Schutzlos ausgeliefert – Das Recht auf Gesundheit in der Corona-Krise

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DAS MAGAZIN FÃœR DIE MENSCHENRECHTE

AMNESTY JOURNAL

SCHUTZLOS AUSGELIEFERT DAS RECHT AUF GESUNDHEIT IN DER CORONA-KRISE

PROZESS IN KOBLENZ Syriens Staatsfolter vor Gericht

25 JAHRE SREBRENICA Ein Bild und seine grausame Geschichte

BILDER EINER GUERILLA Die FARC aus der Sicht eines kolumbianischen Fotografen

04 2020

JULI / AUGUST


INHALT

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TITEL: MENSCHENRECHTSKRISE UND CORONA Brasilien: Zu Besuch in Rio de Janeiros Armenviertel Cruzada São Sebastião

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Lateinamerika: Wenn es nur das Virus wäre

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Afrika: Viele Schlagstöcke, wenige Ärzte

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Amnesty im Lockdown: Dann eben digital

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Europäische Union: Nationen-Virus bedroht die Grundrechte

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Kommentar zur EU-Flüchtlingspolitik: Menschenrechte bleiben auf der Strecke

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Allein und doch gemeinsam. 50.000 Corona-Tote hat Brasilien zu beklagen. In den Armenvierteln breitet sich das Virus rasant aus. Der Fotograf Nicoló Lanfranchi hat sich in einem überwiegend von Schwarzen bewohnten Stadtteil von Rio de Janeiro umgesehen.

Er kämpft gegen Syriens Höllenmaschinerie. In Koblenz hat der erste Prozess wegen staatlicher Folter in Syriens Gefängnissen begonnen. Angeklagt sind zwei ehemalige Geheimdienstmitarbeiter. Überlebende wollen auch Präsident Assad zur Rechenschaft ziehen.

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POLITIK & GESELLSCHAFT Syrien-Prozess: Zwei ehemalige Geheimdienstmitarbeiter vor Gericht

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Graphic Report Ägypten: Permanenter Ausnahmezustand

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25 Jahre Srebrenica: Das Foto mit dem Schlächter

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Menschenrechte in Afghanistan: Beweise gäbe es genügend 40 Im Osten der Ukraine: Mörser und Minen als Nachbarn

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Menschen- und Arbeitsrechte: Hätte, hätte, Lieferkette

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Frauenmorde in Bolivien: Wer sich wehrt, muss sterben

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KULTUR Fotograf über Kolumbien: Ein Fenster zwischen den Welten 54 Nachruf auf Schriftsteller Luis Sepúlveda: In der Rebellion zu Hause

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Katja Riemann über humanitäre Arbeit: »Ich bin nur die Botin«

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Streaming-Serie »Unorthodox«: Exodus einer Frau

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Musik in Ägypten: Kein Pogo in Kairo

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Buch über Globalisierung: Jetzt geht’s rund

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Musiker unter Druck: Mundtot gemacht

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RUBRIKEN Panorama 04 Einsatz mit Erfolg 06 Markus N. Beeko über Menschenwürde 07 Spotlight: Corona-App 08 Interview: Anne Busch-Heizmann 09 Was tun 50 Porträt: Aminatou Haidar, Westsahara 52 Dranbleiben: Sudan, Ruanda, Georgien 53 Rezensionen: Bücher 67 Rezensionen: Film & Musik 68 Briefe gegen das Vergessen 70 Aktiv für Amnesty 74 Impressum 75

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Hätte, hätte, Lieferkette. Bei der Herstellung von Palmöl in Guatemala, dem Abbau von Kobalt im Kongo und anderen industriellen Vorprodukten spielen Menschen- und Arbeitsrechte oft kaum eine Rolle. Lieferkettengesetze in Europa sollen das ändern.

In der Rebellion zu Hause. Der chilenische Schriftsteller und Menschenrechtsaktivist Luis Sepúlveda ist im Alter von 70 Jahren gestorben. Sepúlveda war eng mit Amnesty Deutschland verbunden. Die Organisation half ihm dabei, aus der Haft freizukommen und ins Exil zu gehen.

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20 DIE ZENTREN der Corona-Pandemie haben sich verschoben. Während zunächst China und Europa im Mittelpunkt standen, sind es nun die USA, Brasilien und Indien. Es ist nicht nur eine geografische, sondern auch eine soziale Verschiebung. So lässt das Virus in Brasilien insbesondere ärmere Menschen erkranken und sterben. Der Schwerpunkt dieser Ausgabe befasst sich deshalb unter anderem mit der Ausbreitung von Covid-19 in Brasilien und auf dem amerikanischen Kontinent.

Viele Schlagstöcke, wenige Ärzte. In Afrika hat Covid-19 nicht nur eine Gesundheitskrise ausgelöst. Viele Regierungen nutzen die Pandemie als Vorwand für politische Maßnahmen, um die Menschenrechte einzuschränken.

Mörser und Minen als Nachbarn. Im Donbass liefern sich prorussische Separatisten und die ukrainische Armee seit Jahren Kämpfe. Die Leidtragenden sind vor allem alte Menschen, die in der Region bleiben müssen.

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Ein Fenster zwischen den Welten. Vor vier Jahren schlossen die kolumbianische Regierung und die Guerilla FARC einen Friedensvertrag. Der Fotograf Federico Ríos Escobar hat die Rebellen während der Entwaffnung begleitet. Ein Gespräch darüber, warum Frieden schwer zu erreichen ist.

Titelbild: Kauan und Alexandre in ihrem Viertel in Rio de Janeiro. Siehe unsere Fotoreportage ab Seite 12. Foto: Nicoló Lanfranchi Fotos oben: Nicoló Lanfranchi | Donwilson Odhiambo / Zuma Wire / pa Philomena Wolflingseder | Klaus Petrus | The Noun Project Federico Ríos Escobar | Sophie Bassouls / Sygma / Getty Images

INHALT

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EDITORIAL

Weitere Zentren dieser Ausgabe: Hannah El-Hitami ist für uns nach Koblenz gereist. Dort hat der weltweit erste Prozess begonnen, in dem es um die systematische Staatsfolter in Syrien geht, die irgendwann hoffentlich geahndet wird. Klaus Petrus nimmt den fast vergessenen bewaffneten Konflikt im Osten der Ukraine in den Blick. Und Lea De Gregorio erinnert daran, wie Amnesty-Mitglieder in Deutschland dem jüngst in Spanien an Covid-19 verstorbenen Schriftsteller Luis Sepúlveda einst halfen, Haft und Folter in Chile zu entkommen. Das Amnesty Journal gibt es nicht nur gedruckt oder als PDF, sondern auch online. Unsere Website www.amnesty.de/journal wird demnächst umgestaltet, erste Pläne sind gemacht. Doch schon jetzt finden Sie dort viele Berichte, Interviews, Kommentare und Reportagen aus aller Welt. Im Online-Netzwerk Twitter können Sie uns unter https://twitter.com/AmnestyJournal folgen und sehen, was wir unter #Menschenrechtsjournalismus verstehen.

Foto: Gordon Welters

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Wie unterschiedlich sich die Pandemie in den Zentren auswirkt, zeigen nicht nur Protokolle von Amnesty-Mitarbeitern aus vier Ländern, sondern auch Analysen von Corona in Afrika und Europa. Für Markus N. Beeko, den Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland, stehen derzeit die »Funktionsfähigkeit und das Selbstverständnis der Europäischen Union auf dem Spiel«, weil infolge von Covid-19 eine Renationalisierung zu beobachten ist. Und just in diesem Moment übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft.

Und noch etwas ist uns ein zentrales Anliegen: Bleiben Sie gesund! Maik Söhler ist verantwortlicher Redakteur des Amnesty Journals.

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PANORAMA

Foto: David Cliff / NurPhoto / pa

USA: »I CAN’T BREATHE« Die Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt haben sich innerhalb kürzester Zeit weltweit ausgebreitet. Wie am Trafalgar Square in London demonstrierten in zahlreichen europäischen Städten Zehntausende Menschen. Auslöser war der Tod des Schwarzen George Floyd bei einem brutalen Polizeieinsatz in Minneapolis im US-Bundesstaat Minnesota im Mai. Die beteiligten Polizisten wurden mittlerweile verhaftet und angeklagt. Derek Chauvin, der sein Knie in den Nacken von Floyd presste, muss sich wegen Mordes zweiten Grades verantworten. Drei weitere Beamte sind wegen Beihilfe zum Mord sowie Beihilfe zum Totschlag angeklagt. Unterdessen hält die rassistische Polizeigewalt in den USA an: Im Juni wurde Rayshard Brooks bei einem Einsatz in Atlanta durch Schüsse in den Rücken getötet. Amnesty kritisiert seit vielen Jahren die Anwendung unnötiger, unverhältnismäßiger und rechtswidriger Gewalt der US-amerikanischen Polizeikräfte und fordert unter anderem, die Polizei grundlegend zu reformieren und sie nicht mehr mit Militärausrüstung auszustatten.

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HONGKONG: DAS ENDE DER AUTONOMIE? »Ein Land, zwei Systeme« – davon wird wohl nicht mehr viel bleiben, wenn das Sicherheitsgesetz verabschiedet wird, mit dem die kommunistische Führung Chinas ihre Macht in der Sonderverwaltungszone Hongkong ausweiten will. Damit könnte künftig jegliche Kritik an China strafrechtliche Folgen haben. Vertreter des prodemokratischen Lagers in Hongkong befürchten das Ende der Autonomie und der kraftvollen Demokratiebewegung, deren Proteste wegen der Corona-Krise bereits stark eingeschränkt sind. Noch im Juni 2019 waren Millionen Menschen durch die Straßen der Stadt gezogen, die 7,5 Millionen Einwohner hat. Schüler, Studenten, junge Familien und Senioren demonstrierten erfolgreich gegen das umstrittene Auslieferungsgesetz, das Hongkongs Regierung im Oktober 2019 vollständig zurücknehmen musste. Das neue Sicherheitsgesetz ist ein Schlag ins Gesicht der Demonstrierenden, deren Proteste zwar deutlich kleiner ausfallen als vor einem Jahr, die sich aber nicht stoppen lassen. Es könnte ein heißer Sommer werden im Kampf um Freiheit und Menschenrechte in Hongkong. Foto: Tommy Walker / NurPhoto / pa

PANORAMA

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EINSATZ MIT ERFOLG

BELARUS Die Generalstaatsanwaltschaft von Belarus hat es im April abgelehnt, Nikolai Makhalichev an Russland auszuliefern. Er gehĂśrt den Zeugen Jehovas an, die in Russland als ÂťextremistischÂŤ eingestuft sind, und war seit Februar in Belarus in Haft. Nach einer Auslieferung hätten ihm in Russland acht bis zehn Jahre Haft gedroht, obwohl er kein offizielles Amt in der Glaubensgemeinschaft bekleidet, sondern nur an Gottesdiensten teilgenommen hat. Makhalichev wurde nach der Ablehnung des Auslieferungsgesuchs freigelassen und wartet nun auf eine Entscheidung Ăźber seinen in Belarus gestellten Asylantrag. Amnesty betrachtet die Strafverfolgung von AngehĂśrigen der Zeugen Jehovas in Russland als willkĂźrliche und diskriminierende MaĂ&#x;nahme.

Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen an den ÂťUrgent ActionsÂŤ, den ÂťBriefen gegen das VergessenÂŤ und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz Folter verhindert, die Freilassung Gefangener bewirkt und Menschen vor unfairen Prozessen schĂźtzt, zeigt unsere Weltkarte. Siehe auch: www.amnesty.de/erfolge

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VENEZUELA Der venezolanische Journalist Darvinson Rojas wurde am 2. April gegen Kaution freigelassen. Er war wegen seiner Berichterstattung Ăźber die Corona-Krise festgenommen und zwĂślf Tage lang willkĂźrlich in Haft gehalten worden. Die strafrechtlichen Ermittlungen gegen ihn wurden allerdings nicht eingestellt. Er ist wegen ÂťFĂśrderung von HassÂŤ und ÂťAnstiftung zu StraftatenÂŤ angeklagt. Amnesty geht davon aus, dass mit der strafrechtlichen Verfolgung seine Berichterstattung Ăźber die Pandemie in Venezuela unterbunden werden soll. Die Organisation wird seinen Fall weiter beobachten und sich dafĂźr einsetzen, dass die Anklagen gegen ihn fallen gelassen werden.

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SAUDI-ARABIEN Die Todesstrafe fĂźr Minderjährige gehĂśrt in Saudi-Arabien seit April der Vergangenheit an. Beschuldigte, die zum Tatzeitpunkt minderjährig waren, erwartet nun eine HĂśchststrafe von zehn Jahren Gefängnis. Allerdings sind Straftaten nach dem Antiterrorgesetz von der Neuregelung ausgenommen. Es ist unklar, welche Strafe Minderjährige erwartet, die auf dieser Grundlage verurteilt wurden. Das Antiterrorgesetz enthält vage Definitionen von ÂťTerrorismusÂŤ und Bestimmungen, die friedliche MeinungsäuĂ&#x;erungen kriminalisieren. Amnesty hat die saudischen BehĂśrden aufgefordert, die Todesstrafe vollständig abzuschaffen. 2019 wurden in dem Land mindestens 184 Personen hingerichtet. Dies war die hĂśchste Zahl, die Amnesty unter Berufung auf Zahlen des Innenministeriums seit 2000 dokumentiert hat.

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BAHRAIN Ende Mai wurde Ebrahim Ahmed Radi al-Moqdad aus dem Jaw-Gefängnis in Manama entlassen. Jehad Sadeq Aziz Salman, der mit ihm gemeinsam verurteilt worden war, kam bereits Mitte März frei, als rund 1.500 Inhaftierte wegen der Corona-Pandemie freigelassen wurden. Die jungen Männer waren 2012 im Alter von 15 und 16 Jahren bei einer regierungskritischen Demonstration in Bilad al-Qadeem festgenommen worden. 2013 wurden sie in einem unfairen Gerichtsverfahren zu zehn Jahren Haft verurteilt. Amnesty setzte sich mit Solidaritätsaktionen fßr Jehad Sadeq Aziz Salman und Ebrahim Ahmed Radi al-Moqdad ein. Die BehÜrden verhinderten zwar, dass Briefe von Unterstßtzern die beiden im Gefängnis erreichten, doch wussten sie und ihre Familien davon.

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MYANMAR Nay Zar Tun, Khin Cho Naing und Myint Zaw sind im April und Mai nach Strafminderungen vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen worden. Sie hatten sich fĂźr den ehemaligen Kindersoldaten Aung Ko Htwe eingesetzt, der 2018 nach einem Interview Ăźber seine Erfahrungen beim Militär in Myanmar angeklagt worden war. Seine Schwester Nay Zar Tun hatte sich deshalb mit Khin Cho Naing, Myint Zaw und weiteren Personen friedlich vor dem Gerichtsgebäude versammelt, um gegen die Anklage zu protestieren. Die drei Aktivisten wurden im Mai und Juni 2019 inhaftiert und im Dezember zu Haftstrafen zwischen 12 und 18 Monaten verurteilt. Amnesty hatte ihre Freilassung gefordert, weil sie friedlich ihr Recht auf freie MeinungsäuĂ&#x;erung ausgeĂźbt hatten.

EINSATZ MIT ERFOLG

MARKUS N. BEEKO ĂœBER

Foto: Bernd Hartung / Amnesty

CHINA Nach mehr als zwei Jahren ist die Uigurin Guligeina Tashimaimati im Mai aus einem Umerziehungslager in China entlassen worden. Tashimaimaiti war seit dem 26. Dezember 2017 vermisst worden. Die Doktorandin an der Technischen Universität Malaysia war damals in ihre Heimatstadt in der autonomen Region Xinjiang gereist, obwohl Freunde und Verwandte ihr geraten hatten, nicht zurßckzukehren. Nach ihrer Freilassung konnte Guligeina Tashimaimaiti per Video-Anruf mit ihrer Familie sprechen. Die Familie berichtete, sie habe gesund ausgesehen. Die chinesischen BehÜrden halten zahlreiche Uiguren aus der autonomen Region Xinjiang willkßrlich und teilweise jahrelang in Umerziehungslagern fest. Amnesty prangert diese Lager seit Jahren an und fordert die Freilassung der Inhaftierten.

MENSCHENWĂœRDE Als Wolfgang Schäuble Ende April in einem Interview zur Corona-Krise darauf hinwies, dass dem Recht auf Leben nicht alles unterzuordnen sei – sondern alles der Achtung der MenschenwĂźrde –, da lĂśste er eine lebhafte Diskussion aus. Diejenigen, die sich zu diesem Zeitpunkt fĂźr eine Lockerung der Corona-Einschränkungen aussprachen, sahen darin ein Plädoyer fĂźr eine stärkere BerĂźcksichtigung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen der Pandemie-MaĂ&#x;nahmen. Sie wollten den Bundestagspräsidenten so verstanden wissen, dass der Schutz von Menschenleben mit wirtschaftlichen oder kulturellen Rechten abgewogen werden mĂźsse. Beim Blick auf das Weltgeschehen konnte man Schäubles Worte als Erinnerung an die Unteilbarkeit der Menschenrechte, aber auch als Erinnerung an die Universalität der Menschenrechte und den Schutz von Leben und WĂźrde aller Menschen gleichermaĂ&#x;en nehmen. In Indien hatte die Regierung Wochen zuvor einen totalen Lockdown mit Ausgangssperren und der Einstellung des Ăśffentlichen Personenverkehrs verordnet: Hundertausende waren von einem Moment zum anderen ohne Arbeit, ohne Lebensmittel fĂźr ihre Familien, ohne grundlegende Versorgung. Menschen versuchten, sich quer durchs Land zu FuĂ&#x; zu ihren Familien durchzuschlagen, der Pandemiegefahr folgte fĂźr viele ein humanitärer Notstand, der von den BehĂśrden nur mit VerzĂśgerung und unzureichend erkannt und adressiert wurde. Im Libanon und in Venezuela gingen Menschen auf die StraĂ&#x;e, weil sie in grĂśĂ&#x;erer Sorge waren zu verhungern, als sich mit Covid-19 zu infizieren. Dies machte auf dramatische Weise zwei Dinge deutlich. Erstens, dass der Staat in seiner Verpflichtung Leben zu schĂźtzen auch verpflichtet ist, aktiv fĂźr den Schutz anderer Rechte zu sorgen, die grundlegend sind fĂźr das Leben und Ăœberleben. Und zweitens, dass es beim Schutz von Menschenleben auch immer darum gehen muss, dass Leben nicht bewusst auf Kosten des Lebens – und der MenschenwĂźrde – von anderen ÂťgeschĂźtztÂŤ werden darf. Der Schritt zur Forderung eines US-amerikanischen Politikers, die ÂťAlten mĂśgen sich doch gegebenenfalls zum Wohle der JungenÂŤ opfern, ist sonst nicht mehr weit. Vor allen Dingen sollte uns Schäubles Erinnerung im Kopf sein, wenn im Nachgang der Pandemie wirtschaftliche und politische Akteure mit dem Heilsversprechen eines zukĂźnftigen Âťperfekten GesundheitsschutzesÂŤ auf den Plan treten. Im Gepäck kĂśnnten sie neue digitale Systeme und den uneingeschränkten Einsatz von kĂźnstlicher Intelligenz haben. Und das alles zum Âťwohl vertretbaren PreisÂŤ der Aufgabe von Datenschutz, Selbstbestimmung und Privatsphäre. Markus N. Beeko ist Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion.

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SPOTLIGHT

Foto: Stefan Jaitner / dpa / pa

CORONA-APP: MIT DEM SMARTPHONE GEGEN DAS VIRUS

App geht’s, aber nur mit Datenschutz! Die Corona-Warnanwendung am Handy-Bildschirm.

Covid-19-Erkrankte sind zu Beginn ihrer Ansteckung am infektiösesten. Um die Pandemie eindämmen zu können, ist also ein möglichst rasches Unterbrechen der Infektionsketten entscheidend. Die Idee der Corona-Warn-App: Sie führt Buch darüber, welche Menschen in der Nähe waren – und kann so ihre Nutzer warnen, falls sie jemandem zu nahe gekommen sind, von dem sich später herausstellt, dass er sich mit dem Virus infiziert hat. Ist das der Fall, kann man sich testen lassen und isolieren. Intensive Kritik äußerten Datenschützer in der Entwicklungsphase mit Verweis auf Tracing-Apps, die zum Beispiel in

»Menschen, die sich der Nutzung verweigern, dürfen keine negativen Konsequenzen erfahren.« FORDERUNG DES CHAOS COMPUTER CLUBS

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China, Indien oder Südkorea verwendet werden. Sie erfassen persönliche Daten, überwachen den Aufenthaltsort und machen die Nutzer für die Behörden und die Umgebung identifizierbar. Die Bundesregierung hingegen setzt auf das Konzept einer dezentralen Datenverwaltung: Sensible Informationen werden dabei als Code verschlüsselt nur auf den Smartphones der Nutzer gespeichert. Darüber hinaus haben die Entwickler – Deutsche Telekom und SAP – den Quellcode der App im Internet veröffentlicht. So konnten andere Programmierer überprüfen, wie die App funktioniert, welche Daten sie sammelt, wo sie gespeichert

BIS

werden und ob es Hintertüren gibt, durch die eine Überwachung der Nutzer möglich wäre. Das Vertrauen in die App ist essenziell für ihren Erfolg: Nur wenn ein Großteil der Bevölkerung sie nutzt, geht das Konzept auf. Ob die App helfen kann im Kampf gegen die Pandemie, ist jedoch umstritten. Erfahrungen anderer Länder dämpfen die Erwartungen. In Island zum Beispiel, dem europäischen Land mit der weitreichendsten Expertise, gibt man sich zurückhaltend, was den Nutzen bei der Eindämmung angeht. Auch Italien, Frankreich und Großbritannien wollen solche Apps einsetzen.

MEHR ALS

60 70 65.000 PROZENT DER BEVÖLKERUNG MÜSSEN DIE APP INSTALLIEREN, DAMIT EINE EFFEKTIVE KONTAKTVERFOLGUNG GELINGT, SAGEN EXPERTEN.

FREIWILLIGE SOFTWAREEXPERTEN HABEN SICH DIE QUELLCODES DER CORONA-APP ANGESEHEN.

