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UMWELT
SPORTMARKEN SETZEN AUF NACHHALTIGKEIT
text Claude Hervé-Bazin foto Picture Organic Clothing
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Das Who's who der Sport- und Outdoorbranche trifft sich jedes Jahr an der ISPO Munich zu einem grossen Stelldichein. An der vielbeachteten Messe werden die neusten Innovationen präsentiert und die aktuellsten Trends gezeigt. Neu im Fokus steht das Thema Nachhaltigkeit.
ISPO, WICHTIGSTES TREFFEN DER OUTDOORBRANCHE
I für International, S für Sport, P für Professional und O für Outdoor. ISPO, die grösste Sportartikelmesse der Welt, feiert dieses Jahr ihr 50-jähriges Jubiläum. Ende Januar präsentierten in München 2950 Aussteller den 83 000 Besuchern ihre Produkte auf einer Fläche von 200 000 Quadratmetern. Als weltweites Sportnetzwerk organisiert ISPO zudem zwei Messen in China sowie die OutDoor by ISPO in Bayern – lauter Plattformen für Neuheiten und technische Innovationen aus der Welt des Sports. 2020 wurde die ISPO Munich unter drei Mottos gestellt: Be active, Be creative, Be responsible. Den Ausschlag für diese Devise gab ein Sinneswandel in der Branche. Nachdem die grossen Sportmarken über die Erwartungen hinaus innoviert haben, wächst bei ihnen jetzt das Bewusstsein, dass sie auch in Bezug auf Nachhaltigkeit und die umweltbewusste und sozial verträgliche Herstellung ihrer Produkte Verantwortung übernehmen müssen. ISPO hat sie in die Pflicht genommen und gemeinsam mit der European Outdoor Conservation Association (EOCA) einen Verhaltenskodex erarbeitet, der Organisatoren, Ausstellern und Besuchern der Messe konkrete Empfehlungen gibt, wie sie klimaneutral, ressourcenschonend und nachhaltig handeln können.
Messechef Klaus Dittrich gibt ein klares Statement ab: «Wir wollen in den nächsten 50 Jahren die weltweit grösste Sport-Business-Plattform werden und den Wandel in unserer Branche vorantreiben, indem wir Antworten auf die dringlichsten Fragen unserer Zeit finden: Wie begegnen wir dem Klimawandel? Wie stellen wir es an, Chancen für alle zu schaffen, statt die Schere zwischen Arm und Reich weiter zu vergrössern? Wie können wir für mehr Nachhaltigkeit sorgen? Wir sind überzeugt, dass Sport einen wichtigen Beitrag leisten kann, Antworten auf diese grundlegenden Fragen zu finden, die unsere Gesellschaft und die Unternehmen umtreiben. Wir müssen Lösungen finden, bevor es zu spät ist.»
VOM GREENWASHING ZUM GREENDOING
ISPO rückt das Thema Nachhaltigkeit daher in den Mittelpunkt. Am 29. Juni werden rund 250 Vordenker und Visionäre aus Sport, Politik, Kultur, Wirtschaft und Zivilgesellschaft am SDG (Sustainable Development Goals) Summit in München Lösungen suchen, wie sich die Ziele der nachhaltigen Entwicklung in der Outdoorbranche am effizientesten umsetzen lassen. Prominentester Gast ist Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus, der Erfinder des Mikrokredits. Als Vorbild dienen ISPO die 17 Ziele der Agenda 2030 der Vereinten Nationen. Sie umfassen unter anderem die Beendigung von Armut und Hunger, den Zugang zu Gesundheitsversorgung, Wasser und Bildung, die Nutzung erneuerbarer Energien, einen verantwortungsvollen Ressourcenverbrauch, die Bekämpfung des Klimawandels und die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung von Industrie, Städten und Gemeinschaften. Jetzt ist die Zeit, die weltverändernde Kraft von Sport und Outdoor zu entfesseln, sagt der Slogan. Mark Held, Präsident der European Outdoor Group (EOG), die als Verbund die Sportmarken vertritt, betonte erst vor Kurzem, wie wichtig es sei, dass sich die Branche für mehr soziale und ökologische Gerechtigkeit einsetze. 97 Prozent der EOG-Mitglieder haben sich bereits verpflichtet, ihren ökologischen Fussabdruck zu reduzieren. Laut Held investiert die Sportbranche jedes Jahr 200 Millionen Dollar in die nachhaltige Entwicklung. Zahlreiche Unternehmen wie Mammut verzichten auf das schwer abbaubare Treibhausgas PFC und auf das krebserregende PVC. Andere suchen Alternativen
zum ebenfalls krebserregenden Teflon und zu Nanopartikeln, die sich unkontrolliert in der Umwelt verbreiten.
