonne spiegelte sich in den Kristallen und brachte sie zum Glitzern. Beim Anblick dieser magischen Kulisse hob sich unsere Stimmung nach so vielen Schlechtwettertagen mit einem Schlag», erinnert sich Siegrist. Gegen 10 Uhr standen die drei Bergsteiger auf dem Pass. Vor ihnen lag das eigentliche Meisterstück: eine 600 Meter hohe Gipfelwand, die senkrecht in einen strahlend blauen Himmel ragte. Niemand hatte sich jemals zuvor daran gewagt.
VIEL ERFAHRUNG UND EIN SOLIDES NERVENKOSTÜM
Die ersten 80 Meter brachte das Trio schnell hinter sich. Das Eis war tückisch und brüchig. Stephan Siegrist: «Es war höchste Vorsicht gefragt. Ich musste den Granitfelsen freilegen, um eine gute Stelle für meine Eisgeräte zu finden. Echte Sicherungen anzubringen war nahezu unmöglich. Wir mussten unsere ganze Erfahrung abrufen, um diesen Abschnitt zu bewältigen.» Einfacher wurde es danach aber auch nicht. Der darauffolgende Kamin erwies sich als ebenso knifflig. Mit kühlem Kopf übernahmen die drei abwechselnd den Lead. Sie wussten, dass der kleinste Fehler für alle böse enden könnte. Die schwierigsten Passagen seien bestimmt M7+, schätzten sie. Gegen Schluss wurde die Route einfacher. Nach letzten 120 Metern unkomplizierter Kletterei erreichten die Bergsteiger die Gipfelwechte. Wenig später, gegen 19 Uhr, fielen sie sich nach der zwölfstündigen Plackerei freudestrahlend in die Arme. Bevor es ans Abseilen ging, legten sie im Gedenken an Julian Zanker eine kleine Puppe am höchsten Punkt des Bergs ab, im Bewusstsein, dass «das Leben oft nur an einem seidenen Faden namens Glück hängt».
www.stephan-siegrist.ch