Quelle: Deutsche Telekom und SAP (Mai 2020)

AMNESTY JOURNAL | 04/2020


INTERVIEW

ANNE BUSCH-HEIZMANN

»MENSCHENRECHTE GELTEN NICHT NUR IN GUTEN ZEITEN« Foto: Mark Bollhorst

Digitale Technologien sollen helfen, die Corona-Pandemie einzudämmen. Aus menschenrechtlicher Sicht sind sie oft fragwürdig. Anne Busch-Heizmann vom Verein Digitale Gesellschaft erklärt, was bei der Einführung einer Corona-App zu beachten war. Interview: Lea De Gregorio

Inwieweit darf das Recht auf Privatsphäre wegen der Gesundheit zurückgestellt werden? Wir von der Digitalen Gesellschaft sagen: Menschenrechte gelten nicht nur in guten Zeiten. Wenn Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus eingeführt werden, sollten sie das Recht auf Privatsphäre so wenig wie möglich gefährden. Welche Technologie ist besonders kritisch zu sehen? Derzeit wird besonders über die Corona-App diskutiert. Über das Smartphone sollen Kontakte zwischen Personen abgebildet und Infektionsketten nachvollzogen werden. Inzwischen hat man sich darauf geeinigt, dass es eine dezentrale Speicherung der Daten geben wird – keine zentrale. Das ist ein guter Schritt. Risiken und Kritikpunkte bleiben aber. Welche? Es stellt sich die Frage des Zwecks. Die App darf nur dazu dienen, der Corona-Pandemie entgegenzuwirken. Außerdem muss die Frage der Verhältnismäßigkeit geklärt werden – inwiefern eine solche App die Pandemie eindämmen kann. Kritisch ist insbesondere zu sehen, ob die Nutzung wirklich freiwillig sein wird. Der Europaabgeordnete Axel Voss hat mögliche Anreize für Nutzer der App ins Spiel gebracht – etwa, dass sie früher in Restaurants reinkommen oder früher wieder reisen dürfen. Dann wäre der Druck hoch, die App zu installieren, es wäre eine Pseudofreiwilligkeit. Was ist denn bei der Einführung solcher Technologien noch zu beachten? Sie müssen zunächst einmal das Ergebnis einer öffentlichen Diskussion sein. Bei der App gibt es in Deutschland viel Gegen-

SPOTLIGHT

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INTERVIEW

wind. Es muss eine gesetzliche Grundlage geben, in der die Zweckbindung und die Freiwilligkeit geregelt sind. Außerdem muss klar sein, dass die App außer Kraft gesetzt wird, sobald die Pandemie vorbei ist. Die Telekom übermittelt bereits anonymisierte Handydaten an das Robert-Koch-Institut. Ist das auch problematisch? Die Frage ist, was Anonymisierung bedeutet. Man muss sich vorstellen, dass Daten, die heute anonym sind, durch neue Techniken in Zukunft möglicherweise nicht mehr anonym sind. Und auch hier stellt sich die Frage der Verhältnismäßigkeit. Bei der Datenübermittlung geht es um Funkzellendaten. Die Daten, die erhoben werden, stammen von Sendemasten. Der ermittelte Radius, in dem sich die Leute aufgehalten haben, ist jedoch zu groß, um Kontakte verlässlich abzubilden. China nutzt in hohem Maße Überwachungstechnologie. Werden nun auch andere Länder zum Überwachungsstaat? Das hängt von der Stärke des Rechtsstaats und von der Kultur des Landes ab. Davon, wie die Zivilgesellschaft ihre Stimme erhebt. Die Frage ist, inwiefern Tabubrüche und Grenzüberschreitungen geduldet werden. Derzeit besteht außerdem die Gefahr, dass im Hintergrund Gesetze beschlossen werden, die Grundrechte beschneiden: zum Beispiel der Einsatz von Upload-Filtern für rechtswidrige Inhalte. Die öffentliche Debatte wird vom Virus überschattet. Im Hintergrund können Gesetze auf den Weg gebracht werden, die unsere Freiheitsrechte gefährden. Der gemeinnützige Verein Digitale Gesellschaft setzt sich seit 2010 für Grundrechte und Verbraucherschutz im digitalen Raum ein.

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TITEL

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Menschenrechtskrise und Corona

Auf keinem Kontinent hat die Corona-Pandemie bisher so gewütet wie in Amerika. Von Brasilien bis in die USA sind die Schäden für viele Menschen kaum abzusehen. Staatliche Maßnahmen fehlen oder werden repressiver. Darunter haben die Menschenrechte zu leiden. Während sich Teile Europas die Grundrechte zurückholen, sind andere Regionen der Welt noch lange nicht so weit, wie Amnesty-Mitarbeiter erzählen.

Nur die USA verzeichnen mehr Corona-Tote. Beisetzung eines Opfers in Rio de Janeiro. Foto: Nicoló Lanfranchi

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Bedrohung im Blick? Eine Bewohnerin des Stadtviertels Cruzada São Sebastião in Rio de Janeiro, Brasilien.

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Allein und doch gemeinsam Mehr als 50.000 Corona-Tote hat Brasilien bereits zu beklagen. Vor allem in den dicht besiedelten Armenvierteln breitet sich das Virus rasant aus. Der italienische Fotograf Nicoló Lanfranchi hat sich in einem überwiegend von Schwarzen bewohnten Viertel in Rio de Janeiro umgesehen.

raurige Ranglisten und das Bekanntgeben bedrückender Rekorde sind im Zuge der Corona-Pandemie zum Medienalltag geworden. Während europäische Länder immer weniger Neuinfektionen und Todesfälle melden, stehen die USA mit mehr als zwei Millionen bekannter Infektionsfälle und mehr als 120.000 Toten (Stand: Juni) an der Spitze der Tabelle. Doch ein weiteres amerikanisches Land, derzeit auf Platz zwei, schließt schnell auf: Brasilien. Dort tötete das Virus eine Zeit lang etwa einen Menschen pro Minute, wie die Zeitung Folha de São Paulo ausgerechnet hat. Mehr als 50.000 Tote verzeichnet Brasilien, über eine Million Infektionen wurden bislang gemeldet (Stand: Juni). Experten vermuten allerdings eine hohe Dunkelziffer, da zu wenig getestet werde. Und weil die brasilianische Bevölkerung sehr jung ist, könnte es sein, dass der Krankheitsverlauf bei vielen Patienten mild verläuft und eine Ansteckung häufig unerkannt bleibt. Der wohl größte Störfaktor beim Versuch, die Pandemie mit vereinten Kräften koordiniert einzudämmen, ist das Staatsoberhaupt: Jair Bolsonaro hat Covid-19 immer wieder verharmlosend als »gripezinha« (»Grippchen«) bezeichnet. Um die Wirtschaft zu schützen, wehrte er sich lange gegen Schutzmaßnahmen und verlangte von den einzelnen Bundesstaaten, Beschränkungen zurückzunehmen. Bei Massenkundgebungen und Demonstrationen schüttelte er die Hände zahlloser Anhänger. Er entließ Gesundheitsminister, die seinen Umgang mit der Pandemie kritisierten, und untergrub eine transparente Informationspolitik systematisch. Kritiker werfen ihm vor, er wolle das Ausmaß der Pandemie verschleiern. Zuletzt drohte Bolsonaro damit, aus der Weltgesundheitsorganisation auszutreten, der er ideologische Voreingenommenheit vorwarf. Doch es regt sich Widerstand. Einer Umfrage zufolge bewerten mehr als 40 Prozent der Bevölkerung seine Amtsführung als »schlecht« oder »sehr schlecht«. Im bevölkerungsreichsten Land Lateinamerikas wächst die Angst vor dem wirtschaftlichen Kollaps und sozialen Verwerfungen. Menschen demonstrieren auf den Straßen gegen Bolsonaro, in Rio de Janeiro haben Aktivisten am Strand von Copacabana symbolische Gräber ausgehoben, um ein Zeichen gegen seine Corona-Politik zu setzen. Während der Präsident sie als »Asoziale« und »Terroristen« diffamiert und durch die Krise irrlichtert, leiden vor allem jene unter den Folgen der Pandemie, die in prekären Verhältnissen leben. Viele Brasilianerinnen und Brasilianer können sich nicht an Ausgangsbeschränkungen halten, weil sie ihrer Arbeit nachgehen müssen, um zu überleben. Zwar werden Isolationsmaßnahmen befürwortet – doch die Stimmung könnte bei wachsender wirtschaftlicher Not schnell kippen. Die Ausbreitung des Virus in den dicht besiedelten Armenvierteln Brasiliens gilt als Schreckensszenario. Der italienische Fotograf Nicoló Lanfranchi hat in den vergangenen Wochen das Leben der Bewohner von Cruzada São Sebastião dokumentiert, einem Wohnkomplex im Stadtteil Leblon in Rio de Janeiro. Die Häuser entstanden Mitte der 1950er Jahre auf Initiative des Bischofs Dom Helder Câmara als Pilotprojekt, um Wohnraum für Menschen aus Elendsvierteln zu schaffen. Die städtebauliche Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte hat dazu geführt, dass dort Reiche und Arme in unmittelbarer Nachbarschaft leben: Die zehn baufälligen Wohnblöcke der Siedlung stehen mitten in einer der begehrtesten Gegenden von Rio, umgeben von Tennisplätzen und Swimmingpools. Text: Tobias Oellig

MENSCHENRECHTSKRISE UND CORONA

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Eduarda Machado (60) vor dem Appartment, in dem sie mit ihrer Schwester lebt. Sie hat für eine Reinigungsfirma gearbeitet und ist seit März arbeitslos. »Die Zukunft nach Corona ist sehr unsicher. Ich hoffe, dass all die schlechten Leute, die immer nur an sich selbst gedacht haben, mal Solidarität mit anderen zeigen.«

Reinaldo Evangelista (63) ist Vorsitzender der Anwohnervereinigung von São Sebastião, wo er seit 35 Jahren mit Frau und Kindern lebt. Evangelista hat für Filmproduktionen gearbeitet und ist nun arbeitslos. »Wir haben alle Schwierigkeiten, aber auch Freunde, die uns helfen. Einer schaut nach dem anderen. Mit Solidarität und dem Wissen, dass wir alle gleich sind.«

Rio de Janeiro

Copacabana Cruzada São Sebastião Marcos dos Santos Jr. (43). Sein Vater ist an Covid-19 gestorben. »Gerade in schwierigen Zeiten versuchen wir, einander zu helfen. Viele Leute hier sind benachteiligt, die meisten von ihnen sind schwarz. Seit der Kolonialzeit war das Drehbuch immer gleich, nur die Schauspieler haben gewechselt.«

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Leblon

Ipanema

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Luciana Machado (41) verkauft im Viertel Alkohol und Zigaretten.

MENSCHENRECHTSKRISE UND CORONA

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Leandro Amaral (26) arbeitet als Lieferant für einen Supermarkt.

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Hellen Souza (38) ist Friseurin, übernimmt nun aber auch die

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Kauan Alves (17, links) und Alexandre Silva (19). Alexandre ist Student: »Ich nehme die Pandemie ernst und gehe nur im Notfall vor die Tür.« Er lebt mit seiner Mutter (48) und seiner Großmutter (64) zusammen. »Rassismus, Ungleichheit? Das gibt es nicht erst seit heute. Deswegen bin ich nicht wütend, eher unzufrieden.«

Fußpflege für ihre Kundinnen.

MENSCHENRECHTSKRISE UND CORONA

Lívia Nogueira (29) hat wegen der Corona-Krise keinen Job mehr, auch ihr Mann ist arbeitslos. Sie haben drei Kinder. »Diese Pandemie ist ein Alptraum, viele haben ihre Arbeit verloren. Es gibt Leute, die hungern und in ihrer Wohnung eingesperrt sind. Schwarze und Weiße erfahren Ungleichheit, wenn es darum geht, im Krankenhaus gut behandelt zu werden oder eine gute Arbeit zu finden.«

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Auf den Punkt gebracht. Abstand halten an einer Busstation, Quito, Ecuador, am 3. Juni 2020.

Wenn es nur das Virus wäre Lateinamerika ist ein Epizentrum der Corona-Pandemie. Die Zahl der Toten ist hoch, Armut und Repression nehmen zu. Strukturelle Probleme treten offen zutage und verschärfen sich noch. Von Wolf-Dieter Vogel

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s ist nur ein kurzer Satz, ein paar Worte, die alle verstehen können: »Quédate en casa.« – »Bleib zu Hause.« Ständig bittet der mexikanische Epidemiologe Hugo López-Gatell seine Mitmenschen, das Haus nur zu verlassen, wenn es unbedingt nötig ist. López-Gatell ist der Regierungsbeauftragte für die Covid-19-Pandemie. Doch auch er weiß,

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dass sein Appell in vielen Ohren wohlfeil klingt. Denn für die Hälfte der Bevölkerung gilt: Wer heute nicht fremde Wohnungen putzt, auf dem Markt T-Shirts verkauft, für einen Tagelohn Tomaten erntet oder auf einem Parkplatz Autos einweist, hat morgen nichts zu essen. Ähnlich sieht es in den meisten lateinamerikanischen Staaten aus: Ob in El Salvador, Venezuela, Peru

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Foto: Rodrigo Buendia / AFP / Getty Images

oder Bolivien, mindestens 50 Prozent der arbeitenden Bevölkerung sind im informellen Sektor tätig. Häufig sogar noch mehr. Wer also kann es sich überhaupt leisten, zu Hause zu bleiben? Und wie sollen sich Menschen die Hände waschen, wenn das Wasser nur selten, nur spärlich oder gar nicht aus dem Hahn läuft? »45 Prozent der Haushalte leben in prekären Wohnverhältnissen, die keine ausreichenden sanitären Anlagen haben und völlig überbelegt sind«, erklärt der ecuadorianische Wirtschaftswissenschaftler Alberto Acosta. Arbeit im Homeoffice ist unter diesen Umständen kaum denkbar, zumal ohnehin nur ein Drittel einen Computer sowie Zugang zum Internet hat. »Die Pandemie legt die sozialen Ungleichheiten offen«, sagt Acosta, »und führt zu einer Zunahme von Armut und Gewalt.« Zu diesem Schluss kommt auch die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika (Cepal). Die Staaten des Subkontinents hätten bereits vor der Pandemie ein geringes Wachstum verzeichnet, wegen Covid-19 werde es zum »schlimmsten wirtschaftlichen Zusammenbruch seit 1930« kommen, prognostiziert Cepal. Schon jetzt sind etwa 30 Prozent der 625 Millionen Lateinamerikanerinnen und Lateinamerikaner arm, weitere 30 Millionen könnten hinzukommen. Die Existenz zahlreicher kleiner und mittlerer Betriebe ist gefährdet, die Arbeitslosigkeit wird voraussichtlich deutlich zunehmen. Besonders betroffen sind Frauen, etwa jene zehn Millionen, die ohne rechtliche Absicherung als Hausangestellte tätig sind. Auch die sexuelle Gewalt hat zugenommen: Mexiko verzeichnete allein im April 337 Frauenmorde – ein neuer Höchststand. Obwohl die Pandemie in Lateinamerika erst spät angekommen ist und die Regierungen damit mehr Zeit hatten, sich vorzubereiten, ist die Eindämmung schwer. Das hat auch damit zu tun, dass einige Regierungen die Gefahr nicht ernst nahmen. Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro leugnet die Risiken bis heute, der mexikanische Staatschef Andrés Manuel López Obrador genoss noch Wochen nach Ausbruch des Virus das Bad in der Menge, und der nicaraguanische Machthaber Daniel Ortega rief zu Massenversammlungen gegen die Pandemie auf. Auch unabhängig vom Gebaren einiger Präsidenten hat Lateinamerikas Gesundheitspolitik mit schwierigen strukturellen Bedingungen zu kämpfen. Märkte und Verkehrsmittel sind überfüllt mit Menschen, die arbeiten müssen, viele Haushalte können nötige Hygienemaßnahmen nicht einhalten, heruntergewirtschaftete Gesundheitssysteme verhindern eine adäquate Behandlung. Es fehlt an allem – an Beatmungsgeräten, Betten, Personal. In Mexiko lehnten Ärztinnen und Ärzte Corona-Behandlungen ab, weil sie keine Schutzkleidung hatten. Immer wieder werden Medizinerinnen und Mediziner körperlich angegriffen, weil sie verdächtigt werden, das Virus zu übertragen. In der ecuadorianischen Großstadt Guayaquil weigerten sich Bestatter und Gerichtsmediziner, Tote zu untersuchen und abzuholen. Hunderte von Leichen verwesten in den Häusern oder auf der Straße.

Korruption und Repression Die drohende humanitäre Katastrophe ist das Ergebnis korrupter Strukturen und einer jahrelangen liberalen Wirtschaftspolitik, die viele Gesundheitssysteme zerstört oder deren Entwicklung verhindert hat. Nun bekommen vor allem die Armen zu spüren, dass Regierungen soziale Menschenrechte ignorieren, zu deren Einhaltung sie sich international verpflichtet haben. Staaten können kein »Höchstmaß an körperlicher Gesundheit« garantieren, weil das für eine gute Versorgung nötige Geld wo-

MENSCHENRECHTSKRISE UND CORONA

Wie sollen sich Menschen die Hände waschen, wenn das Wasser nur selten aus dem Hahn läuft? anders gelandet ist. Haushalte haben kein fließendes Wasser, weil die Quellen privatisiert wurden. Für soziale Absicherungen wie Arbeitslosengeld fehlen die Ressourcen, weil Firmen kaum Steuern zahlen. Die wegen der Corona-Krise steigende Staatsverschuldung wird diese Verhältnisse weiter verschlechtern. Schon jetzt haben die prekären Bedingungen in einigen Staaten zu einer Zunahme repressiver Maßnahmen geführt. In der Dominikanischen Republik wurden innerhalb eines Monats 27.000 Menschen inhaftiert, weil sie gegen die Maskenpflicht und andere Beschränkungen verstoßen hatten. El Salvadors Präsident Nayib Bukele lässt Personen, die sich unerlaubt auf der Straße bewegen, 30 Tage lang in sogenannte Eindämmungszentren sperren. Mehrere tausend Frauen und Männer landeten bereits in diesen Lagern. Immer wieder berichteten Betroffene, dass sie sich erst dort mit Covid-19 infiziert haben. Dass ein Richtergremium des Verfassungsgerichts die Inhaftierungen untersagte, störte den Staatschef nicht. »Fünf Personen werden nicht über den Tod von Hunderttausenden Salvadorianern entscheiden«, sagte er nach dem Urteil und schickte Militär, um im öffentlichen Leben Präsenz zu zeigen. Auch in anderen Staaten lässt sich eine Militarisierung beobachten. In Honduras gingen Sicherheitskräfte gegen Hungerproteste vor, in Chile griff die Polizei Demonstrierende an, die die mangelnde Versorgung kritisierten. »Wenn uns das Virus nicht tötet, tötet uns der Hunger«, hieß es auf Transparenten. »Die Regierungen irren, wenn sie meinen, dass repressive Maßnahmen die Menschen vor der Krankheit schützen«, sagt die Amerika-Expertin von Amnesty International, Erika Guevara-Rosas. Doch keine der Regierungen verfügt über ausreichend Ressourcen, um den Prozess der Verarmung zu stoppen und die Gesundheitssysteme kurzfristig zu stabilisieren. Zwar haben einige Länder Maßnahmen ergriffen, um die Folgen der Krise für die arme Bevölkerung zu lindern, doch ist die Skepsis groß. »Wir sind in einer Situation, in der das Vertrauen der Bürger in die Institutionen zusammenbricht«, warnt Marcela Ríos, die für Chile zuständige Vertreterin des UN-Entwicklungsprogramms. Dieses Misstrauen ist nicht neu. Bereits vor der Pandemie demonstrierten in der chilenischen Hauptstadt Santiago Hunderttausende gegen ein Wirtschaftssystem, das das Gesundheitssystem ruinierte. Damals sei es um die Würde gegangen, nun gehe es ums Überleben, sagen sie heute und fordern den Rücktritt des Präsidenten. In Mexiko haben viele indigene Gemeinden ihr Vertrauen in die Regierung schon längst verloren und organisieren sich selbst. Sie wissen, dass der Staat ihnen keine Krankenhausbetten bieten kann. Um sich vor dem Virus zu schützen, haben sie sich von der Außenwelt abgeschottet. Nicht zuletzt solche Bewegungen werden mit darüber entscheiden, ob Lateinamerika aus der Pandemie Konsequenzen zieht und ob das Menschenrecht auf Gesundheit durchgesetzt wird.

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Viele Schlagstöcke, wenige Ärzte In Afrika hat Covid-19 nicht nur eine Gesundheitskrise ausgelöst. Viele Regierungen nutzen die Pandemie als Vorwand für politische Maßnahmen, um die Menschenrechte einzuschränken. Von Franziska Ulm-Düsterhöft

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Überfüllte Haftanstalten Viele der politischen Gefangenen sitzen in ohnehin überfüllten Haftanstalten. Sehr schlechte Hygienebedingungen, kaum medizinische Versorgung und wenig Nahrung lassen diese Orte nicht selten zu tödlichen Fallen werden. Gefangene in Afrika sind somit einem enormen Risiko ausgesetzt, sich mit dem Virus zu infizieren. Dies ist umso tragischer, als viele von ihnen ohne Anklage oder Gerichtsverfahren im Gefängnis sind – je nach Land befinden sich 50 bis 90 Prozent aller Inhaftierten in Untersuchungshaft – wurden also nie für irgendeine Straftat verurteilt. Im Tschad sind Gefängnisse mit einer Belegungsrate von 232 Prozent völlig überfüllt. In den Gefängnissen in Madagaskar sind mehr als drei Mal so viele Menschen eingesperrt wie zulässig. 70 bis 80 Prozent der inhaftierten Frauen und Kinder wurden nie verurteilt. In Kamerun kommt ein Arzt auf 1.335 Gefangene, obwohl 15 Prozent der Inhaftierten an Tuberkulose erkrankt sind. In der Demokratischen Republik Kongo sind vier bis sechs Mal mehr Menschen in Haft als die Gefängniskapazitäten erlauben. 73 Prozent der Inhaftierten wurden nie verurteilt. Es gibt nahezu keine Versorgungsleistungen für die Gefangenen. Allein zwischen Januar und Februar 2020 sind im MakalaZentralgefängnis in der Hauptstadt Kinshasa 60 Menschen verhungert. Bis zum 25. Mai wurden insgesamt 829 Infektionen mit Covid-19 in afrikanischen Gefängnissen registriert. Das Virus findet dort ideale Brutstätten. Einige Länder haben daher damit begonnen, Gefangene, die nicht verurteilt wurden bzw. die kein Sicherheitsrisiko darstellen oder deren Inhaftierung politisch

Im Tschad sind Gefängnisse mit einer Belegungsrate von 232 Prozent völlig überfüllt. AMNESTY JOURNAL | 04/2020

Foto: Donwilson Odhiambo / Zuma Wire / pa

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rphine Helisoa ist eine mutige Frau. Die Journalistin hat es gewagt, die Politik des madagassischen Präsidenten anzuzweifeln. Am 2. April kritisierte sie in einem Zeitungsartikel die Entscheidung der Regierung, die engen Märkte ohne Schutzvorkehrungen gegen Covid-19 geöffnet zu lassen und gleichzeitig mit exzessiver Gewalt gegen Menschen vorzugehen, die sich draußen aufhalten und damit gegen Covid-19-Regelungen verstoßen würden. Helisoa warf Präsident Andry Rajoelina vor, keine geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um die Verbreitung des Virus zu stoppen. Dafür sitzt sie nun in einer völlig überfüllten Zelle in einem Gefängnis in Antananarivo, der Hauptstadt Madagaskars – und zwar auf unbestimmte Zeit, denn wegen der Pandemie ist unklar, wann ein Richter sie anhören wird. Madagaskar ist nur eines von vielen Ländern, das Covid-19 als Vorwand für drastische Eingriffe in die Presse- und Meinungsfreiheit nutzt. Schon vor dem Ausbruch begann die tansanische Regierung, den politischen Raum einzuschränken. Die Pandemie kam als passender Grund, um die Restriktionen auszuweiten. Am 20. April wurde Talib Ussi Hamad, Journalist der Tageszeitung Daima, für sechs Monate suspendiert, weil er über einen Covid-19-Fall berichtet hatte. Zuvor wurde bereits der Zeitung Mwananchi die Lizenz entzogen, nachdem sie ein Foto des Präsidenten veröffentlicht hatte, das ihn von Menschen umringt auf einem Markt zeigte und somit andeutete, er habe gegen die Abstandsvorgaben verstoßen. Die Medienhäuser Star Media Tanzania, Multichoice Tanzania und Azam Digital Broadcast wurden ebenfalls allesamt mit Strafen belegt, weil sie über die Pandemie berichteten. In Angola wurden Aktivisten der Organisation MBATIKA daran gehindert, Informationen über Covid-19 und Hygieneprodukte wie Desinfektionsmittel, Seifen und Masken an ländliche Gemeinschaften zu verteilen. Anfang April wurden die Aktivsten von der Polizei mit Schlagstöcken angegriffen und mit Schusswaffen bedroht, bevor man sie festnahm und acht Stunden lang festhielt. Die Regierung hat zwar im Radio und Fernsehen über das Virus informiert. Die Bevölkerung in den ländlichen Gebieten kann die Sendungen jedoch wegen des Mangels an Elektrizität nicht empfangen.


Bewusstsein schaffen. Martha Apisa (l., zwölf Jahre) und Stacy Ajuma (acht Jahre) machen mit Zöpfen auf Corona aufmerksam, Kenia, Mai 2020.

motiviert war, zu entlassen. Am 1. April wurden in Somaliland 574 Häftlinge begnadigt, um die Ausbreitung des Virus in den überfüllten Gefängnissen einzudämmen. Da auch die Gefängnisse im Sudan stark überbelegt sind, hat die Regierung die Freilassung von Gefangenen angeordnet. Allein in Omdurman kamen 4.217 Personen frei. Aus denselben Beweggründen sollen aus den überfüllten Gefängnissen in Uganda mehr als 800 Häftlinge entlassen werden. Äthiopien ließ 10.000 Gefangene frei. Die Bemühungen reichen jedoch nicht aus und werden durch neue Festnahmen angeblicher Regierungskritiker konterkariert.