Einige Erfolge konnte ISPO diesbezüglich schon verbuchen. So gründeten wichtige europäische Industrieverbände das nicht gewinnorientierte Microfiber Consortium. Es forscht in einer branchenübergreifenden Zusammenarbeit nach Lösungen, um die Freisetzung von Mikroplastik durch das Waschen synthetischer Textilien zu verhindern. Ausserdem setzt es sich für weniger Einwegplastik bei Verpackungen ein. Das Material wird vor dem Verkauf an den Endkunden in sauberem Zustand recycelt, sodass sich seine Lebensdauer erhöht und es bis zu 14 Mal wiederverwendet werden kann. Décathlon, der grösste Sportartikelhändler Europas, sowie weitere Unternehmen haben sich bereits verpflichtet. Nicht zuletzt finanziert die EOG seit zwölf Jahren die European Outdoor Conservation Association, die lokale Umweltprojekte wie Strandsäuberungen unterstützt. Doch wie Klaus Dittrich richtig betont: «Wir befinden uns erst am Anfang des Wandels.»
RICHTUNGSWEISENDE HERSTELLER
Neben Worten hat die Messe ein starkes Instrument im Ärmel: die ISPO Brandnew Awards, mit denen die vielversprechendsten Newcomer der Sportbranche für ihre kreativen Ansätze und sportlichen Weiterentwicklungen ausgezeichnet werden. Lange wurden die Preise überwiegend für reine Innovationen, technische Errungenschaften und Fortschritte bei atmungsaktiven, wind-, regen- und schneefesten Stoffen vergeben. Das könnte sich ändern. Bereits dieses Jahr erhielt die Membran «eco pur» des jungen Schweizer Startup-Unternehmens dimpora einen Award. Das netzartige Material ist frei von PFC und vollkommen biologisch abbaubar. Entworfen wurde es in der ETH Zürich mit finanzieller Unterstützung von Innosuisse. Im Rahmen des ISPO Sustainability Hubs Ende Januar präsentierten Hersteller an der GRV Transparency Tour biobasierte und biologisch abbaubare Materialien und Produkte. Das amerikanische Unternehmen PrimaLoft, dessen Kunstfaserisolationen von vielen grossen Marken eingesetzt werden, hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2020 insgesamt 90 Prozent seiner Isolationsprodukte mit einem Mindestanteil von 50 Prozent recycelten Material aus PET-Flaschen herzustellen. Parallel dazu hat die Marke mit dem Slogan We are relentlessly responsible die erste biologisch abbaubare (zu 93,8% in zwei Jahren) und ganz aus Recyclingmaterial gefertigte Textil- und Isolationsfaser PrimaLoft Bio entwickelt. Sie wurde für Mikro-Organismen appetitlicher gemacht, sodass sie von diesen um ein Vielfaches schneller verzehrt und in den natürlichen Kreislauf ausgeschieden wird. In dieser Erfindung steckt enormes Potenzial. Allein in den USA landen noch immer zwei Drittel der Textilabfälle – die sich seit 1960 verneunfacht haben – auf der Müllhalde. PrimaLoft ist der aktuell grösste Lieferant von Isolationsmaterialien mit bluesign-Zertifizierung für eine verantwortungsbewusste und nachhaltige Textilherstellung. Die niederländische Firma DyeCoo weckte an der GRV Transparency Tour ebenfalls grosses Interesse. Sie hat ein industriell anwendbares Textilfärbeverfahren entwickelt, das ganz ohne Wasser und schädliche Chemikalien auskommt und sich besonders gut für Polyester eignet. Damit sich die Farbstoffe lösen und verteilen, wird CO2 mit Hochdruck erhitzt. Bei einem weltweiten Einsatz könnten so über drei Milliarden Kubikmeter Wasser gespart werden. 95 Prozent des verwendeten CO2 werden zudem wiederverwertet. Die revolutionäre Technologie hat DyeCoo am Weltwirtschaftsforum 2019 eine Nomination für den Circular Economy Award eingetragen und findet bereits in mehrere asiatischen Fabriken von Nike, Adidas und Mizuna Anwendung.
VORZEIGEBEISPIEL PATAGONIA
Einem Unternehmen macht in Sachen Nachhaltigkeit niemand etwas vor. Patagonia hat ihr grünes Gewissen schon vor Jahren entdeckt. Bereits in den 1970er-Jahren achtete Patagonia auf Initiative seines Gründers Yvon Chouinard (lesen Sie den Artikel über ihn in unserer Ausgabe 73) aus ethischen Gründen auf Qualität und Nachhaltigkeit. Es stellte vor allen anderen Kleidung aus wiederverwertetem PET und Biobaumwolle her, engagierte sich politisch für Umweltschutz, reparierte Produkte und bot sie zum Wiederverkauf an, gründete und finanzierte die Umweltorganisation One Percent for the Planet (1% des Umsatzes), und, und, und. Bei mehreren Herstellern ist Umweltschutz mittlerweile ein fester Bestandteil der Firmenstrategie. Der bayerische Bergausrüster Vaude zum Beispiel garantiert unter fairen Bedingungen hergestellte Produkte (in Partnerschaft mit der Fair
Wear Foundation) aus nachhaltigen Materialien und Ressourcen. Sie sind zeitlos, haltbar und reparierbar, was ihre Lebensdauer erheblich erhöht. Vaude, das jedes Jahr einen Nachhaltigkeitsbericht veröffentlicht, hat sogar einen klimaneutralen Hauptsitz mit Biokantine gebaut. Das Beispiel zeigt, dass es durchaus möglich ist, die Arbeitsbedingungen bei den Zulieferern zu kontrollieren, auch wenn sich diese am anderen Ende der Welt befinden.