Gewalt von Sicherheitskräften Im öffentlichen Raum setzen viele afrikanische Länder auf Gewalt, um die Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 durchzusetzen. Seitdem beispielsweise in Angola Sicherheitskräfte auf die Straße geschickt wurden, um eine von Präsident João Lourenço erlassene Verordnung durchzusetzen, gab es mehrfach Berichte über unverhältnismäßige Gewaltanwendung. Am 4. April verprügelte die Polizei in der Gemeinde Buco-Zau in der Provinz Cabinda zehn Personen auf der Straße und nahm sie fest, weil sie angeblich gegen die Covid-19-Regelungen verstießen. Sieben der zehn Männer waren unterwegs, um Lebensmittel auf dem Markt zu kaufen. Zwei Männer waren auf dem Rückweg aus dem Krankenhaus nach dem Tod eines Familienmitglieds. Ein Mann war auf dem Weg ins Krankenhaus, um die Geburt seines Kindes mitzuerleben.

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Ähnliche Vorfälle werden auch aus anderen Ländern gemeldet. In den ersten fünf Nächten der Ausgangssperre in Kenia wurden bei Polizeieinsätzen mindestens sieben Menschen getötet, 16 wurden ins Krankenhaus eingeliefert, sieben von ihnen mit schweren Verletzungen. Journalisten, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Menschenrechtsverteidiger berichten von Einschüchterungen und Übergriffen durch Polizeibeamte. In Südafrika setzten Sicherheitskräfte Tränengas, Gummigeschosse und Schlagstöcke gegen Menschen ein, die sich auf der Straße befanden. Obdachlose Menschen wurden angeschrien und geschlagen. Jugendliche wurden gezwungen, Liegestütze zu machen und sich auf der Straße umherzurollen, als Bestrafung dafür, dass sie das Haus verlassen hatten. Bislang kam es in Südafrika in Folge der Polizeigewalt zur Durchsetzung des Lockdowns zu mindestens acht Todesfällen. Covid-19 droht neben einer Gesundheitskrise auch zu einer Menschenrechtskrise zu werden. Die Regierungen müssen jedoch bei der Bekämpfung der Pandemie für die Achtung der Menschenrechte sorgen, um das Vertrauen der Bevölkerung in ihre Maßnahmen zu erlangen. Nur durch Gewährleistung des Rechtes auf Information, eine Verringerung möglicher Infektionszentren und einen Zugang zu medizinischer Versorgung ohne Diskriminierung kann der Kampf gegen das Virus gewonnen werden und können die afrikanischen Länder gestärkt aus der Krise hervorgehen. Franziska Ulm-Düsterhöft ist Amnesty-Referentin für Afrika.

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Dann eben digital Gestärkter Sinn für Solidarität

Bevor die antirassistischen Proteste begannen, standen in den USA der Wahlkampf und die Pandemie im Vordergrund. Welchen Fokus die USSektion von Amnesty in dieser Zeit hatte, erzählt Daniel Balson (35).

Die Auswirkungen der Corona-Krise sind weltweit unterschiedlich. Während die einen wieder in den Alltag zurückkehren wollen, sorgen sich andere um ihre Gesundheit. Das gilt auch für Südafrika, berichtet Shenilla Mohamed (57), Direktorin der dortigen Amnesty-Sektion.

Seit drei Jahren arbeite ich für Amnesty International in Washington, dem politischen Zentrum des Landes. Meine Aufgabe besteht darin, auf politisch Verantwortliche einzuwirken, um sicherzustellen, dass Menschenrechte nicht vernachlässigt werden. Diese Arbeit umfasst viele persönliche Treffen, in denen ich die Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger davon überzeuge, Seite an Seite mit Amnesty Stellung zu beziehen. Mein Arbeitsalltag gestaltet sich derzeit anders als sonst. Ich stehe zwar immer noch früh auf und informiere mich über das politische Geschehen weltweit. Doch anstatt auf persönliche Treffen im Regierungsviertel Capitol Hill bereite ich mich nun auf Videokonferenzen vor. Einerseits ist es erfreulich, dass ich meine Arbeit von zu Hause aus fortsetzen kann. Da ich Beziehungen zu vielen Politikerinnen und Politikern aufgebaut habe, kann ich weiterhin den Kampf für die Menschenrechte auf die politische Agenda setzen. Andererseits galt die Aufmerksamkeit meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner vor dem Tod von George Floyd vor allem der Corona-Krise. Hinzu kommt, dass in diesem Jahr die Präsidentschaftswahl ansteht. Alles, was damit zu tun hat, wird verfolgt und dominiert die Nachrichten. Viele Menschen sorgen sich um ihre Gesundheit und achten darauf, wie die Präsidentschaftskandidaten mit der Corona-Krise umgehen. Damit die Menschenrechte Teil der Corona-Diskussion sind und bleiben, konzentrieren wir uns auf die Bildungsarbeit. Wir informieren sowohl die Wählerschaft als auch die Kandidaten über die wichtigsten Menschenrechtsthemen. Da der zukünftige US-Präsident die Menschenrechtslage beeinflussen kann, ist es uns wichtig, dass die Wählerinnen und Wähler dies bei ihrer Entscheidung berücksichtigen. Bis zur Wahl im November haben wir noch Zeit. In der Zwischenzeit werde ich weiterhin vom Homeoffice aus arbeiten. Die Pandemie fordert mich heraus, kreativer und flexibler zu denken, und ich genieße es, mehr Zeit mit meiner dreijährigen Tochter verbringen zu können. Doch ich freue mich schon auf die Zeit, wenn ich wieder vor Ort in Capitol Hill sein kann.

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Foto: Amnesty USA

Konzentration auf Bildungsarbeit

Wie viele andere Menschen arbeite ich seit dem öffentlichen Lockdown im Homeoffice. Das erschwert meine Arbeit, denn eine Organisation wie Amnesty dokumentiert Menschenrechtsverletzungen vor Ort, um zuverlässige Berichte zu erstellen. Die besonderen Umstände haben aber auch ihre positiven Seiten, denn sie ermöglichen uns einen anderen Blick auf unsere Arbeit. Die Pandemie fordert uns heraus, vorhandene Kanäle noch effektiver zu nutzen und neue Wege einzuschlagen. Da wir jetzt nicht mehr den Dialog mit unseren Unterstützerinnen und Unterstützern auf der Straße suchen können, sind wir vermehrt online aktiv. Unsere zehn Hochschulgruppen haben besonders engagiert reagiert. Wir veranstalten Webinare und digitale Aktionen in den sozialen Medien, um unsere Community weiterhin zu erreichen. Unsere Online-Aktion »Turn on the tap« hat sehr großen Anklang gefunden. Sie hat darauf aufmerksam gemacht, dass ein Drittel der südafrikanischen Bevölkerung keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser hat und es überall an sanitärer Infrastruktur fehlt. Covid-19 hat viele Probleme verschlimmert, die bereits zuvor existierten. Unsere Aufgabe ist es auch in diesen Zeiten, als Watchdog für Menschenrechte zu wirken. Wenn die Regierung also angibt, sie habe 200.000 Wasserbehälter in ärmere Gegenden geliefert, dann überprüfen wir das genau und üben auf diese Weise Druck auf die Behörden aus. Dieser Aspekt unserer Arbeit hat sich durch die Pandemie nicht geändert. Nach Corona möchte ich öfter von zu Hause aus arbeiten. Ich weiß jetzt, dass man auch dort produktiv sein kann. Außerdem gibt uns das die Möglichkeit, mehr Zeit mit unseren Liebsten zu verbringen und uns auf das Wesentliche zu konzentrieren. Seit meine Kolleginnen, Kollegen und ich uns nicht mehr im Büro sehen, nehmen wir uns mehr Zeit, um über die Geschehnisse der Woche zu reflektieren und nach dem Befinden der anderen zu fragen. Ich würde mir wünschen, dass uns der gestärkte Sinn für Solidarität erhalten bleibt und wir als bessere Gesellschaft aus der Krise hervorgehen.

AMNESTY JOURNAL | 04/2020

Foto: Shenilla Ahmed

Covid-19 hat Auswirkungen auf die Arbeit von Amnesty International in aller Welt. Welche? Amnesty-Mitarbeiter aus den USA, Südafrika, Indien und Brasilien berichten.


In Indien hat sich die Menschenrechtslage durch Corona verschlechtert. Schon vor der Pandemie ging die Regierung gegen menschenrechtliches Engagement vor. Wie Amnesty trotz erschwerter Bedingungen weitermacht, erzählt Abhirr Velandy Palat (37).

Was die Zahl der Corona-Fälle betrifft, liegt Brasilien weltweit an zweiter Stelle, hinter den USA. Doch anstatt Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus zu ergreifen, verharmlost der Präsident die Pandemie, beobachtet Thiago Camara (35), Amnesty-Pressesprecher in Brasilien.

Als ich im November 2014 anfing, bei Amnesty Indien zu arbeiten, wusste ich, dass dies mit Herausforderungen verbunden sein würde. Denn die indische Regierung geht schon seit vielen Jahren mit Einschüchterungen und Schikanen gegen Menschenrechtlerinnen und Menschenrechtler vor. Als politisch unabhängige Organisation kritisieren wir die Regierung, wenn sie Menschenrechte missachtet und nicht ausreichend schützt. Deshalb sind auch wir zur Zielscheibe des Staates geworden. Nachdem die Behörden im Dezember 2018 unsere Bankkonten eingefroren haben, mussten wir die Hälfte unseres Personals entlassen. Leider sind die Herausforderungen seit Beginn der Gesundheitskrise noch größer geworden, vor allem was unsere Finanzierung angeht. Bisher haben wir einen Großteil unserer Spenden dadurch erhalten, dass wir Menschen auf der Straße angesprochen haben. Wegen der landesweiten Ausgangssperre können wir jedoch auf diesem Weg keine Unterstützerinnen und Unterstützer mehr gewinnen. Somit sind wir digitaler geworden: So veranstalten wir zum Beispiel Instagram-Lives, zu denen wir Expertinnen und Experten einladen. Interessierte können die Gespräche mitverfolgen und Fragen stellen. Die Online-Netzwerke ermöglichen uns außerdem eine Vernetzung mit Menschen überall auf der Welt. Vor Kurzem haben sich zwei deutsche Politiker zum Fall von Safoora Zargar geäußert. Sie wurde Anfang Mai festgenommen, als sie friedlich gegen das Staatsbürgerschaftsgesetz (Citizenship Amendment Act – CAA) demonstrierte. Amnesty startete daraufhin eine Urgent Action für die im dritten Monat schwangere Aktivistin. Es sind Aktionen wie diese, die einen weltweiten Impuls auslösen können. Als das diskriminierende Gesetz im Dezember 2019 verabschiedet wurde, gab es landesweit breite Proteste. Wegen der internationalen Berichterstattung geriet der Staat zunehmend unter Druck. Der Ausbruch der Pandemie kam der Regierung daher gerade recht: Sie rief den Lockdown aus, und seither sind alle Proteste verboten. Kritisch ist die Situation für Millionen von Wanderarbeiterinnen und -arbeitern, die von der Regierung vernachlässigt werden. Weil sie durch die Ausgangssperre ihre Arbeit verloren und der Zugverkehr eingestellt wurde, mussten sie teilweise Hunderte von Kilometern zu Fuß in ihre Heimatorte zurücklaufen. Die Regierung hat keinen Plan, um bedrohte Menschen zu schützen. Nun stellt sich die Frage, wie wir wirksam dagegen protestieren können, denn die Menschenrechte gelten auch während einer Pandemie.

Schon wenige Wochen nach meinem ersten Arbeitstag bei Amnesty begann unsere Zeit im Homeoffice. Obwohl ich erst einige Monate dabei bin, habe ich schon viel erlebt. Wenn der Präsident des eigenen Landes täglich neue Wege sucht, um die Grenzen unserer Demokratie und unserer Menschenrechte auszutesten, dann haben wir als Menschenrechtlerinnen und Menschenrechtler einfach keine Pause. Mit der Pandemie hat sich das leider nicht verbessert. Viele Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und zu sanitärer Infrastruktur. Die Krankenhäuser sind schon lange überfüllt, worunter vor allem die Marginalisierten und die Indigenen leiden. In der Pandemie verschlimmert sich, was schon seit geraumer Zeit zu beobachten war: Jair Bolsonaro und seine Regierung vertiefen bestehende Ungleichheiten und verletzen unsere Rechte, eines nach dem anderen. Derzeit betrifft das vor allem unser Recht auf Gesundheit. Mitten in der Krise stand Brasilien plötzlich ohne Gesundheitsminister da, angemessene Maßnahmen gegen das Virus gibt es immer noch nicht. Das zeigt, mit welcher Sorglosigkeit Bolsonaro der Krise begegnet. Es scheint ihm gleichgültig zu sein, wie viele Menschen dem Virus zum Opfer fallen. Statt auf Expertinnen und Experten zu hören, verbreitet er falsche Informationen. Dabei sind gerade jetzt akkurate Informationen unentbehrlich, und die Menschen müssen sich auf Medien verlassen können, die die Angaben der Regierung überprüfen. Auch auf diesem Weg kann die Regierung zur Verantwortung gezogen werden. Für meine Arbeit bei Amnesty gilt das auch. Wir kritisieren die politisch Verantwortlichen und üben Druck aus, wenn sie unsere Rechte missachten. Auch vom Homeoffice aus geben wir unser Bestes, um die Regierung an ihre Pflichten zu erinnern. Wir können zwar vorerst nicht auf die Straße, doch davon lassen wir uns nicht abhalten. Dank der sozialen Medien sind wir vernetzter denn je und nutzen das, um landesweit zu mobilisieren. Mit unserer neuen Kampagne »Nossas Vidas Importam« (»Unsere Leben zählen«) rufen wir zusammen mit 35 weiteren Organisationen die Regierung auf, für den Schutz aller Brasilianerinnen und Brasilianer zu sorgen und niemanden zurückzulassen. Diese Zusammenarbeit und die solidarischen Reaktionen unserer Unterstützerinnen und Unterstützer geben mir Hoffnung, dass wir diese Krise überstehen werden. Wir befinden uns in einem entscheidenden Moment im Hinblick auf unsere Menschenrechte, und ich will mir nicht ausmalen, wie düster es ohne Organisationen wie Amnesty International aussähe.

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Protokolle: Parastu Sherafatian

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Foto: privat

Von der Regierung im Stich gelassen

Foto: privat

Trotz Ausgangssperre kämpfen


Corona war für die Europäische Union keine Sternstunde. Nationale Alleingänge sollten das Virus stoppen.

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Nationen-Virus bedroht Europa Egal ob bei Grundrechten, Überwachung oder Minderheiten: Die Corona-Krise zeigt die Schwächen der Europäischen Union. Sie zu überwinden, ist eine riesige Aufgabe. Nun übernimmt Deutschland die Ratspräsidentschaft. Von Malte Göbel

Icons: The Noun Project

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enn Deutschland am 1. Juli für sechs Monate die Präsidentschaft des Europäischen Rats übernimmt, ist die Bundesregierung nicht zu beneiden. Mit dem Brexit und den Haushaltsverhandlungen hat sie Themenkomplexe von früheren Präsidentschaften geerbt, die längst geregelt sein sollten – und dann sind da noch die Folgen von Corona. Die Pandemie hat Europa auf mehreren Ebenen vor eine Zerreißprobe gestellt. Anstatt im europäischen Rahmen gemeinsam auf die Herausforderung zu reagieren, zeigten die Einzelstaaten nationale Reflexe, zogen die Grenzen hoch, schotteten sich voneinander ab, verabschiedeten ihre eigenen Anti-CoronaMaßnahmen und konkurrierten teilweise um medizinische Ausrüstung. Grundrechte wurden in allen Staaten eingeschränkt, sozial benachteiligte Gruppen wie Obdachlose, Geflüchtete oder Häftlinge bekamen die Auswirkungen stärker zu spüren als der Rest der Bevölkerung, regional flammte auch Hass gegen Minderheiten auf, etwa in Ungarn gegen Roma und transgeschlechtliche Menschen. Die Corona-Krise hat die Europäische Union erschüttert und ihre Grundlagen und Werte stärker infrage gestellt als jemals eine Krise zuvor. Überwindung der Nationalstaaten lautete der alte europäische Traum. Und nun erleben wir das Gegenteil. Alles lief zuletzt über die Einzelstaaten, Politik wurde in den Hauptstädten gemacht, Europa war an den Rand gedrängt. »Ich war enttäuscht bis schockiert, was da für nationale Reflexe kamen«, sagt Hannah Neumann, die in der Fraktion der Grünen/EFA im Europäischen Parlament sitzt. »Wenn man das Ganze analytisch betrachtet hat, war schon früh klar, dass das nicht die richtige Antwort ist.« Bereits im Januar, noch vor Ausbruch der Krise in Europa, habe die Europäische Kommission versucht, eine europäische Reaktion auf die mögliche Pandemie zu koordinieren. Der Rück-

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lauf aus den Mitgliedstaaten war gering. Und als die Krankheit sich ausbreitete, reagierten die Länder einzeln. »Aus meiner Sicht war das ein Versagen der Nationalregierungen, weil sie sich sehr lange auf das Nationale konzentriert und nicht verstanden haben, dass man es europäisch viel besser angehen kann«, sagt Neumann, die 2018 ins Europäische Parlament einzog und überzeugte Europäerin ist. Mittlerweile ist sie aber optimistischer, was die europäische Idee angeht. »Es gab drei, vier kritische Wochen am Anfang«, sagt sie. »Aber seitdem hat sich ein Momentum entwickelt für Solidarität und ein Verständnis, dass keiner schuld ist an dieser Krise und wir sie nur gemeinsam bewältigen können. Das zeigt, wie widerstandsfähig und stark die europäische Idee ist.« So haben sich die europäischen Staaten mittlerweile gegenseitig mit medizinischer Ausrüstung unterstützt, deutsche Krankenhäuser nahmen Patientinnen und Patienten aus Frankreich und Italien auf. Auf diese Weise habe Deutschland auch lernen können, wie man mit dem Virus umgeht. »Wir haben es geschafft, über diese erste nationalistische Antwort hinwegzukommen. Und das geht jetzt mit der Diskussion um europäische Finanzhilfen weiter.«

Problematische Corona-App Auch das Gezerre um eine Corona-App zeigt die vielfältigen Probleme, die Europa mit einer gemeinsamen Reaktion auf die Pandemie hat – und dass die Antwort nur europäisch sein kann. Staaten wie China, Südkorea oder Kenia nutzten schon früh Handydaten, um die Ausbreitung des Corona-Virus nachzuverfolgen. Rücksicht auf Privatsphäre nahmen sie nicht. »In diesen Ländern wird Datenschutz verletzt unter dem Vorwand der Pandemie-Bekämpfung. Das ist nicht verhältnismäßig«, erklärt Markus N. Beeko, Generalsekretär der deutschen Sektion von Amnesty International. Mitte April 2020 empfahl die Europäische Kommission einen gemeinsamen Ansatz für Corona-Apps, und das Europäische

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Parlament beschloss eine Resolution, die notwendige Schutzmaßnahmen für die Privatsphäre beim Einsatz von CoronaTechnologie betonte. Auch Amnesty hat solche Schutzmaßnahmen wiederholt gefordert, wie etwa die Freiwilligkeit bei der Nutzung, die maximale Anonymisierung und die dezentrale Speicherung von Daten. Doch die EU-Staaten sprachen sich nicht ab. Frankreich und Italien präsentierten Anfang Juni ihre Apps mit zentraler Datenspeicherung, die deutsche Version mit dezentraler Datenspeicherung wurde Mitte Juni vorgestellt. Alle Apps arbeiten mit Bluetooth-Technologie, Bundesgesundheitsminister Jens Spahn ließ seine ursprünglichen Pläne zur Nutzung von GPS- und Funkzellen-Daten nach Kritik wieder fallen. Zur Verfolgung von grenzüberschreitenden Ansteckungsketten sind die vielen Einzel-Apps jedoch nicht geeignet. »Europa hätte Maßstäbe setzen können, wie damals bei der Datenschutzgrundverordnung«, sagt Hannah Neumann. »Wenn wir die App kostenlos zum Download angeboten hätten, hätten wir der Welt einen großen Dienst erwiesen. Aber nun gibt es konkurrierende Systeme aus Nachbarstaaten – das ist sehr ärgerlich.« Nationale Reflexe haben vorerst über eine gemeinsame Herangehensweise gesiegt. Neumann hofft, dass die Länder daraus eine Lehre ziehen. »Das zeigt, wie schnell das Nationale an seine Grenzen stößt. Das wiederum stärkt die europäische Idee!« Auch Markus Beeko ist zwar nicht glücklich über die Situation, sieht aber auch Positives: »Ja, es gibt in Europa verschiedene Ansätze, aber immerhin gibt es eine Debatte!« Für ihn zeigen sich darin die Herausforderungen, die in den nächsten Jahren anstehen, noch stärker. »Eine der gesellschaftlichen Veränderungen durch die Corona-Krise ist die Beschleunigung der Digitalisierung. Wir sehen klaren Regulierungsbedarf, hier ist der rechtsstaatliche Rahmen nicht gegeben, und Tech-Konzerne müssen stärker durch staatliche Stellen kontrolliert werden.«

Nicht nur Gesundheits-, sondern Menschenrechtskrise Menschenrechte waren und sind in der Corona-Krise vielfältig bedroht. »Die Einschränkungen der grundlegenden Menschenrechte verbreiten sich in Europa gerade fast genauso schnell wie das Virus«, warnte Anfang April die Europa-Direktorin von Amnesty, Marie Struthers, und mahnte, dass beim Schutz der Menschen vor der Pandemie nicht die Grundrechte auf der Strecke bleiben dürften. Zwar sei es notwendig, die Gesundheit der Menschen zu schützen, doch ein Virus sei keine Rechtfertigung für Diskriminierung, Repression und Zensur. Diese Warnungen waren bitter nötig. »Der Blick in die Welt zeigt: Die Corona-Pandemie ist nicht nur eine Gesundheitskrise, sondern auch eine Menschenrechtskrise«, so fasst es Markus Beeko zusammen. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie hatten direkten Einfluss auf die Grundrechte. So wurden in weiten Teilen Europas die Rechte auf Freizügigkeit, Versammlungsfreiheit und freie Religionsausübung eingeschränkt. »Amnesty hat den europäischen Staaten sehr schnell Handlungsanweisungen gegeben, wie diese Gesundheitsmaßnahmen menschenrechtskonform auszugestalten sind«, erklärt Beeko. »Dazu gehört auch, dass die Maßnahmen zeitlich befristet sind, verhältnismäßig eingesetzt und unabhängig kontrolliert werden müssen.« Doch manche EU-Staaten schienen die Krise eher dazu nutzen zu wollen, um eine Politik durchzusetzen, die nichts mit Gesundheit zu tun hat.

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Polen und Ungarn instrumentalisieren die Krise Ungarn befindet sich seit Jahren auf dem Weg zu einem autoritären Staat. Im Windschatten der Corona-Krise beschleunigte Ministerpräsident Viktor Orbán diese Entwicklung sogar noch. »Ungarn ist in Europa das eklatanteste Beispiel für eine Instrumentalisierung der Corona-Krise«, sagt Beeko. »Der Abbau von Rechtsstaat und Zivilgesellschaft der vergangenen Jahre geht nun noch schneller. Amnesty International sieht die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn massiv gefährdet.« Anfang März ließ sich Orbán vom Parlament mit weitreichenden Machtbefugnissen ausstatten. Das Notstandsgesetz erlaubte ihm das Regieren per Dekret. Das Parlament war faktisch entmachtet, der Rechtsstaat erheblich eingeschränkt, Wahlen und Volksabstimmungen waren ausgesetzt. Dies gelte »bis zum Ende der Gefahrenlage«, sagte Justizministerin Judit Varga. Wann die vorbei sei, bestimme das Parlament, in dem Orbán eine komfortable Zweidrittelmehrheit hat, die sein Ermächtigungsgesetz dann auch beschloss. Zwar präsentierte Orbán Ende Mai ein Gesetz, das seine erweiterten Befugnisse größtenteils wieder zurücknimmt. Doch die bereits erlassenen Maßnahmen, die nichts mit Corona zu tun haben, will Orbán beibehalten. »Die Unabhängigkeit der Gerichte, die Minderheitenrechte, Wissenschaftsfreiheit, Restriktionen gegenüber journalistischer Berichterstattung, wodurch Herr Orbán bestimmt, welche Fakten öffentlich und welche Desinformationen verbreitet werden – all das steht immer noch im Raum«, zählt Hannah Neumann auf, die als stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses für Menschenrechte im EU-Parlament ein besonderes Auge auf diese Themen hat.

Wie das Virus Minderheiten trifft Minderheiten sind dabei besonders betroffen: In Zeiten, wo sich jede und jeder von einem unsichtbaren Virus bedroht fühlt, fehlt es an Solidarität und Aufmerksamkeit für die Schwächeren – die gleichzeitig die Krise noch stärker zu spüren bekommen als die Mehrheit. Das bestätigt Katrin Hugendubel von ILGA-Europe, einer Organisation, die die Interessen von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI) vertritt. »Die Krise macht strukturelle Ungleichheiten noch deutlicher. Vor allem trans- und intergeschlechtliche Menschen leben häufig in prekären ökonomischen Verhältnissen und stehen in so einer Krise ohne sozialen Schutz und ohne Einkommen da.« Anwar Ouguerram von der Organisation Transgender Europe bestätigt diese Einschätzung: »Krisenzeiten treffen die Marginalisierten am stärksten – physisch, psychisch, ökonomisch und politisch.« Und sie können sich gegen Unterdrückung schlechter wehren, da der Lockdown die Arbeit behindert: Ge-

»Krisenzeiten treffen die Marginalisierten am stärksten.« Anwar Ouguerram, Transgender Europe AMNESTY JOURNAL | 04/2020


Foto: Arpad Kurucz / Anadolu Agency / pa

Gegen das Virus weiter aufgerüstet. Militärpatrouille in Budapest, Ungarn, April 2020.

meinsame Büros können nicht mehr genutzt werden, die Einnahmen gehen zurück, Versammlungen oder Demonstrationen sind unmöglich. Darauf baute wohl auch Ungarn: Am 31. März präsentierte Orbáns Regierung ein Gesetz, das eine Änderung des Geschlechtseintrags verbietet. Beim Standesamt und auf amtlichen Dokumenten darf nur noch das »Geschlecht bei Geburt« vermerkt werden – Menschen mit Transidentität werden damit quasi für nicht existent erklärt. »Es ist nicht die erste Attacke auf die Menschenrechte von Transgeschlechtlichen in Ungarn, aber die bisher schlimmste«, sagt Anwar Ouguerram. »Die Regierung hat die Covid-19-Krise ausgenutzt.« Davon ist auch Katrin Hugendubel überzeugt: »Es ist kein Zufall, dass dieses Gesetz genau jetzt präsentiert wurde – weil die ungarische Regierung hoffte, dass alle mit der Corona-Krise beschäftigt sind. Das bestätigen uns Aktivistinnen und Aktivisten vor Ort.« In Polen legte die rechtskonservative Regierung erneut ein Gesetz vor, das Abtreibung verbietet und Sexualaufklärung in den Schulen verhindert. »Es wurde genau in dem Moment eingebracht, als Proteste auf der Straße verboten wurden«, sagt Hugendubel. »Das sind Versuche, Corona als Vorwand zu nutzen, um gegen LGBTI und Frauenrechte vorzugehen.« Ungarns Probleme mit der Rechtsstaatlichkeit wurden durch die Pandemie noch verstärkt. Hannah Neumann ist dennoch für einen Verbleib des Landes in der EU: »Wenn ich mir ansehe, was in der Nachbarschaft der EU an Grundrechtseinschränkungen passiert, etwa in der Türkei oder in Ägypten – da ist mir ein in die EU eingebundenes Ungarn lieber. Auf der EU-Ebene werden

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die Vorgänge kritisch betrachtet, und innerhalb der EU gibt es zahlreiche Partner der ungarischen Zivilgesellschaft – schließlich gibt es in Ungarn auch viele kritische Stimmen. Eine solche Situation ist sicherlich besser als eine sich immer stärker radikalisierende ungarische Regierung außerhalb der EU.« Ähnlich sehen es die NGOs: Katrin Hugendubel erzählt von Aktivistinnen und Aktivisten vor Ort, denen internationale Kontakte bei ihrer Arbeit helfen. »Ihr Einfluss würde geringer, wenn sie vor Ort isoliert würden.« Hugendubel erinnert auch daran, dass deutsche Kommunen bereits Partnerschaften mit polnischen Orten ausgesetzt haben, die sich zu »LGBTI-freien Zonen« erklärten. »Wir rufen nicht dazu auf, Städtepartnerschaften aufzulösen, sondern man sollte lieber versuchen, Einfluss zu nehmen, und die Thematik ansprechen.« Umso wichtiger ist es allerdings, auch auf europäischer Ebene die menschenrechtsfeindliche Politik in Polen oder Ungarn anzugehen. »Die EU kann noch mehr tun, und sie sollte noch mehr tun«, sagt Hugendubel. Unter anderem ist für November eine EU-Konferenz zu LGBTI-Themen geplant, in deren Rahmen eine Strategie vorgestellt werden soll. Markus N. Beeko von Amnesty International setzt seine Hoffnung in die deutsche Ratspräsidentschaft. »Da gibt es noch mehr Möglichkeiten. Ansonsten stehen die Funktionsfähigkeit und das Selbstverständnis der Europäischen Union auf dem Spiel.« Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app

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Foto: Aggelos Barai / AP / pa

Von der EU mit der Covid-19-Bedrohung alleingelassen. Selbstversorgung im Flüchtlingslager Moria, Griechenland, im März 2020.

Menschenrechte bleiben auf der Strecke Von Tampere über die Corona-Abschottung zum neuen Migrationspakt der EU-Kommission: Droht ein Abschied von der gemeinsamen europäischen Asylpolitik? Ein Kommentar von Franziska Vilmar.

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enn es um die Flüchtlingspolitik in der EU geht, kreist alles um den Begriff des gemeinsamen europäischen Asylsystems. Gibt oder gab es dieses gemeinsame System tatsächlich? Steht es nur auf dem Papier oder nicht einmal mehr das? Die fortschreitende Harmonisierung verschiedener Politikbereiche in der EU machte Ende der neunziger Jahre auch vor dem Asylrecht nicht Halt. Im Jahr 1999 beschlossen die europäischen Staats- und Regierungschefs im finnischen Tampere, sich auf den Weg zu einem einheitlichen Asylrecht in der EU zu ma-

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chen. Dies geschah vor dem Hintergrund, dass gerade ein Krieg in Europa Hunderttausende von Menschen aus Ex-Jugoslawien zu Flüchtlingen gemacht hatte. Die anschließend von der EU-Kommission vorgeschlagenen Mindestnormen für ein gemeinsames Asylverfahren, einen einheitlichen Flüchtlingsstatus und angemessene Aufnahmebedingungen wurden 2004 verabschiedet. Ob Schutzsuchende in Schweden oder in Griechenland Asyl beantragten, sollte fortan keinen Unterschied mehr machen. Diese Entwicklung war ein Meilenstein, um den Flüchtlingsschutz innerhalb Europas zu

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stärken. Die Europäische Kommission wurde von Flüchtlingsverbänden als Fürsprecherin verfolgter Menschen wahrgenommen. Flankiert von der Dublin-II-Verordnung aus dem Jahr 2003 gab es auch Vorgaben dazu, welcher Mitgliedstaat für das Asylverfahren zuständig ist. Doch die Verordnung wurde vor allem von den Außengrenzstaaten als ungerecht bezeichnet. Schließlich lag die Hauptzuständigkeit für das Asylverfahren beim Land der ersten Einreise eines Schutzsuchenden – häufig genug Griechenland oder Italien. Reste der zuvor oft beklagten »Asyllotterie« blieben bestehen. Hinzu kam, dass die der EU in den Erweiterungsrunden von 2004, 2007 und 2013 beigetretenen Staaten kaum Erfahrung mit der Aufnahme von Flüchtlingen hatten. Aber auch die traditionellen Mitgliedstaaten setzten die neuen Richtlinien nur halbherzig um. Und so galt die Unterbringung in Italien als Katastrophe. In Griechenland blieb das Asylverfahren dysfunktional. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs von 2011 waren die Zustände für Schutzsuchende in dem Land so menschenunwürdig, dass Dublin-Rücküberstellungen nach Griechenland Menschenrechte verletzten.

Syrien und Libyen Diese und weitere Missstände sollten in der zweiten Harmonisierungsrunde – unter Beteiligung des Europäischen Parlaments – angegangen werden. Im Jahr 2013 wurden aus Mindestnormen gemeinsame Standards, jedenfalls auf dem Papier. Die EU-Staaten konnten sich jedoch in zwei Punkten weiterhin nicht einigen: Wie sieht eine gerechte Verantwortungsteilung für Schutzsuchende in der EU aus, und wie schaffen wir ausreichende legale und sichere Einreisemöglichkeiten für Schutzsuchende und Migranten? Sowohl der Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien als auch der Sturz Gaddafis in Libyen lösten im Jahr 2011 Flucht- und Migrationsbewegungen aus. Spätestens seit 2012 nahm die Zahl der Asylsuchenden in Deutschland und Europa zu. Neben Syrien blieben auch der Irak und Afghanistan als Herkunftsländer relevant. Die völlig unzureichende humanitäre Unterstützung sowie fehlende Perspektiven in den Erstaufnahmestaaten der Krisenregionen trugen zu Flucht und Migration nach Europa im Jahr 2015 bei. Und so war die letzte Reform des Asylsystems in vielen Mitgliedstaaten noch nicht umgesetzt, als in Europa zwei Jahre in Folge jeweils mehr als 1,2 Millionen Asylanträge gezählt wurden. Die Auswirkungen sind bekannt: Seit 2016 beherrschen flüchtlingsfeindliche Diskurse die Medien und die Politik, der EU-Türkei-Deal wurde geschlossen, um die Fluchtroute über das östliche Mittelmeer zu verriegeln, die Kooperation mit der libyschen Einheitsregierung dient zur Abschottung der zentralen Mittelmeerroute. Die Zusammenarbeit Spaniens mit Marokko hat das Ziel, auch die Flucht über die spanischen Exklaven in Nordafrika oder die Straße von Gibraltar unmöglich zu machen. Menschenrechte bleiben bei dem Ziel, Fluchtbewegungen nach Europa drastisch zu reduzieren, auf der Strecke. Man könnte behaupten, das gemeinsame europäische Asylsystem sei nicht für große Zahlen von Schutzsuchenden gemacht. Hektisch wurde 2016 eine dritte Reform gestartet, die ohne Abschluss blieb. Man könnte aber auch feststellen, dass einige Mitgliedstaaten das geltende EU-Recht schlicht ignorieren. Polen, Ungarn und Tschechien verweigern ihre Solidarität mit Schutzsuchenden, indem sie die mehrheitlich beschlossene Umverteilung geflüchteter Menschen aus Griechenland und Italien innerhalb

MENSCHENRECHTSKRISE UND CORONA

Hotspots wie in Moria sind von Amnesty International lange vor Corona kritisiert worden. Europas ignorieren. Anfang April 2020 hat der Europäische Gerichtshof festgestellt, dass diese drei Länder gegen Europarecht verstoßen. Die Entscheidung hat allerdings reine Symbolkraft. Solidarität beim Flüchtlingsschutz lässt sich eben nicht auf dem Gerichtsweg durchsetzen – eines der Kernprobleme des gemeinsamen europäischen Asylsystems. Einige meinen, es seien die geflüchteten Menschen, die sich unerlaubt innerhalb Europas fortbewegten und die Funktionalität des Systems unterminierten. Wäre die Anerkennung eines Flüchtlings durch einen Mitgliedstaat jedoch eine europaweit akzeptierte Entscheidung und könnten sich anerkannte Flüchtlinge dort niederlassen, wo sie Arbeit finden, gäbe es deutlich weniger Anreize für Weiterwanderungen während des Asylverfahrens – vorausgesetzt, es wird fair und zügig durchgeführt. Für diese schnellere Freizügigkeit nach dem Asylverfahren setzt sich Amnesty International schon lange ein.

Neue Formen der »Solidarität« Vielleicht ist die Dublin-Verordnung – zumal in ihrer fehlerhaften Anwendung in etlichen Mitgliedstaaten – unbrauchbar für die Festlegung der Zuständigkeit für das Asylverfahren. Wären die Menschen 2015 schnell und gerecht auf die verschiedenen EU-Länder verteilt und ihre Asylverfahren dort zügig bearbeitet worden, hätten die Rechtspopulisten möglicherweise kein leichtes Spiel gehabt. All diese Fragen will die EU-Kommission mit einem »neuen Migrationspakt« beantworten. Nachdem es zuletzt nur Konsens für mehr Außengrenzschutz und Migrationskooperation mit Transitstaaten zur Flüchtlingsabwehr gab, ist damit zu rechnen, dass man einige EU-Mitgliedstaaten aus der Verantwortung für den aktiven Flüchtlingsschutz entlässt und neue Formen der Solidarität definiert: Finanzielle Beiträge oder verstärkte Abschiebungen statt aktiver Aufnahme schutzsuchender Menschen. Die Diskussionsvorschläge Deutschlands und anderer Mitgliedstaaten, die seit Ende 2019 in den europäischen Hauptstädten kursieren, lassen Schlimmes befürchten. Mehr Hotspots an den EU-Außengrenzen nach dem »Vorbild« der auch von Amnesty International immer wieder und lange vor der CoronaPandemie kritisierten Lager auf den griechischen Inseln mit allen unbeantworteten Fragen zum Thema Haft oder Rechtsschutz dürfen unter keinen Umständen eine Lösung für die Krise der europäischen Asylpolitik sein. Der Bundesregierung, die ab dem 1. Juli 2020 die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, stünde es gut an, sich von den grundlegenden Werten der EU und von ihren positiven Erfahrungen bei der Flüchtlingsaufnahme leiten zu lassen, wenn erneut über das europäische Asylsystem verhandelt wird. Franziska Vilmar ist Amnesty-Referentin für Asylpolitik und Migration.

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RETTEN

VERBOTEN. Leben zu retten ist in der Corona-Pandemie oberste Priorität. Dafür kämpfen Ärzt_innen, <;:987965747;329979109/1:9/7;71.79-,+7912914:9*1)0;(6:'1&917297;1%2$0:$2(9#1291/7;1 .79-,+791:0"1!2 "71:947 27-791-29/#1-$7 $1927 :9/1/271 ;:47#1( 1 7 79-;7$$7;32997912+;71 ; 72$1$091-( 79'1 9/7;-1 7;+ $17-1-2,+1/:99#1 7991291)0;(6:1/:-1 7 791 (91 ,+$ 294791 09/1.24;:9$3299791:0"1/7 1%627 1-$7+$'1<29/7;#1 ;:079109/1. 997;1-$;:9/791(/7;17;$;298791 :91/791 ;79*791)0;(6:-'1 7;1/27-791.79-,+791291 ($1+2 "$#1 2;/192,+$1: -1 7$$7;3291:0-47*72,+97$#1-(9/7;9147; $129-1 :/798;70*1 (91); 2$$ 7;3299791(/7;1 2;/1: 1 7$$79147+29/7;$'1

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POLITIK & GESELLSCHAFT

Er kämpft gegen Syriens Höllenmaschinerie

Verteidiger der politischen Gefangenen in Syrien. Anwar Al-Bunni im Frühjahr 2020 in Berlin.

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In Koblenz hat der erste Prozess wegen staatlicher Folter in Syriens Gefängnissen begonnen. Angeklagt sind zwei ehemalige Geheimdienstmitarbeiter. Überlebende fordern Gerechtigkeit und wollen auch Präsident Assad zur Rechenschaft ziehen. Von Hannah El-Hitami

Foto: Philomena Wolflingseder

Geduldig beantwortet Anwar Al-Bunni die immer gleichen Fragen der anrufenden Journalisten. Ja, es sei wahr, dass er dem Angeklagten Anwar R. vor einigen Jahren vor der Flüchtlingsunterkunft in Berlin-Marienfelde begegnete. Ja, er habe R. als den Mann erkannt, der ihn 2006 in Syrien festgenommen hatte. Nein, der Gerichtsprozess sei nicht sein persönlicher Rachefeldzug gegen Anwar R. – es gehe um etwas viel Größeres. Es ist ein sonniger Mittwochnachmittag Ende April. Der syrische Menschenrechtsanwalt Al-Bunni, 61, kleine dunkle Augen unter buschigen Brauen, sitzt im ICE auf dem Weg von Berlin nach Koblenz. Dort wird am nächsten Tag der weltweit erste Prozess wegen Staatsfolter in Syrien beginnen. Vor dem Oberlandesgericht sind zwei ehemalige Mitarbeiter des syrischen Geheimdienstes angeklagt: Anwar R., dem Offizier, den Al-Bunni kennenlernte, werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. Er soll zwischen 2011 und 2012 die Ermittlungen in der Abteilung 251 des Allgemeinen Geheimdienstes in Damaskus geleitet und sich dabei des 58-fachen Mordes, der Vergewaltigung und schweren sexuellen Nötigung sowie der Folter in mindestens 4.000 Fällen schuldig gemacht haben. Der zweite Angeklagte, Eyad A., soll Mitarbeiter einer Unterabteilung gewesen sein, die Menschen bei Demonstrationen und Razzien festnahm und in die Abteilung 251 brachte. Ihm wird Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. Beide Angeklagte desertierten schließlich und flohen ins Ausland – Anwar R. 2012 und Eyad A. 2014. Sie beantragten in Deutschland Asyl und begannen, für sich und ihre Familien ein neues Leben aufzubauen. Doch im Frühjahr 2019 wurden sie festgenommen. Die beiden Männer hatten bei verschiedenen Behördengängen zu offen über ihre Vergangenheit im syrischen Geheimdienst gesprochen und damit selbst die Ermittlungen des BKA ausgelöst. Vermutlich wussten sie nicht, dass in Deutschland seit 2002 das Weltrechtsprinzip gilt. Es ermöglicht der Bundesanwaltschaft, Verbrechen zu verfolgen, die keine direkte Verbindung zu Deutschland haben, sofern es sich um völkerrechtliche Verbrechen wie Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen handelt. Weil Syrien selbst kein Mitglied des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) ist und Russlands Veto im UN-Sicherheitsrat den IStGH daran hindert, trotzdem zu ermitteln, bietet das Weltrechtsprinzip momentan die einzige Chance auf eine juristische Aufarbeitung des Konflikts in Syrien.

DEUTSCHLAND

Keine Partner für Syriens Zukunft »Er hat sie festgenommen, gefoltert, getötet!«, sagt Al-Bunni mit lauter Stimme in sein Headset. Das Zugabteil ist in den ersten Wochen der Corona-Pandemie fast leer, so kann der prominente Menschenrechtsanwalt ungestört ein Interview nach dem anderen geben. Al-Bunni hat viel zu erzählen: Er widmet sein Leben

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schon seit den 1980er Jahren der Verteidigung politischer Gefangener in Syrien. Auch fünf Jahre Gefängnis und die Flucht nach Deutschland im Jahr 2014 haben ihn von dieser Mission nicht abbringen können. In Berlin gründete er das Syrische Zentrum für juristische Studien und Forschung und bereitet seitdem Klagen gegen hochrangige syrische Regime-Anhänger vor. Al-Bunni selbst ist in Deutschland nicht als Anwalt zugelassen, doch er verfügt über ein riesiges Netzwerk innerhalb der syrischen Exil-Community, einige waren schon in Syrien seine Mandanten. Viele Zeuginnen und Zeugen hat er an die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe vermittelt. Ihre Aussagen gehören zu den wichtigsten Beweismitteln in dem historischen Prozess in Koblenz, denn sie bieten Einblick in Syriens Folterkeller und in die Systematik der Verbrechen, die dort immer noch begangen werden. Für Al-Bunni ist der Prozess in Koblenz ein Meilenstein. »Es ist das erste Mal in der Geschichte, dass juristische Verfahren schon beginnen, während die Straftaten noch begangen werden«, erklärt er, nachdem er ein weiteres Telefonat beendet hat. »Die Gerechtigkeit bestimmt also mit, wie der Konflikt ausgehen wird, und nicht andersherum.« Wer per internationalem Haftbefehl gesucht oder als Verbrecher verurteilt werde, könne von der Welt nicht mehr als Partner für die Zukunft in Syrien erachtet werden. Dazu gehören nicht nur Anwar R. und Eyad A., sondern noch hochrangigere Regime-Mitglieder. Schon 2011 begann der Generalbundesanwalt in sogenannten Strukturermittlungsverfahren Beweise über Völkerrechtsverbrechen der Regierung und der Opposition in Syrien zu sammeln. Diese Erkenntnisse sollten als Grundlage dienen für spätere Klagen gegen Individuen. So wurde im Juni 2018 bekannt, dass Deutschland einen internationalen Haftbefehl gegen Jamil Hassan, den ehemaligen Chef des als besonders brutal geltenden Luftwaffengeheimdienstes, erlassen hat. Er kann aber nicht festgenommen werden, solange er sich in Syrien aufhält. Beim Prozess in Koblenz können die Erkenntnisse aus neun Jahren Krieg dennoch vor Gericht genutzt werden.

Schreie in der Cafeteria

Fotos: Thomas Lohnes / AFP Pool / dpa / pa

Als Wassim Mukdad dem Oberst Anwar R. das letzte Mal so nahe war wie nun in Koblenz, hätte ihm dieser befehlen können, sich auf den Bauch zu legen und die Beine anzuwinkeln. Dann wäre er mit dem Gürtel oder einem Schlauch auf die Fußsohlen geschlagen worden und anschließend wäre es ihm vor lauter

Schmerzen kaum mehr möglich gewesen, zu gehen. Von der sogenannten »Falaka« berichten viele, die in der Abteilung 251 des Allgemeinen Geheimdienstes in Damaskus eingesperrt waren. Fünf Tage wurde der politische Aktivist Mukdad im Herbst 2011 dort festgehalten und verhört, Leiter der Ermittlungsabteilung war damals Anwar R. Der steht ihm nun, am ersten Tag des Prozesses und 8.000 Kilometer vom Tatort entfernt, in einem lichtdurchfluteten Gerichtssaal gegenüber. Doch diesmal muss Mukdad keine Schläge fürchten, keine Elektroschocks oder Stresspositionen. Die gehörten in der Abteilung 251 zum Alltag, das werden verschiedene Zeugen im Laufe des Gerichtsverfahrens berichten. Sie werden auch beschreiben, dass die Gefängnisräume unterirdisch lagen und dass das bei Geheimdienstgefängnissen immer so war. Sie werden erzählen, dass die Ermittler in ihren Büros im Erdgeschoss Gefangenen die Beine brachen, um ihre Teilnahme an weiteren Protesten zu verhindern – und dass man die Schreie der Gefangenen bis in die Cafeteria im Hof hörte, wo die Wärter und Ermittler ihre Pausen verbrachten. »Was ich erlebt habe, war kein Einzelfall, sondern hatte System«, sagt Wassim Mukdad bei einem Treffen in Berlin zwei Wochen nach Verfahrensbeginn. »Das weiß ich, da ich leider mehr als eine Erfahrung in mehr als einer Geheimdienstabteilung gemacht habe.« Der 35-Jährige ist mit seinem Fahrrad in den Bürgerpark Pankow gekommen. Schon in Damaskus war er am liebsten mit dem Rad unterwegs, das sei sicherer gewesen. »Man wurde als Fahrradfahrer nicht so oft von den Geheimdiensten kontrolliert«, sagt Mukdad. Seine langen Haare hat er mit einer Klammer hochgesteckt, den dunklen Bart durchziehen graue Fäden. Seit 2016 lebt der Berufsmusiker in Berlin, spielt in verschiedenen Orchestern Oud, ein traditionelles arabisches Lauteninstrument, und studiert Musikwissenschaften an der Berliner Humboldt Universität. Dort lernte er eine Anwältin des European Center for Constitutional and Human Rights kennen, dessen Anwälte einige der Nebenkläger im Verfahren gegen Anwar R. und Eyad A. vertreten. Sie erzählte ihm von der Festnahme der beiden Geheimdienstler und fragte ihn, ob er aussagen wolle. Er beschloss, einen Schritt weiterzugehen und sich gemeinsam mit anderen Folterüberlebenden der Nebenklage anzuschließen. »So erhalte ich Einblick in die Details des Prozesses«, erklärt Mukdad. Als Nebenkläger darf er bei allen Prozessterminen dabei sein, Fragen und Anträge stellen. Und er kann endlich dem Mann in die

An der Staatsfolter beteiligt? Die Angeklagten Anwar R. (Foto links, 2. v. r.) und Eyad A. (Foto rechts) im Gerichtssaal, April 2020.