Das 2008 gegründete französische Unternehmen Picture dachte von Anfang an konsequent nachhaltig. In München wurde es mit ISPO Gold Awards überhäuft. Seine Produkte bestehen ausschliesslich aus wiederverwertetem, biologischem oder biobasiertem Material. Jackenfutter aus Stoffresten? Warum nicht! Helme aus Mais-Polymer? Auch das geht. Neopren lässt sich nur schwer recyclen? Picture hat die Antwort mit einem Surfanzug aus 85 Prozent natürlichem Kautschuk. Ausgezeichnet wurde auch das Harvest Jacket, dessen Stoff aus Zuckerrohr und Rizinusöl gefertigt wird. Alle diese visionären Firmen haben Pionierarbeit geleistet und den Weg für die Big Player geebnet. Adidas zum Beispiel wird den ersten vollständigen recycelbaren Laufschuh auf den Markt bringen. Konsumenten können die ausgetragenen Sneaker an den Sportartikelhersteller zurückgeben, der sie dann zermahlt und zu einem neuen Paar Schuhe verarbeitet.
In etwas kleinerem Rahmen leistet auch die englische Firma Nikwax mit ihren Imprägnierungsmitteln auf Wasser- und Wachsbasis einen Umweltbeitrag. Sie geben den Funktionskleidern ihre ursprünglichen Schutz- und Atmungseigenschaften zurück. Damit diese beim Waschen nicht zerstört werden, hat Nikwax zudem ein spezielles biologisch abbaubares Waschmittel entwickelt.
DIE ZUKUNFT GEHÖRT DER EINFACHHEIT
Sind einige Marken vor lauter technischem Fortschrittsstreben vom Weg abgekommen? Brauchen wir in unseren Breitengraden wirklich Jacken für extreme Minustemperaturen? Hochtechnische, gesundheitlich und ökologisch teilweise fragwürdige Materialien sind im Rückgang begriffen oder werden den neuen Anforderungen angepasst. Heute wird vermehrt auf Holz (für Ski), Biobaumwolle, Hanf und Biokunststoffe gesetzt. Die Nachfrage nach umweltverträglichen Materialien steigt. Fast Fashion und Überkonsum sind out. Für die Outdoor-Branche wie für alle Unternehmen auf der ganzen Welt ist es an der Zeit, diese Trends zu berücksichtigen. Jetzt sind mittel- und langfristige Sichtweisen gefragt. Die Produktionsauswirkungen auf Umwelt und Menschen müssen gemessen und die Umweltbemühungen koordiniert und integriert werden. Ein allgemeingültiger gesetzlicher Rahmen würde eine solche Entwicklung ziemlich sicher fördern. Der von Ursula von der Leyen, der neuen Präsidentin der Europäischen Kommission, geplante Green Deal könnte ein gangbarer Weg sein, falls er nicht zur simplen Absichtserklärung verkommt. Solange die Unternehmen nicht gesetzlich zur Nachhaltigkeit verpflichtet werden, sind wir auf individuelle Initiativen angewiesen. Doch auch diese können viel bewirken, denken wir an die Fashion Revolution, die Carry Somers 2014 nach dem Einsturz des Rana-Plaza-Gebäudes in Bangladesch, bei dem 1138 Angestellte von Textilfabriken getötet wurden, lanciert hat.
Nicht ganz so einschneidend, aber ebenfalls lobenswert ist die Initiative der Olympischen Sommerspiele in Tokio, die 5000 Medaillen aus alten elektronischen Geräten herzustellen. Sogar die Podeste werden aus Recyclingmaterial gebaut. Eine Aktion mit Symbolwert!
AUF DEM INDEX Neben den verschiedenen Labels und Awards lässt sich die Ernsthaftigkeit der Umweltbemühungen in der Bekleidungs- und Schuhindustrie mit einem spezifischen Tool messen: dem Higg-Index. Er wurde unter der Schirmherrschaft der Sustainable Apparel Coalition entwickelt und hat bereits 250 Mitglieder aus 35 Ländern mit einem Gesamtumsatz von 500 Milliarden Dollar. Dem Konsumenten bietet der Index die Möglichkeit, die nachhaltigsten Marken zu identifizieren, den Branchenakteuren, ihre Partner anhand ihres Umweltengagements auszuwählen.
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