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Augen blicken, der mutmaßlich für das Leid in der Abteilung 251 verantwortlich war. Mehr Details dazu, warum Mukdad festgenommen und was er in Haft erlebt hat, darf er noch nicht mitteilen, um seine Aussage im Prozess nicht vorwegzunehmen. Dass die beiden Angeklagten im Gegensatz zu ihm ein faires Gerichtsverfahren bekommen, findet Mukdad gut: »Hier geht es nicht um Rache, sondern um Gerechtigkeit«, sagt er und zieht an seiner selbstgedrehten Zigarette. Im Gegenteil, es sei ihm wichtig gewesen, zu sehen, dass Anwar R. und Eyad A. respektvoll behandelt werden. »Dafür haben wir damals unsere Revolution begonnen: für Rechtsstaatlichkeit, Gerechtigkeit und Freiheit.«

mir nicht angeordnet oder gefördert worden«, lässt er in einem von seinen Anwälten verlesenen Statement am vierten Prozesstag erklären. »Ich habe die mir vorgeworfenen Taten nicht begangen.« Ihm seien schon zu Beginn der Aufstände sämtliche Kompetenzen entzogen worden, weil er sich zu kritisch geäußert und sein alawitischer Vorgesetzter an der Loyalität des sunnitischen Offiziers gezweifelt habe. »Ich wurde zum Flüchtling, weil ich die Geschehnisse in Syrien nicht mitgetragen habe. Alle, die einverstanden waren, setzen ihren Dienst immer noch fort«, erklärt Anwar R. in seinem Statement. Er habe nur den richtigen Zeitpunkt für seine Flucht abgewartet, sagt er und liefert eine Liste von 25 Personen, die seine Unschuld bezeugen könnten. Sie alle gehörten der Opposition an und könnten für seine politische Einstellung und Nähe zur Revolution bürgen. Eine unerwartete Wendung gibt es tatsächlich im Lebenslauf des 57-jährigen Geheimdienstlers, der seine Karriere mit 25 Jahren bei der Polizei begann und zu den besten seines Ausbildungsjahrgangs gehörte: Nach seiner Flucht aus Syrien im Jahr 2012 schloss er sich nicht nur der Exil-Opposition in Jordanien an, sondern spielte dort eine derart wichtige Rolle, dass er 2014 sogar als Teil ihrer Delegation zu den Friedensverhandlungen in Genf reiste. Nach Deutschland kamen er und seine Familie schließlich mit der Unterstützung des Auswärtigen Amtes, dem er als Mitglied der Opposition bekannt war.

»Ich habe die Taten nicht begangen«

Die Existenz der Höllenmaschinerie beweisen

Kaum etwas ist von dieser Revolution übriggeblieben. Während der Krieg in Syrien in sein zehntes Jahr geht und Berichte über gezielte Angriffe auf Krankenhäuser die Berichte über Giftgasattacken ablösen, sitzen noch immer Zehntausende Oppositionelle in den Gefängnissen. Mit welcher Systematik dort gefoltert und gemordet wird, haben schon vor Jahren die sogenannten Caesar-Fotos gezeigt: 28.000 Bilder von Leichen, die ein desertierter Militärfotograf aus dem Land schmuggelte und veröffentlichte. Untermauert werden die grausamen Beweise immer wieder von den Aussagen Überlebender, die die Grundlage zahlreicher Berichte bilden. Von alledem will der Angeklagte Anwar R. nichts gewusst haben. Glaubt man seiner Aussage, bestanden die meisten seiner Begegnungen mit Gefangenen aus Gesprächen über arabische Kultur und gemeinsame Bekannte, bei denen er Kaffee anbot und sich um ihre Freilassung bemühte. »Folterungen sind von

Persönlicher Vorteil, tatsächlicher Sinneswandel oder Spitzelauftrag der Regierung – die syrische Community in Deutschland ist sich uneinig darüber, was die wahre Motivation hinter R.’s Seitenwechsel war. Es spiele ohnehin keine Rolle, glaubt Anwar Al-Bunni, denn auch ein Überläufer müsse für seine Taten zur Rechenschaft gezogen werden. »Im Islam werden einem, der konvertiert, alle seine vorherigen Sünden vergeben«, erklärt er. »Aber dieses Prinzip gilt nicht außerhalb der Religion. Gerechtigkeit hat nichts mit politischen Positionen zu tun, sondern sie ist für die Opfer da.« Einen Einblick in deren Bedürfnisse bietet eine Studie der syrischen Exilorganisation The Day After, die Syrerinnen und Syrer im Land selbst sowie in Europa und im Libanon zu ihrem Gerechtigkeitsempfinden befragt hat. Wenn es um Folter ging, waren fast 75 Prozent der Befragten dafür, dass die Täter einen fairen Gerichtsprozess und nach einem entsprechenden Urteil eine Strafe bekommen sollten. Dabei unterschieden sie kaum zwischen denen, die Verbrechen begangen und denen, die sie befohlen haben. Für eine Hinrichtung der Täter waren insgesamt wenige Befragte. Vergessen und Weitermachen kam für nicht einmal ein Prozent in Frage. Für Al-Bunni ist das Verfahren gegen Anwar R. und Eyad A. nur ein allererster Schritt in Richtung einer Übergangsjustiz. »Unser Ziel ist es nicht, zwei kleine Rädchen der Höllenmaschinerie zu verurteilen, die nach wie vor Menschen tötet«, erklärt der Anwalt, der auch selbst als sachverständiger Zeuge in Koblenz aussagen wird. »Wir wollen diese Rädchen vielmehr nutzen, um die Existenz der Maschinerie und das Ausmaß ihrer Höllenhaftigkeit zu beweisen.« Langfristig möchte Al-Bunni alle Verbrecher des syrischen Regimes vor Gericht bringen, sagt er. Bis hin zu Präsident Baschar Al-Assad.

Foto: Thomas Frey / dpa / pa

»Hier geht es nicht um Rache, sondern um Gerechtigkeit.« Wassim Mukdad, Nebenkläger

Auch Wassim Mukdad (l.) ist Nebenkläger. Koblenz, im April 2020.

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GRAPHIC REPORT ÄGYPTEN

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Permanenter Ausnahmezustand

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GRAPHIC REPORT ÄGYPTEN

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Foto: AP / pa

Verhandlungspartner und Gegner. General Ratko Mladić (l.) und UN-Kommandeur Thomas Karremans (Mitte) am 12. Juli 1995.

Das Foto mit dem Schlächter Vor 25 Jahren ermordeten serbische Soldaten in Srebrenica 8.000 bosnische Männer und Jungen. Kurz zuvor hatte ein UN-Kommandeur mit dem verantwortlichen General angestoßen. Hätte er das Massaker verhindern können? Von Paul Hildebrandt Dieser Moment wird über Leben und Tod entscheiden: Vier Männer stehen im Kreis, sie tragen Camouflage-Kleidung. In der Hand halten sie ein Glas mit Wein. Sie haben den Trinkspruch bereits gesprochen, »živjeli«, aufs Leben. Einer von ihnen, ein großer Mann mit Schnurrbart, hebt das Glas an die Lippen und blickt auf einen untersetzten, breitschultrigen Mann mit glatt rasiertem Gesicht. Er schaut ihn nicht an, wie man einen Trinkpartner anschaut, sondern eher wie einen gefährlichen Hund.

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Es ist der 11. Juli 1995 am frühen Abend, als dieses Foto geschossen wird. Noch Jahre später wird die Aufnahme in Zeitungen auf der ganzen Welt abgedruckt, von Richtern und Anwälten diskutiert und von Demonstranten ausgedruckt und in die Luft gehalten. Denn was viele Menschen auf dem Foto zu erkennen glauben, ist der Beweis für die Mitschuld der UNO an einem der schlimmsten Massaker in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg: Srebrenica. Fakt ist: Nicht einmal 48 Stunden nach diesem Treffen werden rund 8.000 Jungen und Männer von hinten erschossen und im Boden verscharrt, ein Gericht wird das Massaker später als Völkermord bezeichnen. Der Streit um das Foto steht deshalb auch für die große Frage: Hätte das Morden verhindert werden können?

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Mladićs geheimer Auftrag Das Jahr 1995: Seit mehr als drei Jahren tobt bereits der Krieg. Jugoslawien zerfällt, Kroatien und Slowenien haben sich abgespalten, nun wollen auch muslimische Bosniaken die Unabhängigkeit, erbitterte Kämpfe entbrennen. Um die Zivilbevölkerung zu schützen, haben die Vereinten Nationen in Bosnien und Herzegowina Schutzzonen eingerichtet, in denen nicht gekämpft werden darf. Die beiden Männer, die sich auf dem Foto gegenüberstehen, sind Verhandlungspartner – und Gegner. Der Mann mit dem Schnurrbart heißt Thomas Karremans, ein Kommandeur der niederländischen UN-Schutztruppen. Obwohl er kaum Erfahrungen in Krisenregionen besitzt, soll er den Waffenstillstand in der Region Srebrenica überwachen. Nur eine Armlänge entfernt steht Ratko Mladić, General der serbisch-bosnischen Truppen. Vor wenigen Monaten hat er vom Präsidenten der bosnischen Serben einen geheimen Auftrag erhalten: Er soll alle muslimischen Bosnier aus der Region vertreiben. »Verursache bei den Bewohnern von Srebrenica und Žepa eine totale Unsicherheit, ohne Hoffnung auf Überleben«, steht in einem Dokument, das nach dem Ende des Krieges an die Öffentlichkeit gelangte. Im Frühling des Jahres 1995 hatte Mladić deshalb Massaker an der Zivilbevölkerung verübt. Nach dem Krieg sollten im Osten des Landes nur noch Serben leben. Die Männer treffen sich im Hotel Fontana in Srebrenica, nur wenige Stunden nachdem die serbischen Truppen die Stadt eingenommen haben. Karremans ist erschöpft, seit März blockieren die Serben alle Zufahrtsstraßen, es fehlt an Benzin und Verpflegung im Camp der UN-Truppen. Weil die Stromverbindungen gekappt wurden, können die Soldaten nicht einmal mehr Wasser kochen oder nachts das Licht brennen lassen. Seit Beginn der serbischen Attacke vor knapp einer Woche hat Karremans kaum geschlafen. So wird er es später erzählen. Mladić hingegen ist bester Laune, er bellt den Niederländer an: »Sie haben die Muslime bewaffnet und für einen Krieg vorbereitet. Und Ihre Truppen haben auf meine geschossen, auf mich persönlich. Haben Sie das angeordnet?« Karremans sagt: »Lassen Sie mich erklären. Es sind die Anweisungen. Wenn wir beschossen werden, dann müssen wir zurückschießen.« Und dann: »Dafür möchte ich mich entschuldigen.« Von diesem Treffen gibt es Filmaufnahmen, darauf sieht man: Die beiden Männer sind nicht ebenbürtig. Mladić ist der Sieger, Karremans der Verlierer. Er wirkt nicht wie der Kommandeur einer internationalen Armee, sondern wie ein Mann, der große Angst hat. Mehr als 40.000 Menschen waren in den Monaten zuvor vor den serbischen Truppen nach Srebrenica geflohen, um Schutz bei den UN-Truppen zu suchen. Als die Serben am 6. Juli 1995 mit ihrer Attacke begannen und sich die niederländischen Soldaten zurückzogen, waren die Menschen verzweifelt aus der Stadt geflohen. Tausende machten sich auf den Weg nach Norden. Der Rest, etwa 25.000 Menschen, versuchte auf das UN-Gelände zu gelangen, das nur wenige Kilometer entfernt lag. Vor den Toren des UN-Geländes harrten sie aus, in der Hoffnung auf Rettung. Sie sind es, um die Mladić und Karremans an jenem 11. Juli verhandeln. Es ist halb neun Uhr abends, Karremans sagt, er habe den Auftrag bekommen, für die Sicherheit der Flüchtlinge zu sorgen, und auch seine Soldaten wollten nach Hause. Ob er, Mladić, dafür sorgen könne, sie zu evakuieren? Karremans ist der Bittsteller, Mladić entscheidet, wie es weitergeht. Er wird versöhnlicher, bietet dem Niederländer eine Zigarette an, erkundigt sich nach

SREBRENICA

Die beiden Männer sind nicht ebenbürtig. Mladić ist der Sieger, Karremans der Verlierer. dessen Familie, dann bestellt er Wein und Mineralwasser für einen »Spritz«, ein serbischer Fotograf schießt Fotos. In den folgenden Stunden treffen sich Mladić und Karremans drei Mal und finden einen Deal: Die Niederländer sorgen dafür, dass die Bosnier entwaffnet werden, Mladić wird alle Zivilisten aus Srebrenica evakuieren. Zuerst Frauen und Kinder, dann Männer. Mladić sagt, er müsse zuerst überprüfen, ob unter den Männern Kriegsverbrecher seien. Ihn interessiere die Zivilbevölkerung nicht. Eine Lüge, die Karremans nicht hinterfragt. In diesem Moment hätte er darauf bestehen können, die Flüchtlinge nur unter UN-Aufsicht ziehen zu lassen. Doch er versucht es nicht einmal. Es ist heiß am nächsten Tag, die muslimischen Flüchtlinge sitzen auf dem Boden, es gibt wenig Essen, kaum zu trinken. Die Niederländer lassen niemanden rein. Serbische Soldaten zerren immer wieder bosnische Männer aus der Menge der Flüchtlinge. Am folgenden Tag finden UN-Soldaten nur wenige hundert Meter entfernt die Leichen der Männer. Sie liegen mit dem Gesicht nach unten im Dreck, von hinten erschossen. Auch davon wird Karremans berichtet. Er unternimmt nichts.

Pralinen und andere Geschenke Am 12. Juli fahren die ersten Busse vor das UN-Gelände. Mladić hat sie organisiert. Er befiehlt Frauen und Kindern, einzusteigen. Serbische Soldaten kontrollieren, dass keine Männer dabei sind. Karremans hat sich zurückgezogen. Als ihn einer seiner Ärzte fragt, was nun mit den bosnischen Männern passiere, antwortet er: Darüber solle man besser nicht nachdenken. Es sei vermutlich nichts Gutes. Das zumindest wird der Arzt später berichten. Am 13. Juli liefern die UN-Truppen auch die letzten bosnischen Männer an die Serben aus. Am späten Nachmittag zwingen serbische Soldaten rund 6.000 bosnische Männer in Busse und transportieren sie ab. Niemand hält sie auf. Sechs Tage später, am 21. Juli 1995, dürfen auch die Holländer abziehen. Zum Abschied überreicht Mladić Pralinen und andere Geschenke an Karremans, die Männer scherzen und trinken noch einen Schnaps. Zu diesem Zeitpunkt haben serbische Truppen nur wenige Kilometer entfernt vermutlich 8.000 Menschen getötet. Die Öffentlichkeit erfährt schnell von den Massakern bei Srebrenica, Karremans wird Jahre später für seine Verdienste ausgezeichnet. Als er zum Treffen mit Mladić befragt wird, behauptet er, er habe damals nur Wasser und keinen Wein getrunken. Mladić wird 2011 verhaftet und dem UN-Tribunal übergeben. Im Jahr 2017 verurteilt ihn das Gericht als Kriegsverbrecher zu lebenslanger Haft. Im Jahr 2019 kommt das Gericht in Den Haag zu dem Schluss: Die Niederlande tragen eine Mitschuld am Tod von rund 350 Menschen, jenen also, die auf dem UN-Gelände bereits Zuflucht gefunden hatten.

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Trotz eines Abkommens zwischen den USA und den Taliban ist Afghanistan nicht befriedet. Der Internationale Strafgerichtshof will Kriegsverbrechen ahnden, kommt aber nicht voran. Von Andrea Jeska Es passiert nicht oft, dass sich einstige Kriegsgegner zusammensetzen und ein Abkommen beschließen. Und es passiert noch seltener, dass sich anschließend die internationalen Schlagzeilen über so einen Fortschritt in einem kriegszerrütteten Land trotzdem nicht ändern. Trotz aller Bemühungen, das zerrissene und gebeutelte Afghanistan zu befrieden, nimmt die Zahl der Angriffe und Anschläge nicht ab. Und auch nicht die Zahl der zivilen Opfer. Nach Angaben der Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) wurden 2020 von Januar bis März 533 Zivilpersonen getötet und 760 verletzt. Im März habe die Gewalt stark zugenommen und damit auch die Zahl der Opfer, teilte UNAMA mit. Der Juli 2019 war der tödlichste Monat in den vergangenen zehn Jahren des Konflikts. Der starke Anstieg sei vor allem auf Anschläge der radikalislamischen Taliban zurückzuführen, aber auch militärische Einsätze der afghanischen Streitkräfte und der US-Truppen hätten zivile Opfer verursacht. Im März entschied die Berufungskammer des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag, Ermittlungen zu mutmaßlichen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zuzulassen. Es geht um Taten, die seit 2003 in Afghanistan verübt wurden. Zunächst hatte es so ausgesehen, als würden diese nicht verfolgt. Im Frühjahr 2019 hatte die Vorverfahrenskammer des Gerichts Ermittlungen noch abgelehnt. Zur Begründung hieß es damals unter anderem, es mangele an der Bereitschaft zur Mitarbeit staatlicher Stellen, die Ermittler hätten zudem mit Haushaltszwängen zu kämpfen. Dass die Entscheidung des Vorjahrs jetzt revidiert wurde, ist ein Etappensieg, aber noch lange kein Sieg für die Opfer. Denn von einer möglichen Strafverfolgung könnten neben den Taliban-Milizen auch afghanische Militärs sowie amerikanische Soldaten und CIA-Mitarbeiter betroffen sein.

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Und ob es Chefanklägerin Fatou Bensouda tatsächlich gelingen wird, einen der Täter vor Gericht zu bringen, ist fraglich. Die Anklagebehörde sammelt seit vielen Jahren Beweise für Völkerrechtsverbrechen, die während des Kriegs von allen Konfliktparteien verübt wurden, doch ist sie auf die Mithilfe der jeweiligen Regierungen angewiesen und muss die Möglichkeit haben, vor Ort, in Afghanistan und in den USA, Zeugen zu befragen und Dokumente einzusehen. Die afghanische Regierung will nicht kooperieren und hat ein eigenes Komitee gegründet, das Kriegsverbrechen aufdecken und die Täter zur Rechenschaft ziehen soll. Heftig und höhnisch fiel die Reaktion der USA aus. USAußenminister Mike Pompeo, ehemaliger Chef der CIA, sagte, dies sei »ein wahrhaft atemberaubender Schritt einer nicht rechenschaftspflichtigen politischen Institution, die sich als juristische Einrichtung ausgibt«. Die US-Regierung werde alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um US-Bürger vor »diesem unrechtmäßigen sogenannten Gericht« zu schützen. Dies ist keine leere Drohung. Die USA sind kein Vertragsstaat des Gerichtshofes und lehnen diesen schon seit Jahren strikt ab. Bereits im vergangenen Jahr hatten die USA angekündigt, Mitarbeitern des Internationalen Strafgerichtshofs die Einreise zu verweigern, wenn sie gegen US-Bürger in Zusammenhang mit deren Handeln in Afghanistan ermitteln. Kurz darauf entzogen sie Bensouda das Einreisevisum. Es ist damit zu rechnen, dass die USA auch Druck auf Litauen, Rumänien und Polen ausüben werden, um zu verhindern, dass Ermittler des Strafgerichtsho-

Die Taliban kontrollieren nach 18 Jahren Krieg wieder fast 60 Prozent des Landes. AMNESTY JOURNAL | 04/2020

Foto: Jim Huylebroek / The New York Times / Redux / laif

Beweise gäbe es genügend


Keine Gerechtigkeit in Sicht. US-Truppen in einem Militärhelikopter über der afghanischen Provinz Helmand, September 2019.

fes dort ihre Arbeit zu geheimen Foltergefängnissen machen können, die der Geheimdienst CIA in diesen Ländern in den 2000er Jahren unterhielt. Mit seiner jüngsten Entscheidung hat der IStGH zwar seine Unabhängigkeit unter Beweis gestellt und die Vorwürfe von Menschenrechtsorganisationen entkräftet, er lasse sich von den USA unter Druck setzen und stehe nicht auf der Seite der Opfer, doch wie es nun weitergehen wird, ist unklar.

Ein seltsames Abkommen Derweil geht das Töten in Afghanistan weiter. Selbst die CoronaPandemie, die das marode Gesundheitssystem überfordert, ändert daran nichts. Vor allem die Gewaltbereitschaft der Taliban ist weiterhin groß, obwohl die USA mit der bewaffneten Gruppe Ende Februar ein Abkommen ausgehandelt haben, das den Weg für Friedensgespräche mit der afghanischen Regierung freimachen sollte. Doch droht dem Abkommen dasselbe Schicksal wie den Ermittlungsversuchen des ICC: Es scheitert an der Realität. Die Taliban kontrollieren nach 18 Jahren Krieg wieder fast 60 Prozent des Landes. Ihre Macht ist ungebrochen, und das Abkommen verlangte von ihnen nur geringe Zugeständnisse. Sie mussten lediglich zusichern, dass sich terroristische Kräfte wie Al-Qaida nicht weiter in Afghanistan ausbreiten, von afghani-

AFGHANISTAN

schem Boden keine Angriffe mehr auf den Westen ausgehen und innerafghanische Friedensverhandlungen in Gang kommen. Ziel der Verhandlungen war nicht in erster Linie Frieden für Afghanistan, sondern der Abzug der US-Streitkräfte, an dem sowohl die USA als auch die Taliban ein Interesse haben. Dass die afghanische Regierung nicht an den Verhandlungen beteiligt war, und die Ängste der Zivilbevölkerung vor einer Rückkehr der Taliban kein Gehör fanden, sind Kollateralschäden – wie vieles in diesem Krieg. Nun kann US-Präsident Donald Trump seine Truppen rechtzeitig vor der nächsten Wahl nach Hause holen, die Gewalt in Afghanistan verringert sich jedoch nicht. Afghanistan ist zudem seit der Präsidentenwahl im September 2019 politisch noch handlungsunfähiger denn je. Es dauerte Monate, bis der amtierende Präsident Ashraf Ghani und sein Herausforderer Abdullah Abdullah sich auf eine Machtteilung einigen konnten. Die Friedensverhandlungen zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung haben noch nicht begonnen, weil es Streit gibt um die Freilassung von Gefangenen, die als Vorbedingung für die Gespräche gilt. Derweil steigt die Zahl der Kriegsverbrechen, die der Internationale Strafgerichtshof aufdecken und strafrechtlich verfolgen will. Umgekehrt sinkt die Hoffnung auf Strafe für die Kriegsverbrecher, Folterer und Vergewaltiger.

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Mörser und Minen als Nachbarn

Stellungskrieg ohne Ende. Ein ukrainischer Soldat im Schützengraben nahe der Stadt Awdijiwka im Donbass.

Im Donbass liefern sich prorussische Separatisten und die ukrainische Armee seit Jahren Kämpfe. Die Leidtragenden sind vor allem alte Menschen, die in der Region bleiben müssen. Von Klaus Petrus (Text und Bilder) Das Haus von Valentina Pawlowa Hydrowa, 65, und ihrem Mann Alexander Ivanowitsch Hydrow, 78, liegt an einer von Panzern und Raketen vernarbten Straße. Das Ehepaar wohnt in dem Städtchen Staniza Luhanska in der Ostukraine, fünf Kilometer vom Separatistengebiet und fünfundzwanzig Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Noch vor wenigen Jahren wohnten dort 10.000 Menschen, und die Leute kamen von weit, um durch die prächtigen Birkenwälder entlang des Flusses Siwerskyj Donez zu wandern. Heute, sechs Jahre nach Kriegsausbruch, ist das Gebiet vermint, und viele Bewohner sind weggezogen. Das Ehepaar ist geblieben. Jedoch nicht aus freien Stücken. »Wo sollen wir denn hin?«, fragt Alexander Ivanowitsch Hydrow. »Dies ist unser Zuhause, wir haben kein anderes.« Alles begann im November 2013. Damals demonstrierten Tausende Ukrainer auf dem Maidan-Platz in Kiew gegen Präsident Viktor Janukowitsch, der eine weitere Annäherung der Ukraine an die EU ablehnte und sich in Richtung Russland orientierte. Die Proteste endeten blutig, Janukowitsch musste Anfang des Jahres 2014 aus dem Land fliehen. Sein Nachfolger Petro Poroschenko gab sich als Patriot. Er versprach, die Ukraine an den Westen zu binden und Russland, dem »großen Bruder«

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im Osten, zu trotzen. Damit konnte der Oligarch die Proteste in Kiew beenden. Doch im Osten des Landes, wo sich viele Russland verbunden fühlen, sorgte Poroschenkos Politik für Verunsicherung. Dort galt immer noch der frühere Präsident Janukowitsch als Förderer des Donbass, wie die Region im Osten des Landes auch genannt wird. Über Poroschenko hieß es hingegen, er wolle die Menschen im Osten ihrer Identität berauben, sie »verwestlichen«. Diese fragile Übergangszeit nutzte der russische Präsident Wladimir Putin und schuf über Nacht Fakten: Zuerst im März 2014 mit der Annexion der Halbinsel Krim im Südosten der Ukraine und dann im April mit der Unterstützung der Separatisten im Donbass. Um ihre Unabhängigkeit besorgt, besetzten diese die Gebiete um die Städte Donezk und Luhansk und riefen dort unabhängige »Volksrepubliken« aus. Die ukrainische Regierung schickte daraufhin Militär in den Osten des Landes. Die Jahre 2014 und 2015 waren die bislang schlimmsten in diesem Krieg, der 1,5 Millionen Menschen in die Flucht getrieben und 13.000 Tote gefordert hat, unter ihnen 3.300 Zivilisten. Bis heute sind die Positionen gleichgeblieben. Auf der einen Seite wollen viele Ukrainer die Einheit des Landes und die Orientierung nach Westeuropa bis in den östlichsten Zipfel verteidigen; auf der anderen Seite wenden sich prorussische Separatisten gegen eine nationalistische Vereinnahmung aus Kiew. Dazwischen liegt eine Frontlinie, 450 Kilometer lang, die weiterhin umkämpft ist. Und an dieser Frontlinie liegt Staniza Luhanska.

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Nur leichte Kriegsschäden. Viele Häuser in den Dörfern entlang der Frontlinie stehen seit Jahren leer.

Minen sorgten seit Kriegsbeginn für mehr als 2.000 Tote und Verletzte. Eines von vielen Minenfeldern im Osten der Ukraine.

UKRAINE

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»Dies ist unser Zuhause, wir haben kein anderes.« Valentina Pawlowa Hydrowa, Alexander Ivanowitsch Hydrow und Katze.

Die Alten der »Grauzone« Als die Separatisten 2014 in den Ort kamen und heftige Kämpfe ausbrachen, mussten Valentina Pawlowa Hydrowa und Alexander Ivanowitsch Hydrow wochenlang in einen Bunker. Bei ihrer Rückkehr war die Wand ihres Hauses zerschossen, und das Dach hatte ein Loch. Schon 2015 bat das Ehepaar die ukrainische Regierung um Unterstützung, doch bis heute erhielt es keine Antwort. »Wie lange muss dieser Krieg denn noch dauern, bis wir ein neues Dach bekommen?«, fragt die 65-Jährige bitter. Wie den beiden ergeht es vielen Menschen in den Dörfern dieser »Grauzone«, wie das Gebiet entlang der Frontlinie auch genannt wird. Schätzungen zufolge leben dort noch 80.000 Menschen, vor dem Krieg waren es Hunderttausende. Manche sind in den Westen in die großen Städte gezogen, andere ins Ausland. Unter den Zurückgebliebenen sind viele ältere, kranke und arme Menschen. Zwar gibt es Hilfsorganisationen, die für das Nötigste sorgen. Meist aber sind die Bewohner auf sich gestellt – und fühlen sich im Stich gelassen. Der Politik sind sie längst überdrüssig geworden. »Ukraine oder Russland? Hauptsache, sie hören auf zu schießen«, sagt Valentina Pawlowa Hydrowa. Bei den Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2019 wählten viele den Schauspieler und Komödianten Wolodymyr Selenskyj, weil der im Wahlkampf ein Ende des Krieges im Donbass, ein Ende der Korruption und soziale Gerechtigkeit für alle versprochen hatte. Aber passiert ist bisher wenig, im Gegenteil. Kaum im Amt, kürzte Selenskyj die Ausgaben für Soziales. Zu spüren bekommen das vor allem die alten Menschen. Die ukrainische Regierung garantiert zwar eine Rente. Doch die umgerechnet 80 bis 100 Euro reichen kaum zum Überleben. Einmal im Monat holt sich das Ehepaar die Rente am Bankautomaten in Staniza Luhanska ab, so wie Tausende andere

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Rentner, die aus den selbsternannten »Volksrepubliken« über den Grenzfluss Siwerskyj Donez in das Städtchen kommen. Von den Separatisten bekommen sie kein Geld, und die Regierung in Kiew gewährt ihnen ihre Rente nur, wenn sie das Geld auf ukrainischem Boden abholen. So stauen sich in Staniza Luhanska, dem einzigen Grenzübergang zwischen ukrainischem Regierungsgebiet und Separatistenterritorium weit und breit, regelmäßig die Massen. Bis zu 12.000 Menschen passieren dort täglich die Grenze, mehr als eine Million sind es im Jahr: Arbeiter, Flüchtlinge aus dem Donbass, die ihre Verwandten auf der »anderen« Seite besuchen wollen, und vor allem Rentner. Der Übertritt ist beschwerlich, stundenlanges Warten an den Checkpoints ist die Regel. Seit dem Ausbruch der CoronaPandemie ist es noch schwieriger geworden. Zwar wurden bisher nur wenige Erkrankungen gemeldet, Hilfsorganisationen haben aber auch im Osten des Landes mit Aufklärungskampagnen begonnen, und die ukrainische Regierung hat die Regelungen für den Grenzverkehr in Staniza Luhanska verschärft. So können nur noch die Menschen auf die andere Seite, die dort einen Wohnsitz haben. Für Tausende Arbeiter und Binnenflüchtlinge aus dem Donbass bedeutet das, dass sie zu Hause bleiben müssen – und für die Pensionäre, dass sie vorerst kein Geld bekommen.

Besser verkriechen Wie es wäre, wenn es diesen Krieg nie gegeben hätte oder wenn er endlich aufhörte, darüber mag Yuliya Vasilevna Horuzhevskaya nicht nachdenken. Die 80-Jährige wohnt nahe der Frontlinie, im Dorf Luhanske. Fast jeden Tag hört sie Schüsse oder den Donner von Mörserraketen. Dann versteckt sie sich in ihrem Häuschen, kriecht ins Bett und wartet, bis sie nur noch das Ge-

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»Wir wollen Frieden. Oder ist das zu viel verlangt?« Yuliya Vasilevna Horuzhevskaya.

bell ihres Hundes vernimmt, der draußen vor dem Schuppen angekettet ist. Manchmal dauert es Minuten, manchmal Stunden. »Ohne unsere Kinder und Enkel wären wir längst verloren, es kümmert sich niemand um uns«, klagt die alte Frau. Viele Jugendliche sind aus den Dörfern fortgegangen; auch ihre einzige Tochter ist nach Ausbruch des Krieges nach Russland gezogen. Ihr Enkel Yuri lebt in Bachmut, etwa dreißig Kilometer vom Dorf entfernt. Der Kontakt ist geblieben, und manchmal schickt die Tochter ein wenig Geld nach Hause. Der Enkel arbeitet in einer Fabrik bei Kramatorsk westlich der Grauzone. Zu Beginn des Krieges, im Frühjahr 2014, waren auch in Kramatorsk Separatisten aufgetaucht, doch schon bald wurde die Stadt wieder von der ukrainischen Armee in Besitz genommen, und viele, die aus dem Donbass fliehen mussten, zogen hierher – darunter auch reiche Unternehmer, die investieren wollten. Heute sind in Kramatorsk die ukrainischen Nationalfarben allgegenwärtig, und die Stahlfabriken und Kohlebergwerke laufen wieder auf Hochtouren. Yuliya Vasilevna Horuzhevskaya kann verstehen, dass ihr Enkel nicht in Luhanske leben will. Obschon Kramatorsk keine hundert Kilometer von der Frontlinie entfernt ist, liegen Welten zwischen der Stadt und ihrem kleinen Dorf mit seinen unwegsamen, vom ständigen Kriegsgeschehen beschädigten Straßen, den Gas- und Stromleitungen, die seit Jahren nicht funktionieren, den Sendungen des russischen Rundfunks, in denen die Ukrainer als Faschisten beschimpft werden, und den Häusern mit durchschossenen Wänden, eingefallenen Dächern und überwucherten Gärten. Und doch steht für die 80-Jährige fest, dass sie bleiben will. In Luhanske ist sie geboren, dort wird sie sterben. Wie Valentina Pawlowa Hydrowa und Alexander Ivanowitsch Hydrow wüsste

UKRAINE

sie auch gar nicht, wohin sie sonst gehen sollte. In die Nachbardörfer, ein paar Kilometer weiter weg von den Schützengräben? In die großen Städte? In Luhanske hat die alte Frau wenigstens ein Dach über dem Kopf, einen Garten und die Menschen aus dem Ort – vielleicht noch um die tausend –, die sie schon ihr Leben lang kennt. Einmal, erzählt sie, sei sie im Garten gewesen, um Kartoffeln auszugraben und stieß dabei auf eine Mine. Ob von der ukrainischen Armee oder den prorussischen Separatisten, das wusste sie nicht. Was spielt das schon für eine Rolle, dachte sie und grub weiter. »Wenn sie mich töten wollen, dann töten sie mich halt.«

OSTUKRAINE Kiew Staniza Luhanska

Luhanske

Donezk

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RUSSLAND UKRAINE

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Hätte, hätte, Bei der Herstellung von Palmöl in Guatemala, dem Abbau von Kobalt in der Demokratischen Republik Kongo und anderen industriellen Vorprodukten spielen die Menschenund Arbeitsrechte der Beschäftigten oft kaum eine Rolle. Lieferkettengesetze in Europa sollen das ändern. Von Hannes Koch Der Höhepunkt der Globalisierung dürfte vorerst überschritten sein. Die Folgen der Corona-Pandemie behindern internationale Flüge, Kreuzfahrten und weltweite Wertschöpfungsketten. Doch schon lange zuvor wurden die globalen Handelsverflechtungen

Beispiel: Kobalt aus dem Kongo Die Bürgerrechts- und Anwaltsorganisation International Rights Advocates reichte Ende 2019 bei einem Gericht in Washington Klage gegen die US-Konzerne Apple, Alphabet (Google), Dell, Microsoft und Tesla ein. Dabei geht es um die Arbeitsbedingungen in Kobaltminen in der Demokratischen Republik Kongo. Das Metall wird unter anderem in Lithium-Ionen-Batterien für Computer, Smartphones und Elektroautos verwendet. Die Anwälte vertreten 14 Kinder oder deren Angehörige, die beim Einsturz von Stollen in Kobaltminen getötet oder verstümmelt wurden. Die Arbeitsbedingungen seien »steinzeitlich«, heißt es in der Klage. Der Tageslohn betrage ein bis zwei Dollar. Die verklagten Firmen profitierten von diesen Produktionsbedingungen und schützten die Kinder nicht. Apple und Dell beteuerten gegenüber der britischen Zeitung Guardian, sie würden sich für faire Arbeitsbedingungen einsetzen. Gäbe es in Europa Lieferkettengesetze, müssten die hiesigen Ableger der US-Konzerne nachweisen, was sie tun, um Menschenrechtsverletzungen in den Minen zu vermeiden. Verstöße wären leichter einklagbar und könnten zu hohen Schadenersatzund Strafzahlungen führen.

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kritisiert – aus den Blickwinkeln der Ökologie sowie der Menschen- und Arbeitsrechte. Dabei sind in den vergangenen Jahren gewisse Fortschritte zu verzeichnen. So müssen mittlerweile in Deutschland größere Unternehmen belegen, ob sie menschenrechtliche Sorgfaltspflichten für die Arbeitsbedingungen in den weltweiten Zulieferfabriken wahrnehmen. Das Entwicklungsund das Arbeitsministerium bereiten ein Lieferkettengesetz vor. Auf europäischer Ebene beginnt ein ähnlicher Regulierungsversuch. Welche Probleme gibt es in den Zulieferketten, und wie lautet die politische Antwort darauf?

Beispiel: Palmöl aus Guatemala 2019 analysierte die Christliche Initiative Romero (CIR) die Produktion von Palmöl in dem mittelamerikanischen Staat. Hersteller in Guatemala beliefern u.a. die belgische Firma Vandemoortele, die wiederum Produkte an den deutschen Konzern Edeka verkauft. Laut Recherchen von CIR betreiben manche Palmölplantagen in Guatemala Landraub, indem sie der örtlichen Bevölkerung landwirtschaftliche Flächen wegnehmen. Wälder werden abgeholzt, Flüsse umgeleitet. Dadurch trocknen Brunnen aus, die Qualität des Trinkwassers verschlechtert sich. Auf den Plantagen kommt es zu Vergiftungen von Beschäftigten durch Pestizide. Vandemoortele und Edeka betonen, sie tolerierten keine Verstöße gegen Menschen- und Arbeitsrechte. Allerdings sind diese Bemühungen freiwillig, weil internationale Menschenrechtsstandards politisch und rechtlich zu wenig durchgesetzt werden. Eine Lieferkettenregulierung in Europa könnte Verbesserungen bewirken. Edeka müsste dann überprüfen, ob die Menschenrechtspolitik seines Lieferanten Vandemoortele in Guatemala wirksam ist. Außerdem wäre der Einzelhändler verpflichtet, einen Beschwerdemechanismus einzurichten, damit sich Beschäftigte in der Palmölproduktion in Guatemala an die EdekaZentrale in Hamburg wenden können.

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Lieferkette Was in Europa passiert

In diesem Sommer müsste es zum Schwur kommen. Mitte Juli sollen die Endergebnisse einer Befragung von Unternehmen durch die Bundesregierung präsentiert werden. Hält sich die Mehrheit der Firmen an den Nationalen Aktionsplan für Wirtschaft und Menschenrechte? Haben deutsche Lebensmittel-, Textil- und Autohersteller vernünftige Pläne ausgearbeitet, wie sie für Arbeitssicherheit und ausreichende Bezahlung bei ihren Zulieferern in aller Welt sorgen wollen? Für den Fall, dass das Ergebnis der zweiten Befragung ähnlich schlecht ausfällt wie bei der ersten Runde Ende 2019, drohen Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) und Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) mit einem Lieferkettengesetz. Der Entwurf ist fertig, wurde aber noch nicht veröffentlicht. Allerdings sickerte Anfang 2019 ein Gesetzentwurf aus dem Entwicklungsministerium durch. Demnach sollen hiesige Unternehmen mit über 250 Beschäftigten und mehr als 40 Millionen Euro Jahresumsatz interne Analysen durchführen, wo menschenrechtliche Risiken in ihren Produktionsketten liegen. Jede Firma bräuchte einen »Compliance-Beauftragten«, der oder die dafür sorgt, die Sorgfaltspflichten einzuhalten. Ausländischen Beschäftigten soll ein Beschwerdemechanismus in der Firma zur Verfügung stehen. Whistleblower müssten geschützt werden. Verstöße würden mit Bußgeldern bis zu fünf Millionen Euro, Freiheitsstrafen und dem Ausschluss von der Vergabe öffentlicher Aufträge geahndet. Die Aussichten, dass das Gesetz noch in dieser Legislaturperiode bis Herbst 2021 verabschiedet wird, sind nicht gut. Wegen der Corona-Krise könnte es Müller und Heil schwerfallen, ein Gesetz durchzubringen, das viele Unternehmen, Verbände und das Bundeswirtschaftsministerium als zusätzliche Belastung empfinden. Ab 2022 müsste dann ein neuer Anlauf stattfinden.

LIEFERKETTENGESETZ

Icons: The Noun Project

Was Deutschland tut

Didier Reynders, der belgische EU-Kommissar für Justiz, kündigte Ende April 2020 ein europäisches Lieferkettengesetz für das kommende Jahr an. Es soll Unternehmen zur Achtung von Menschenrechten und Umweltstandards verpflichten und Sanktionen ebenso wie Klagemöglichkeiten für Betroffene vorsehen. Die Regulierung müsse Teil des Green Deals der EU werden, sagte Reynders, und eine Rolle im Aufschwung nach der Corona-Krise spielen. Käme es dazu, ginge diese Regelung weit über den bisherigen Stand hinaus. 2017 wurde die EU-Konfliktmineralien-Verordnung beschlossen, die 2021 auch für Deutschland in Kraft tritt. Sie regelt den Import von Zinn, Wolfram, Tantal und Gold aus Konfliktregionen wie der Demokratischen Republik Kongo. Minen- und Schmelzfirmen müssen nachweisen, dass es nicht zu Zwangs- und Kinderarbeit kam und im Zusammenhang mit dem Abbau keine Kriegsverbrechen begangen wurden. Lieferketten für andere Rohstoffe oder Produkte werden von dieser Regulierung jedoch nicht erfasst. Daneben existiert eine europäische Richtlinie, die Firmen mit mehr als 500 Beschäftigten zu einer gewissen Berichterstattung über ihre Corporate Social Responsibility (CSR) verpflichtet. Die Firmen haben weiten Spielraum, wie sie dem nachkommen. Wenn es gut läuft, verstärken sich die Prozesse in Deutschland und Frankreich, wo es bereits ein Lieferkettengesetz gibt, und der europäische Ansatz gegenseitig. Die deutsche EURatspräsidentschaft ab Juli böte der Bundesregierung die Gelegenheit, Impulse zu setzen. Vielleicht aber wirkt sich auch die ReyndersInitiative positiv auf die Entwicklung in Deutschland aus.

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Wer sich wehrt, muss sterben In Bolivien werden Jahr für Jahr Dutzende Frauen umgebracht. Und das trotz eines Gesetzes, das sogenannte Feminicidos verhindern soll. Von Knut Henkel, La Paz

Foto: Knut Henkel

Ihren Job in der Redaktion hat Helen Álvarez aufgegeben, ihre Ersparnisse für das Verfahren geopfert, bei dem es um den Tod ihrer Tochter geht. Unendliche Stunden hat sie in den vergangenen Jahren mit dem Laptop auf dem Schoß in Gerichtsfluren, im Gebäude der Staatsanwaltschaft oder vor dem Büro von Gutachtern verbracht. »Solche Prozesse sind für die Angehörigen der Opfer ein Fulltime-Job. Das zieht sich über Jahre hin«, klagt die bolivianische Journalistin. Der 19. August 2015 hat ihr Leben auf den Kopf gestellt. Der Tag, an dem ihre Tochter Andrea Aramayo in den frühen Morgenstunden von deren Exfreund William Kushner in La Paz überfahren wurde. Vorsätzlich, ist sich die Mutter sicher, und auch die Staatsanwaltschaft hat Anklage wegen Frauenmordes –

Feminicido – erhoben und Untersuchungshaft für den mutmaßlichen Täter verfügt. Ohne die Hartnäckigkeit von Álvarez wäre es dazu kaum gekommen. Die Ermittlungsbehörden hatten den Tod ihrer Tochter zunächst als Verkehrsunfall eingestuft. »Dass die beiden unmittelbar davor gestritten hatten, dass meine Tochter die Beziehung kurz zuvor beendet hatte und dass er sie schon früher gedemütigt und bedroht hatte, spielte alles keine Rolle«, kritisiert Álvarez. Doch weil es ihr gelang, selbst Indizien für die Gewalttat zusammenzutragen und den Ermittlungsbeamten Versäumnisse nachzuweisen, ließen sich die Richter umstimmen. So wurden Aufzeichnungen von Überwachungskameras am Tatort in der Calle Pedro Salazar nicht sichergestellt und vor Ort keine Spuren aufgenommen. Helen Álvarez machte das schließlich selbst, verpflichtete einen Gutachter und einen unabhängigen Gerichtsmediziner, der die Obduktion ihrer Tochter vornahm.

Kulturzentrum mit eigener Radiostation. Das Haus der Frauenorganisation Mujeres Creando in La Paz.

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BOLIVIEN

Fotos: Knut Henkel

Das ist kein Einzelfall, sagt Mónica Novillo von der Coordinadora de la Mujer, einer Dachorganisation bolivianischer Frauenrechtsinitiativen. »Wir haben mit der Verabschiedung des Gesetzes 348 zwar einen wichtigen Fortschritt erzielt, aber die Umsetzung lässt sehr zu wünschen übrig. Die Zahlen sind weiterhin alarmierend.« Das Gesetz, das überführten Tätern Haftstrafen von bis zu 30 Jahren androht, wurde 2013 verabschiedet. Es zeigt jedoch kaum Wirkung: 2019 wurden 117 Frauen ermordet. Bis zum 8. März 2020 kamen 27 Morde hinzu. Dabei hatte die im November gestürzte Regierung von Präsident Evo Morales landesweit Transparente aufspannen lassen, die Gewalt gegen Frauen verurteilen. Und Interimspräsidentin Jeanine Ánez hat auch gleich 2020 zum Jahr des Kampfes gegen Frauenmorde ausgerufen. Nach Angaben der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika (Cepal) werden in Bolivien zwei von 100.000 Frauen pro Jahr ermordet, und damit fast doppelt so viele wie in Brasilien (1,1) und deutlich mehr als in Paraguay (1,6). In Lateinamerika liegt das Land auf Platz 5, hinter mittelamerikanischen Staaten wie El Salvador und Honduras. Novillo macht die patriarchalen Strukturen einer Gesellschaft im Wandel dafür verantwortlich: »Die Rolle der Frauen hat sich verändert. Sie sind auf dem Arbeitsmarkt, in der Wirtschaft und in der Politik präsent, das sorgt für eine Gegenwehr der Männer – von sexistischen Witzen über Ablehnung bis hin zu Gewalt.« Das Gesetz habe viele Erwartungen geweckt, denen es aber schlicht nicht gerecht werde, sagt Novillo. So habe man etwa die Einrichtung von Frauenhäusern geplant und Fortbildungen für Staatsanwaltschaften und Polizei, doch die Etats fehlten. Hinzu kommt die Korruption in Justiz wie Polizei. »Richter, Staatsanwälte und Polizisten halten die Hand auf. Und bei Drogendelikten gibt es einfach mehr Schmiergeld zu verdienen als bei Gewaltdelikten wie Frauenmorden«, so Helen Álvarez. Auch die Personalrotation in den Dienststellen sei ein Grund für fehlendes Engagement, sagt die Journalistin, die sich seit zwanzig Jahren für Frauenrechte engagiert. Álvarez ist Mitglied der Organisation Mujeres Creando, die in La Paz ein Kulturzentrum mit eigener Radiostation und eine Notunterkunft für von Gewalt bedrohte Frauen unterhält. Für Radio Deseo, den einzigen feministischen Sender Boliviens, verfasst sie Beiträge über Fälle wie den von María Isabel Pillco. Die 28-Jährige wurde von ihrem Mann David Viscarra zusammengeschlagen und starb im Oktober 2014 im Krankenhaus in La Paz an inneren Blutungen. Kurz vor ihrem Tod machte sie ihren Mann für ihre Verletzungen verantwortlich. »Dennoch wurde David Viscarra freigesprochen und erhielt das Sorgerecht für das gemeinsame Kind, was wir von Mujeres Creando öffentlich angeprangert haben«, sagt Álvarez. Wegen des Drucks von Frauenorganisationen landete der Fall vor einer parlamentarischen Untersuchungskommission. Die stellte fest, dass neun Grundrechte des Opfers verletzt und zahlreiche Verfahrensfehler begangen worden waren. Das Urteil wurde daraufhin aufgehoben. Für Víctor Pillco, den Vater der Toten, ein Etappensieg. »Doch wo sind die speziell für Gewalttaten an Frauen geschulten Richter und Staatsanwälte?« fragt er. Das Gesetz 348 komme in Bolivien gar nicht zur Geltung.

Helen Álvarez.

Mónica Novillo.

Das legt auch eine Studie nahe, die im Frühjahr 2019 vom Menschenrechtsprogramm der Harvard University vorgelegt wurde. Die Experten analysierten rund 200 Prozesse, die auf Grundlage des Gesetzes geführt wurden, und benannten drei strukturelle Ursachen für die mangelnde Wirksamkeit: Ermittlungsdefizite, Hürden im Justizsystem und die Diskriminierung von Frauen durch die Institutionen. So würden Polizeibeamte Anzeigen erst gar nicht aufnehmen, Ermittler und Forensiker seien oft nicht ausreichend qualifiziert, um geschlechtsspezifische Gewalt als solche zu erkennen, und Staatsanwälte stellten Verfahren wegen mangelnder Fortschritte ein. Nur 15 Prozent der angezeigten Feminicidos enden mit einem Urteil, oft ziehen sich die Prozesse über Jahre hin. »Das ist Folter für die Angehörigen«, kritisiert Novillo. Zumal es letztlich auch an den Familien liegt, ob die Prozesse überhaupt ins Rollen kommen. »Wenn sie nicht selbst die Kosten von 5.000 bis 25.000 US-Dollar für Ermittlungen, Anwaltskosten und Materialien – von Obduktionshandschuhen bis Druckerpapier – bezahlen, bleibt der Mord ungesühnt«, schildert Álvarez ihre Erfahrungen. Im Falle ihrer Tochter rechnet sie damit, dass bald ein Urteil gefällt wird. Dass sich die Situation der Frauenrechte in Bolivien in naher Zukunft ändern wird, erwartet sie nicht. Der mutmaßliche Mord an ihrer Tochter ist ein bitterer Widerspruch ihres Lebens: »Ich habe sie zu einer starken Frau erzogen, und genau deshalb musste sie sterben. Es sind immer die Frauen, die sich wehren, die ermordet werden«, sagt sie mit leiser Stimme. Das muss sich ändern, und dafür engagiert sie sich – im Gerichtssaal und am Mikrofon bei Radio Deseo.

»Wo sind die für Gewalttaten an Frauen geschulten Richter?« Víctor Pillco, Vater 49


WAS TUN

Denker fragen: Ulf Tranow vor. Menschenrechtliche Solidarität kann also nicht beim Nationalstaat Halt machen. Zu beachten ist, dass menschenrechtliche Solidarität nicht immer kompatibel ist mit der Solidarität, die in kollektivistischen und autoritären Gesellschaften existiert. Sie betonen, dass Solidarität nicht immer etwas Positives bedeutet … Um Grenzziehungen im Zusammenhang mit Solidarität kommen wir nicht herum. Deswegen müssen wir uns fragen, welche ethisch vertretbar sind. Wenn die Frage diskutiert wird, in welchem Verhältnis ein ausgebauter Wohlfahrtsstaat zu einer humanen Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik steht, ist sehr viel Verantwortungsbewusstsein gefragt. Hier müssen wir aufpassen, dass nationale Solidarität nicht gegen universelle menschenrechtliche Solidarität ausgespielt wird. Wenn nationale Solidarität wohlstandschauvinistische Züge annimmt und zu strikten Grenzziehungen führt, ist das aus der Perspektive der Menschenrechte höchst problematisch. Interview: Lea De Gregorio Ulf Tranow ist Junior-Professor für Soziologie an der Heinrich Heine Universität Düsseldorf. Sein Buch »Solidarität. Soziologische Perspektiven und Konzepte« erschien 2012 im AV Verlag.

Das steckt drin: Aluminium Aluminium wird aus Bauxit gewonn en und vor allem in Autos verbaut. 80 Prozent des Roh stoffs für die deutsche Industrie stammen aus Guinea in Westafrika. Das Land ist einer der größten Bauxitlieferante n der Welt. guineischen BergEines der wichtigsten Sangarédi. Die werke befindet sich in ng bürgt für ein eru egi deutsche Bundesr onen-Euro-Kredits, Drittel eines 800-Milli 2016 erweitert mit dem die Mine seit geprojekt deutzei wurde. Sie gilt als Vor en. tät tivi scher Auslandsak

Dabei verletzt die halbstaatliche Minenbetreiberin CBG Menschen- und Umwe ltrechte. Die lokale Bevölkerung leidet unter dem hohen Fläche n- und Wasserverbrauch der Bauxitgewinnung . Flüsse trocknen au s. Es gibt Bericht e über Landgrabbing und Vertreibunge n. Der beim Baux entstehende schw itabbau ermetallhaltige St aub macht Ackerfl unbrauchbar und ächen verursacht vermut lich verschiedene heiten. Krank-

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em Frühjahr GuiDer UN-Sozialausschuss hat in dies chen Bevölkeörtli nea aufgefordert, die Rechte der r anderem der unte ren rung zu schützen. Dazu gehö e Sicherheit tlich rech die en, uell Schutz von Wasserq ie die resow en und Entschädigung bei Umsiedlung und ihrer kte roje enp gelmäßige Begutachtung der Min en. ung wirk menschenrechtlichen Aus

NGOs aus Deutsc hland und Guinea forder n von der Automobilind ustrie die Einhaltung de r menschenrechtlic hen Verantwortung in den Lieferketten und von der Bundesregierung, dass sie ihren extraterritoria len Staatenpflichten nachkommt.

Quellen: Umweltbundesamt, FIAN, Power Shift Foto: shutterstock / David Ryo

AMNESTY JOURNAL | 04/2020

Foto: Conny Schoenwald

In der Corona-Krise fällt das Wort Solidarität geradezu inflationär. Was bedeutet es? Solidarität ist ein komplizierter Begriff und stark verbreitet. Allerdings sind Begriffe, die so oft verwendet werden, häufig ungenau und offen für unterschiedliche Interpretationen. Einigkeit scheint darüber zu bestehen, dass Solidarität etwas damit zu tun hat, dass man zugunsten der Gemeinschaft oder anderer Individuen bestimmte Leistungen erbringt, auch wenn diese mit Kosten verbunden sind. Dabei geht es um Verbundenheit und Verantwortung. Was bedeutet Solidarität im Kontext der Menschenrechte? Menschenrechte sind individuelle Freiheitsrechte, um diese durchzusetzen und zu verteidigen, ist Solidarität notwendig. Es gibt Menschenrechte wie das Recht auf Vereinigungsfreiheit, die sich als Recht verstehen lassen, Solidargemeinschaften frei bilden zu können. Zudem gibt es eine ganze Reihe an Menschenrechten, die einen Solidaranspruch des Individuums gegenüber der Gemeinschaft begründen: etwa das Recht auf soziale Sicherheit. Und es gibt das Recht auf Asyl: ein individuelles Recht darauf, dass andere sich solidarisch zeigen, wenn ich verfolgt bin. Beim Recht auf Asyl geht es um internationale Solidarität. Bei Solidarität spielt Grenzziehung immer eine große Rolle. Und die Menschenrechte nehmen eine universelle Grenzziehung


Malen nach Zahlen: Polizeigewalt Die Washington Post dokumentiert seit 2015 all jene Fälle, in denen Polizisten im Dienst töten. In den USA kommen so jährlich rund 1.000 Menschen ums Leben. Schwarze Amerikaner sind prozentual am stärksten betroffen. Schwarze 31 pro eine Million, 1.276 Getötete insgesamt

Quelle: The Washington Post 2020 Foto: Alli Jarrar / Amnesty USA

Hispanics 23 pro eine Million, 895 Getötete insgesamt

Getötete pro eine Million Einwohner

Weiße 12 pro eine Million, 2.439 Getötete insgesamt

Andere 4 pro eine Million, 218 Getötete insgesamt

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Bevölkerung in Millionen

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Besser machen: Kaffee Bis 1990 war Kaffee ein Luxusgut. Doch dann wurde er zur Massenware, ein enormer Wettbewerb und ein Preisverfall um etwa die Hälfte setzten ein. Was für die Konsumenten angenehm ist, ist für die Produzenten bitter. Nach Angaben der International Coffee Organization können viele der etwa zwölf Millionen Bauernfamilien weltweit ihre Anbaukosten inzwischen nicht mehr decken. Das Risiko für Kinderarbeit steigt, immer mehr Familien geraten in Armut und suchen ihr Glück in der Migration, was sie weiteren Menschenrechtsverletzungen auf der Flucht aussetzt. Die weiteren zwölf Millionen Plantagenarbeiter, 70 Prozent von ihnen Frauen, befinden sich in einer besonders prekären Situation: Feste Arbeitsverträge sind selten, ebenso wirksame Kontrollen von Mindestlöhnen. Immer wieder gibt es Berichte über sklavenähnliche Beschäftigung.

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 WAS TUN

Folgende Maßnahmen könnten die Lage verbessern: D Die Kaffeeunternehmen müssten gemäß den »Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte« der UNO Verantwortung für die gesamte Lieferkette übernehmen. Dazu gehören existenzsichernde Einkommen und Löhne. D Die standardsetzenden Organisationen sollten keinen Kaffee zertifizieren, der zu Preisen gehandelt wird, die Menschenrechtsverletzungen nahelegen. D Die Regierungen müssten die UNO-Leitprinzipien für sämtliche Unternehmen der Lieferkette verbindlich machen. D Die Konsumenten könnten beim Kauf Billigware meiden und stattdessen auf fair gehandelte Produkte umsteigen. Weitere Informationen: Südwind, Fairtrade

MENSCHENRECHTLER AHMED MANSOOR FREILASSEN! Der Menschenrechtler, Blogger und Dichter Ahmed Mansoor aus den Vereinigten Arabischen Emiraten wurde wegen Beleidigung des Staatsansehens zu zehn Jahren Haft verurteilt. Seit März 2017 sitzt er in Einzelhaft. Mach mit bei unserer E-Mail-Aktion an den Kronprinz von Abu Dhabi, Sheikh Mohamed bin Zayed Al Nahyan, damit Ahmed Mansoor umgehend und bedingungslos freigelassen wird.

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PORTRÄT

Foto: Parastu Sherafatian / Amnesty

Friedlich für die Freiheit Die sahrauische Menschenrechtsverteidigerin Aminatou Haidar setzt sich seit Jahrzehnten für die Selbstbestimmung der Westsahara ein. Wegen dieses Engagements wurde sie mehrmals inhaftiert und gefoltert. Von Parastu Sherafatian Als 1975 die Westsahara von Marokko annektiert wurde, war Aminatou Haidar erst acht Jahre alt. Wenige Jahre später nahm sie an ihrer ersten großen Demonstration teil. Dabei wurde sie von marokkanischen Sicherheitskräften festgenommen und anschließend vier Jahre lang ohne Anklageerhebung oder Gerichtsverfahren an einem geheimen Ort festgehalten. Trotz dieser Jahre voller psychischer und physischer Folter gab sie ihren Widerstand gegen die Besetzung der Westsahara nicht auf. 2005 wurde sie während einer friedlichen Demonstration von Sicherheitskräften schwer verletzt, erneut festgenommen und in einem unfairen Gerichtsverfahren zu einer siebenmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt. Im Gefängnis trat Haidar aus Protest gegen die Haftbedingungen in einen Hungerstreik. Bis heute kämpft die Mutter zweier Kinder unermüdlich für eine politische Lösung in diesem Konflikt. Die marokkanischen Behörden gehen weiterhin repressiv gegen Sahrauis vor, die mit friedlichen Mitteln Selbstbestimmung fordern, doch mangelt es an internationaler Aufmerksamkeit. Wenige Monate nach der Annexion der Westsahara durch Marokko kam es zur Teilung des Gebiets: Die Küstenregion steht seitdem unter marokkanischer Kontrolle, das Landesinnere ist in den Händen der Frente Polisario, einer Widerstandsorganisation, die Haidar als einzig legitime Vertretung der Sahrauis betrachtet. Als Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation CODESA arbeitet sie gemeinsam mit NGOs wie Amnesty seit vielen Jahren daran, die Welt auf die Menschenrechtsverletzungen in der Westsahara aufmerksam zu machen. In den vergangenen Jahren hat sie bei mehreren Kampagnen für die Freilassung politischer Gefangener eine wichtige Rolle gespielt. Ein weiteres großes Anliegen der 53-Jährigen ist es, der jüngeren Generation das Prinzip des friedlichen Protestes nahezu-

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bringen. Sie möchte junge Menschen davon überzeugen, dass friedlicher Widerstand ein wirksames Instrument im Kampf für Menschenrechte ist. »Obwohl die jungen Leute heute frustriert sind und selten noch an die Wirksamkeit friedlichen Widerstandes glauben, versuche ich, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Alle friedlichen Stimmen tragen zur Sicherung der Menschenrechte bei«, sagte sie bei einem Besuch in Berlin. »Wir alle müssen im Leben das Ziel verfolgen, die Menschenrechte und die Werte der Menschlichkeit zu schützen.« Ihr gewaltloser Widerstand, der ihr den Beinamen »Gandhi der Westsahara« einbrachte, wurde mehrmals international ausgezeichnet. 2019 erhielt sie unter anderem den Right Livelihood Award, besser bekannt als Alternativer Nobelpreis, für ihr »standhaftes friedliches Engagement«, wie es in der Begründung hieß, und für ihren Einsatz für die Selbstbestimmung der Bevölkerung der Westsahara. Die Menschenrechtlerin nutzt öffentliche Anlässe wie die Verleihung des Alternativen Nobelpreises, um auf den Konflikt aufmerksam zu machen. Sie will damit den jungen Menschen in ihrer Heimat zeigen, dass sie nicht allein sind und die restliche Welt sie nicht vergisst. Als Haidar einst mit ihrem Widerstand begann, war das besetzte Gebiet fast komplett von der Außenwelt isoliert. Nur wenige Menschen außerhalb der Westsahara erfuhren etwas von dem dortigen Konflikt. Doch dank ihres kontinuierlichen Einsatzes ebnete sie den jungen Sahrauis von heute den Weg, um zusammen mit internationaler Unterstützung und sozialen Netzwerken für ihre Menschenrechte einzutreten. »Solche Fortschritte machen mich stolz auf die Arbeit derjenigen, die sich wie ich für den Schutz der Menschenrechte einsetzen. Aber der Kampf geht weiter. Wichtig ist, dass er gewaltfrei geführt wird.«

AMNESTY JOURNAL | 04/2020


DRANBLEIBEN

Ende der Genitalverstümmelung im Sudan Die Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen (FGM) steht im Sudan kurz vor einem Verbot. Ein neues Gesetz sieht drei Jahre Haft für diejenigen vor, die FGM verüben. Allerdings muss das Gesetz noch vom Souveränen Rat, der höchsten Macht im Land, bestätigt werden. Vor allem Islamisten machen sich für FGM im Sudan stark. Umso wichtiger ist daher, dass sich mit Nasr al-Din Mufre auch der Minister für Religionsangelegenheiten

für das vollständige Verbot einsetzt. Er hatte jüngst darauf verwiesen, dass der Islam die Genitalverstümmelung keineswegs rechtfertige, und sich einer internationalen Kampagne angeschlossen, die weibliche Genitalverstümmelung bis zum Jahr 2030 bannen will. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind fast 90 Prozent aller Sudanesinnen zwischen 14 und 49 Jahren genital verstümmelt. Damit hat das Land eine der höchsten FGM-Raten

der Welt. Sollte das Gesetz in Kraft treten, wäre der Sudan der 28. Staat Afrikas, in dem die Genitalverstümmelung verboten ist. Nach monatelangen Protesten im Jahr 2019, an denen Frauen maßgeblich beteiligt waren, werden seit Ende vergangenen Jahres frauenfeindliche Gesetze abgeschafft. In dieser Reihe steht auch das geplante FGM-Verbot. (»Anführerin, Kämpferin« und »Kunst und Tabu«, Amnesty Journal 03/2020)

Finanzier des Genozids verhaftet

(»Der Genozid ist ein Teil von mir«, Amnesty Journal 02-03/2018)

Foto: Ben Curtis / AP / pa

Seit Mitte Mai sitzt Félicien Kabuga in Haft. Jahrelang lebte der mittlerweile 84-Jährige unentdeckt in Frankreich. Der mittlerweile aufgelöste Internationale Strafgerichtshof für Ruanda sah es 1998 als erwiesen an, dass Kabuga einer der wichtigsten Hintermänner des Völkermords war, und erließ Haftbefehl unter anderem wegen Genozids. Zwischen April und Juli 1994 ermordeten ruandische Soldaten und Hutu-Milizionäre bis zu einer Million Tutsi. Kabuga galt als Financier, der sowohl Waffen für die Milizionäre kaufte als auch den ruandischen Radiosender RTLM, der zum Massenmord aufrief, mit reichlich Geld ausstattete. Nachdem die Tutsi-Guerilla RPF 1994 die Macht in Ruanda übernommen hatte, floh Kabuga in die Demokratische Republik Kongo. Nach Stationen in der Schweiz und in Kenia lebte er zuletzt in Asnières-sur-Seine nördlich von Paris, wo ihn internationale Strafverfolgungsbehörden nun fassten. Weitere Täter sind noch immer auf freiem Fuß. Die Opfer nicht vergessen. Ausstellung in Kigali, Ruanda.

Transfrau setzt sich in Brand In der georgischen Hauptstadt Tiflis hat sich im April eine Transfrau vor dem Rathaus angezündet. Dort hatte sich eine Gruppe Menschen versammelt, um mehr Unterstützung der Regierung während der Corona-Krise zu fordern. »Ich bin eine Transfrau und habe mich angezündet, weil der georgische Staat sich nicht um mich kümmert«, rief Madona Kiparoidze, als sie festgenommen wurde. Anschlie-

PORTRÄT

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DRANBLEIBEN

ßend wurde sie in ein Krankenhaus gebracht. Weil die Polizei frühzeitig einschritt, erlitt sie keine schweren Verletzungen. Die landesweiten Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus treffen Transpersonen besonders hart. Sie sind rechtlich nicht anerkannt und werden auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert. Weil ihnen oft keine andere Möglichkeit bleibt,

arbeiten viele als Sexarbeiterinnen. Doch auch das ist wegen der Kontaktbeschränkungen nicht länger möglich. Transpersonen gehören zu den am stärksten diskriminierten Gruppen in Georgien. Weite Teile der Bevölkerung sind homophob eingestellt – oft beeinflusst von der orthodoxen Kirche. (»Raus aus der Blase«, Amnesty Journal 08-09/2018)

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KULTUR

Ein Fenster zwischen den Welten

Lieferkette. Mitglieder der kolumbianischen Guerilla FARC, die der Fotograf Federico Ríos Escobar über Jahre begleitet hat, beim Entladen eines Bootes.

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Vor vier Jahren schlossen die kolumbianische Regierung und die linke Guerilla FARC einen Friedensvertrag, um den jahrzehntelangen Bürgerkrieg zu beenden. Der Fotograf Federico Ríos Escobar hat die Rebellen während der Entwaffnung begleitet. Ein Gespräch über Bilder als Teil eines gesellschaftlichen Dialogs und darüber, warum der Frieden in Kolumbien so schwer zu erreichen ist. Interview: Mariana Delgado und Felix Wellisch Fotos: Federico Ríos Escobar

Ihre Fotos zeigen den Alltag der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens, der FARC. Was sagen die Rebellen selbst zu den Bildern? Manchen gefallen die Fotos, anderen nicht – aber auch die sagen meistens: Ja, so war es, das ist eben der Krieg. Für meine Aufenthalte bei der FARC hatte ich auch schon vor der Entwaffnung immer klare Regeln gesetzt: Ich werde die Wahrheit nicht verzerren oder Lügen erzählen. Dafür darf ich fotografieren, wo ich möchte. Über die Jahre habe ich das Vertrauen der Rebellen gewonnen und habe mich bei der Arbeit nie bedroht oder in Gefahr gefühlt. Ihre Bilder sind heute weltweit bekannt. Wie kamen Sie mit der Fotografie in Berührung? Mein Vater kommt aus einer armen Bauernfamilie, aber er hat es auf die Universität geschafft und ging 1979 mit einem Stipendium nach Ägypten. Das war damals in Kolumbien ungefähr so, als wäre er zum Mond geflogen. Er nahm eine Kamera mit und als er zurückkam, hängte er im Wohnzimmer unseres Hauses Fotos auf: mein Papa auf einem Kamel, mein Papa vor den Pyramiden. Damals habe ich verstanden, dass Bilder den Menschen Dinge zeigen können, die sie sonst nicht verstehen würden. Wie haben Sie den Friedensprozess erlebt? Als die FARC sich entschlossen, ihren Kampf nach 56 Jahren auf demokratische Weise als Partei im Parlament weiterführen zu wollen, hat mich das tief bewegt. Ich fotografiere die Guerilla schon seit vielen Jahren, aber ich identifiziere mich nicht mit ihrer Idee, ein Ziel mit Waffen zu erkämpfen. Nach 2016 konnte ich mich so unbeschwert durch Kolumbien bewegen wie nie zuvor. Die FARC waren dabei, ihre Waffen abzugeben. Der ELN, die zweitgrößte Guerilla, musste sich neu aufstellen, und die rechten Paramilitärs waren geschwächt. Aber seit Iván Duque 2018 zum Präsidenten gewählt wurde und die Zugeständnisse an die FARC infrage stellte, ist die Angst zurück. 2019 stieg die Mordrate in Kolumbien auf den höchsten Stand seit 15 Jahren. Duque hat uns um Jahre zurückgeworfen, und wenn sich nichts ändert, geht dasselbe Spiel von vorne los. Was müsste sich ändern? Die Abwesenheit und das Desinteresse des Staates müssen ein Ende finden. Um mal ein Beispiel zu nennen: In einem Dorf, in dem ich fotografiert habe, stritten sich zwei Familien um eine Grundstücksgrenze. Einer ritt zur Polizei in die nächste Stadt – zwei Tage auf einem Esel. Die Polizisten haben nicht einmal ver-

FOTOGRAFIE

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Alarmbereit. FARC-Mitglieder erwarten einen Luftangriff.

standen, von welchem Dorf er sprach. Sie sagten ihm, er solle sein Anliegen schriftlich einreichen, obwohl der Mann nicht schreiben konnte. Als er zurück ins Dorf kam, ging er zu den FARC-Rebellen, die den Streit letztlich geschlichtet haben. Und das zieht sich durch alle Bereiche: Ob Bildung, ob Gesundheit oder Bürgerrechte – der Staat kümmert sich an vielen Orten nicht darum. Was bedeutet das für den Friedensprozess? Die stärkste Waffe der Guerillagruppen ist die Unterstützung, die sie in den ländlichen Gemeinden genießen. Leute aus der Stadt glauben oft, die Landbevölkerung lebe in Angst vor der Guerilla. Das ist Unsinn. Als die Entwaffnung der FARC-Rebellen

Kämpferinnen der FARC. Viele Rebellen haben den

begann, kamen in einem Dorf Bauern auf mich zu und wollten wissen, ob ich auch Kontakte zum ELN hätte. Ich solle sie bitten, in ihr Dorf zu kommen, wenn die FARC sich zurückziehen würden. Das klingt paradox, aber die Guerilla erfüllt an vielen Orten die Rolle des Staates, sie übernimmt Polizeiaufgaben und regelt, wer wie viel Holz aus dem Wald nehmen darf. Wie hat diese Erfahrung Ihre Sicht auf die Guerilla geprägt? Mich hat es bei meiner Arbeit nicht unberührt gelassen, Kämpfer zu sehen, die eine Schule für die Gemeinde oder eine Dorfstraße bauen, oder Kämpferinnen, die ihre Kinder im Dschungel aufziehen. Ich denke nicht, dass die Guerilla etwas Gutes ist, und ich bin gegen Waffen, egal zu welchem Zweck.

Vernetzt. Auch im Untergrund gibt es moderne Kommunikationsmittel.

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größten Teil ihres Lebens im Untergrund verbracht.

Aber die Darstellung der politisch Rechten, dass die Guerilla an allem schuld sei, ist eine einseitige Sicht und macht uns blind für die echten Probleme. Solange der Staat sich nicht um die Menschen kümmert, wird sich nichts ändern. Mit welchem Vorurteil würden Sie gerne aufräumen? Dass die einfache Bevölkerung in den von der Guerilla dominierten Gebieten mit dem Drogenanbau das große Geld verdient. Ein Koka-Bauer verdient laut dem Drogenbeauftragten der Vereinten Nationen umgerechnet etwa 180 Dollar im Monat. Dafür arbeitet die ganze Familie, oft auch die Kinder. In Bogotá stellen sich viele vor, dass diese Bauern Millionäre seien und einen Whirlpool im Garten hätten. Tatsächlich können sie sich

Liebe und Rebellion. Ein Pärchen im Untergrund.

nicht mal ein Paar Gummistiefel leisten. Wenn diese Bauern für denselben Gewinn Kakao anbauen könnten, würden sie es sofort tun. Was hat es für Sie bedeutet, Ihre Fotos in Bogotá zu zeigen? Diese Bilder in Bogotá auszustellen, war für mich etwas Besonderes, weil viele Menschen gar nicht wissen, wie es in ihrem eigenen Land aussieht. Ich hoffe, dass meine Bilder ein Fenster sind, eine Brücke zwischen den Welten. Die Betrachter sollen sehen, wie das ganz normale Leben der Kämpfer ausgesehen hat. Sie sollen verstehen, was für eine Bedeutung es hat, dass diese Menschen ihre Waffen abgegeben haben, um den Schritt in ein ziviles Leben zu wagen. Und wie wichtig es ist, dass wir unsere Versprechen ihnen gegenüber jetzt halten. Meine Fotos sind nicht die einzige Wahrheit, aber sie sind ein Puzzlestück im großen gesellschaftlichen Dialog. Und den brauchen wir in Kolumbien dringend. Erst wenn die Leute verstehen, was in den Gebieten der Guerilla passiert, können sie auch über Lösungen nachdenken. Ausstellung: Im März 2020 waren in der Galerie »Bandy Bandy« in Bogotá Fotografien von Federico Ríos Escobar unter dem Titel »Die Tage nach einem endlosen Krieg« (Los días póstumos de una guerra sin final) zu sehen. Gezeigt wurden Bilder, die er während der Friedensverhandlungen 2016 in Camps der FARC-Guerilla aufnahm. Eine für Juli geplante Ausstellung in der Pariser Filiale der Galerie musste wegen der CoronaPandemie verschoben werden.

In Untiefen. Die Gebiete der FARC sind schwer zugänglich.

FOTOGRAFIE

»Meine Fotos sind ein Puzzlestück im gesellschaftlichen Dialog.« 57


In der Rebellion zu Hause Der chilenische Schriftsteller und Menschenrechtsaktivist Luis Sepúlveda ist tot. Er starb im Alter von 70 Jahren in Spanien. Sepúlveda war eng mit Amnesty Deutschland verbunden. Die Organisation half ihm dabei, aus der Haft freizukommen und ins Exil zu gehen. Von Lea De Gregorio

E

r war nicht nur einer der erfolgreichsten chilenischen Exilautoren, er war auch ein politischer Aktivist – und ein großer Kämpfergeist. Doch gegen Covid-19 kam Luis Sepúlveda nicht an. Er erlag der Infektion am 16. April in der spanischen Stadt Oviedo. Amnesty International verdanke er sein Leben, erzählte Sepúlveda während seiner Zeit in Hamburg dem Amnesty-Mitglied Thomas Schmid, mit dem der Schriftsteller befreundet war. Mit Unterstützung der deutschen Sektion von Amnesty International konnte Sepúlveda, der nach dem Militärputsch von Augusto Pinochet inhaftiert wurde, ins Exil gehen. »Es war ihm sehr wichtig, darauf hinzuweisen, dass Amnesty ihn da herausgeholt hat«, sagt Schmid. Geboren wurde Sepúlveda 1949 in Ovalle, einer Kleinstadt im Norden Chiles. Seine Mutter war Mapuche und Krankenschwester, sein Vater Kommunist und Restaurantbesitzer. Sepúlveda liebte seit jeher das geschriebene Wort, verfasste schon als Schüler Gedichte und studierte an einer Theaterschule. Später schrieb er Romane, Krimis, Reiseliteratur und Kinderbücher. Zu seinen bekanntesten Werken gehören »Der Alte, der Liebesromane las«, »Die Welt am Ende der Welt«, »Patagonia Express« und das Jugendbuch »Wie Kater Zorbas der kleinen Möwe das Fliegen beibrachte«. Mit seinen Büchern feierte er Welterfolge, und wurde international für seine Werke ausgezeichnet. Schon früh wurde Sepúlveda politisiert. Er schloss sich zunächst der Kommunistischen Jugend an und unterstützte später die chilenische Sektion der bolivianischen Guerillaorganisation ELN. Nachdem Ernesto »Che« Guevara 1967 ermordet wurde, verließ er die Kommunistische Jugend und wurde Mitglied der Sozialistischen Partei. Als junger Mann gehörte er zur Leibgarde des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende nach dessen Wahl 1970. Dass er den Präsidenten mit anderen jungen Chilenen beschützen durfte, erfüllte ihn mit Stolz. Er bewunderte Allende als außergewöhnliche Führungspersönlichkeit und wegen seiner menschlichen Wärme – wie er eindrücklich in der ArteDokumentation »Widerstand vom Ende der Welt« erzählt. Der Militärputsch gegen Allende am 11. September 1973 traf Sepúlveda unvermittelt. Er bewachte zu diesem Zeitpunkt eines der Wasserwerke, auf die Rechte immer wieder Anschläge verüb-

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ten. Als der Widerstand gegen die Putschisten zusammenbrach, versteckte sich Sepúlveda in Temuco, einem Zentrum der Mapuche im Süden Chiles. Dort wurde er am 5. Oktober 1973 festgenommen und später zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Er und die anderen aus der Leibgarde Allendes wurden als Terroristen und Kriminelle eingestuft und in der Haft gefoltert. Ohne Betäubung riss man Sepúlveda die Fußnägel aus. Nach sieben Monaten Isolationshaft wurde er aufgrund internationalen Drucks – unter anderem von Amnesty International – in den Hausarrest entlassen. Für Sepúlveda war das eine Gelegenheit, in den Untergrund zu gehen – bis er erneut verhaftet wurde. Ein Militärgericht verurteilte den damals 23-Jährigen zu 28 Jahren Gefängnis. Nach zwei Jahren Haft wurde seine Strafe aufgrund des erneuten Einsatzes von Amnesty International in acht Jahre Zwangsexil umgewandelt. In den 1970er Jahren bemühte sich Amnesty darum, die Haftstrafen politischer Gefangener des Pinochet-Regimes in »Verbannung« umzuwandeln, erzählt Amnesty-Mitglied Urs Fiechtner, der sich damals für inhaftierte Chilenen engagierte. »Bei der Umwandlung ging es darum, Leben zu retten«, sagt er und verweist darauf, dass der überwiegende Teil der Häftlinge teilweise lebensbedrohlicher Folter ausgesetzt gewesen sei. Fiechtner und seine Mitstreiter suchten für die Häftlinge nach aufnahmebereiten Ländern. »Es mussten Visa erteilt werden, und dafür haben wir gekämpft.« Sepúlveda konnte 1977 ausreisen. Über Argentinien sollte er nach Schweden gelangen. Doch Sepúlveda änderte spontan seinen Reiseplan und blieb in Lateinamerika. Fiechtner sagt: »Ich kann mich daran erinnern, dass er immer woanders gelandet ist, als ursprünglich geplant war.« Der Schriftsteller ging schließlich nach Ecuador, wo er nicht nur ein Theater leitete und als Journalist in einem von der UNESCO gesponserten Projekt zur Artenvielfalt am Amazonas mitarbeitete. Dort lebte er auch eine Zeit lang mit der indigenen Gruppe der Shuaras zusammen – eine Begegnung, die ihn und sein Schaffen prägte. Sein Buch »Der Alte, der Liebesromane las« ist von dieser Zeit inspiriert. Es behandelt die Zerstörung

»Heimat ist nicht der Ort, an dem du geboren bist. Heimat ist die Sprache, deine Sprache, sie ist die einzig mögliche Heimat.« AMNESTY JOURNAL | 04/2020


des Regenwaldes und den Landraub durch die Nordamerikaner. Eindringlich schildert Sepúlveda darin die Spannungen zwischen Einheimischen und Eindringlingen im Amazonasgebiet. Der Roman wurde in fast 50 Sprachen übersetzt, 18 Millionen Mal verkauft und zudem verfilmt. In Chile gehört er zur Pflichtlektüre an Schulen. Auch Sepúlvedas übrige Bücher sind politisch. Er versuchte stets, denen eine Stimme zu geben, die

keine haben. Seine Werke tragen oft autobiografische Züge, stellenweise sind sie satirisch. Dass es in seinem Werk häufig um ökologische Themen geht, kommt nicht von ungefähr. Sepúlveda war auch Umweltaktivist. Als er in den 1980er Jahren in Hamburg lebte, engagierte er sich bei Greenpeace. Zehn Jahre verbrachte Sepúlveda in der Hansestadt, nachdem er in Deutschland Asyl erhalten hatte. Dabei waren seine Lebensbedingungen dort nicht gerade einfach: Er arbeitete als Journalist sowie als Fernfahrer zwischen Hamburg und Istanbul. »Er hatte damals kein Geld und hat deshalb Leute gesucht, denen er Spanisch beibringen kann«, erzählt Thomas Schmid aus dieser Zeit. Doch um Geld gebeten habe er nie. »Er war ein ganz, ganz bescheidener Mensch.« Vor seiner Zeit in Hamburg hatte der Schriftsteller in Nicaragua gelebt und an der Seite der Sandinisten gegen die Diktatur von Anastasio Somoza gekämpft. »Wo die Rebellion war, da war er zu Hause«, erzählt Urs Fiechtner. Nach dem Sieg der Revolution verließ er aufgrund von Differenzen mit der sandinistischen Führung das Land und ging nach Deutschland. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er in der nordspanischen Küstenstadt Gijón, wo er Mitte der 1990er Jahre eine neue Heimat fand. »Heimat ist nicht der Ort, an dem du geboren worden bist. Heimat ist die Sprache, deine Sprache, sie ist die einzig mögliche Heimat«, sagte Sepúlveda in einem Interview.

Versuchte, denen eine Stimme zu geben, die keine haben. Luis Sepúlveda (1949–2020).

LUIS SEPÚLVEDA

Foto: Sophie Bassouls / Sygma / Getty Images

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»Ich bin nur die Botin« Zuhören, aufschreiben, handeln. Katja Riemann in einem Frauenhaus in Burkina Faso.

Die Schauspielerin Katja Riemann über Menschenrechte, humanitäre Arbeit, die Folgen der Corona-Pandemie und ihr neues Buch. Da schreiben Sie ein Reisebuch, und sein Erscheinen fällt in eine Zeit, in der Reisen stark eingeschränkt sind. Wie fühlt sich dieser fiese Schlag des Zufalls für Sie an? Diese Eingangsfrage trifft den Nerv. Ich fang mal von hinten an. Ich komme aus dem ehemaligen Westen der Republik, und seitdem die Grenzen geschlossen sind, die ich, wie aus meinem Buch hervorgeht, gern und häufig überquere, habe ich eine Ahnung, was das für meine Ostfreunde (und nicht nur sie) mal bedeutet hat. Ich komme schwer damit zurecht, denn diese Zeit, in der alles still steht, hätte ich, wäre es möglich gewesen, zum Reisen verwendet. Das Buch war, wenn ich das sagen darf, gerade auf dem Weg in die Sachbuch-Bestsellerliste und wurde durch eine Pandemie, die es nicht so oft gibt, aus der Bahn gekickt. Das ist betrüblich, aber noch mehr wundere ich mich über mich selbst, dass ich gar nicht so betrübt bin, wie ich es vermutet hätte. Ich glaube daran, dass ich den Faden wieder aufnehmen kann, ich glaube, dass mein Buch nicht verjährt. Immerhin erzählt es

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über einen Zeitraum von fast 20 Jahren, da machen ein paar Monate mehr auch nichts aus. Ich würde mir wünschen, dass es sich in den Schulunterricht spült. Das wäre fantastisch. Woher kommt Ihr Engagement in der humanitären Arbeit? Das werde ich häufiger gefragt, und ich sage dann meist, dass nicht die Frage sein kann, was mit mir ist, sondern was im Feld an humanitärer Arbeit geleistet wird. Ich bin nur die Botin, die Geschichtenerzählerin, die berichtet, die für eine kleine Weile vor Ort sein und Zeit verbringen durfte mit jenen, die humanitäre Arbeit leisten und jenen, an die sich diese Arbeit wendet. Eine andere Antwort könnte sein: Ich glaube, es ist nicht die Frage, ob und warum man beginnt oder wie oder wann. Das tatsächliche Engagement beginnt erst nach dem ersten Schritt. Es zeigt sich darin, dass man nicht mehr loslässt. Diese Haltung, dieses Nichtloslassen habe ich gelernt von jenen Menschen, die für mich Helden der Zeit sind: Dr. Denis Mukwege, Dr. Kasereka Lusi, Molly Melching, Marguerite Barankize, Johannes Wedenig … … Denis Mukwege und Kasereka Lusi sind auf Gewalt gegen Frauen spezialisierte Ärzte im Osten des Kongo, Molly Melching hat in Senegal die NGO Tostan gegründet, die sich gegen Genitalverstümmelung bei Mädchen und Frauen wendet, Mar-

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guerite Barankize hat in Burundi ein Hilfsnetzwerk für Kinder gegründet, und Johannes Wedenig arbeitet seit Jahren in leitender Funktion für UNICEF … … Genau. Nachdem ich sie kennenlernen durfte, habe ich auch nicht mehr losgelassen. Dazu kommt, dass diese Arbeit Räume in der Welt öffnet und einem Begegnungen geschenkt werden, die meist bereichernd sind.

Foto: Walter Korn

»Jeder hat. Niemand darf.« – Der Titel Ihres Buches bezieht sich auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Wie genau spiegelt sie sich in den Projekten wider, die Sie beschreiben? In allen Projekten ist die Erklärung eingebettet, darum spricht man ja von humanitärer Arbeit. Zum Beispiel bei Tostan: Dort werden die Artikel der Erklärung als Zeichnung auf Papier gemalt, um sie vor Ort zu verbreiten, da nicht alle des Lesens mächtig sind. Dasselbe in Nepal oder Burkina Faso. Die Artikel könnten eine Art Anleitung für gesellschaftliches und politisches Zusammenleben sein, es steht alles drin. Würden sie überall, in allen Ländern oder Staaten, eingehalten, sähe unsere Welt sicher anders aus. Zumal sie keine Einschränkung des persönlichen Lebens darstellen. Dass das nicht so ist, versteht man nicht. Wie verändert die Corona-Pandemie die Situation der Projekte vor Ort? Haben Sie da Beispiele? Leider wenig Konkretes. Ich weiß, dass »Safe the children« Lebensmittelkarten in Italien verteilt hat. Ich weiß, wie besorgt man im Geflüchtetenlager Cox Bazar in Bangladesch ist, wo zum größten Teil die in Myanmar verfolgten Rohingya untergekommen sind. Meine Sorge und konkrete Beschäftigung fokussieren sich derzeit auf die humanitäre Katastrophe im überfüllten Lager Moria auf Lesbos. Da bündeln wir gerade mit diversen Kampagnen die Kräfte, um die EU daran zu erinnern, dass sie auch ein humanitäres Bündnis sein sollte, nicht nur ein wirtschaftliches. An die Horrorprognose, dass »in Afrika Tote auf den Straßen liegen«, glaube ich nicht. Das Narrativ über den afrikanischen Kontinent müssen wir dringend überdenken. Stellt die Corona-Pandemie menschenrechtliche Arbeit einfach nur vor neue Probleme oder bietet sie auch eine Chance auf eine bessere Welt, wenn die Ausbreitung des Virus mal gestoppt ist? Das weiß ich nicht. Sicherlich kann die Natur während des Stillstands durchatmen, wenn man sich die venezianischen Kanäle ansieht oder dass der Smog über China verschwunden ist oder die Luftverschmutzung in indischen Städten abgenommen hat. Es liegt in unseren Händen, ob wir uns von Corona inspirieren lassen, Verhaltensweisen zu überdenken. Aber ich glaube, es ist ein bisschen wie mit Migräneschmerzen, die, einmal vorbei, völlig aus dem Gedächtnis verschwunden sind. Wenn Sie sich die Projektreisen heute noch einmal ansehen, in welchem Land hat sich wegen eines Projekts, an dem Sie beteiligt waren, am meisten zum Guten entwickelt? Oh, auf jeden Fall in Rumänien! Dort gibt es diese Einrichtungen mit körperlich und geistig behinderten Kindern und Erwachsenen, wie ich sie in Negro Voda besucht habe, schon sehr lange nicht mehr. Im Südwesten Nepals gibt es inzwischen diverse Distrikte, die keine Kinder mehr in die Sklaverei verkaufen. Ein Mädchen, Urmila, die zwölf Jahre in Sklaverei lebte, stu-

KATJA RIEMANN

»Es könnte mehr Engagement geben. Da ist so viel träge Masse. Und Korruption! Da ist so viel Nichtwissen.« diert nun Jura. Besonders beeindruckend ist die Arbeit von Tostan im Senegal, deren »Community Empowerment Program« mittlerweile erreicht hat, dass über 8.000 Communities in sechs Ländern ihre Mädchen nicht mehr genital beschneiden. Durch diese freigesetzte weibliche Kraft wird zukünftig noch viel Energie zu erleben sein. »Schritt für Schritt«: So charakterisieren Sie die Arbeit von Menschenrechtlern und Nichtregierungsorganisationen. Und weiter: »Geduld brauchen sie und Optimismus, die Helden im Feld.« Verlieren Sie nie die Geduld? Andauernd (lacht). Aber darüber wissen Sie doch viel besser Bescheid als ich, durch Ihre Arbeit bei Amnesty. Im Ernst, es ist nicht die Geduld, die ich verliere, es ist eher das Unverständnis, das bei mir wächst. Und da liegt der Knacks. Es könnte mehr Engagement geben, und ich rätsele, warum es nicht so ist. Da ist so viel träge Masse. Und Korruption! Da ist so viel Nichtwissen. Das hat Roger Willemsen, dem ich mein Buch gewidmet habe, so schön und schlicht formuliert: »Woher nehmen wir nur all unser Nichtwissen?« Mit Katja Riemann sprach Maik Söhler.

ZUR PERSON Katja Riemann ist Schauspielerin, Sängerin und Autorin. Seit mittlerweile 20 Jahren engagiert sie sich als UNICEFBotschafterin und unterstützt humanitäre Organisationen, darunter auch Amnesty International.

ZUM BUCH Im Frühjahr ist ihr Sachbuch »Jeder hat. Niemand darf.« erschienen. Es versammelt Berichte von »Projektreisen«, die Riemann in den vergangenen zwei Jahrzehnten in verschiedene Länder Europas, Afrikas, Asiens und des Nahen Ostens geführt haben. Im Nachwort des Buches bringt Harald Welzer, Soziologe und Publizist, den Stil Riemanns auf den Punkt: »In ihren Schilderungen treten uns all diese Menschen, die wir gern im Modus des Opfers betrachten, als eigenständige, würdige, einzigartige Menschen entgegen.« Katja Riemann: Jeder hat. Niemand darf. Projektreisen. S. Fischer, Frankfurt/M. 2020. 400 Seiten, 24 Euro

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Die Netflix-Serie »Unorthodox« thematisiert die Emanzipationsgeschichte von Deborah Feldman. Als junge Frau entflieht sie der ultraorthodoxen jüdischen Sekte der Satmarer. Von Till Schmidt

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in Jahr – und nicht ein Baby.« Schon nach wenigen Minuten erfahren die Zuschauer von »Unorthodox«, welche Erwartungen auf frisch verheirateten Frauen aus der Satmarer-Sekte lasten. Wie sich die 19-jährige Esther »Esty« Shapiro aus dieser Gemeinschaft befreit und ein neues Leben in Berlin beginnt, davon erzählt die Ende März veröffentlichte Netflix-Mini-Serie von Anna Winger, Alexa Karolinski und Maria Schrader. Die Satmarer gehören zur Strömung des chassidischen Judentums, einer ultra-orthodoxen Glaubensrichtung, die Mitte des 18. Jahrhunderts in Osteuropa entstand. Heute leben die etwa 120.000 Mitglieder der Satmarer vor allem in New York, wo eine Gruppe Shoah-Überlebender die Sekte 1948 neu gegründet hatte. Ihre Anhänger pflegen einen abgeschotteten Lebensstil, tragen traditionelle Kleidung und sprechen mit dem Jiddischen fast ausschließlich die Sprache ihrer Vorfahren. Mit möglichst vielen Kindern wollen sie jene sechs Millionen Juden ersetzen, die in der Shoah ermordet wurden. »Unorthodox« basiert lose auf Deborah Feldmans gleichnamiger Autobiografie, die sie 2012 weltbekannt machte. Andere Teile der Serie sind stärker fiktiv oder inspiriert vom Nachfolger »Überbitten« (2015), in dem Feldman ihre der Flucht folgende Identitätssuche auf Reisen in den USA und in Europa schildert. »Meine Version des Glückes habe ich in Berlin gefunden«, schreibt die heute 33-Jährige im Vorwort zur Neuauflage von »Unorthodox«. An diesem Ort »voller Geflüchteter, Aussteigerinnen und Aussteiger« sei es ihr gelungen, »ein neues Ich und auch ein dazugehöriges Leben aufzubauen«. Feldmans Leben in New York war bestimmt von strengen Regeln und Bevormundung. Mit 17 Jahren heiratete sie einen sechs Jahre älteren, ihr weitgehend unbekannten Mann in einer arrangierten Ehe. Das Thema Sexualität war stark tabuisiert und mit Ängsten belegt, Frauen diente Schulbildung vor allem zur Vorbereitung auf die Rolle als Ehefrau und Mutter. Im Alter von 19 Jahren – und auf Druck der Verwandtschaft – bekam Feldman schließlich einen Sohn. Die ohnehin unglückliche Ehe geriet immer stärker in die Krise, soziale Kontrolle und dogmatische Rollenerwartungen prallten auf den Freiheitsdrang Feldmans. Eine heimlich gepflegte Leidenschaft für Literatur und ein

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Studium an einem nahegelegenen College trugen zu Feldmans Emanzipationsprozess bei. Während des Studiums begann sie, Jeans zu tragen und ließ ihr Haar wachsen, das sie gemäß der Tradition der Satmarer nach der Hochzeit abrasieren und durch eine Perücke ersetzen lassen musste. »Die meisten Frauen, die ich kenne, führen nach ihrer Hochzeit dasselbe Leben, dass sie zuvor auch schon geführt haben. Sie (…) beschäftigen sich selbst mit den Pflichten von Töchtern und Ehefrauen. Für Frauen (…) wie mich aber wird dieses Leben nicht genug sein«, schreibt die damals 23-Jährige in ihrer Autobiografie. Ein anonymes Blog, in dem Feldman diese immer auch von Gefühlen der Scham und Unsicherheit begleiteten Erfahrungen schilderte, ebnete ihr den Weg für die Veröffentlichung von »Unorthodox«. Das Buch führte am Tag seines Erscheinens schlagartig die Bestsellerliste der New York Times an, und die Auflage durchbrach wenige Monate später die Millionengrenze. Ein Glücksfall, denn viele Aussteiger und Aussteigerinnen sind nach dem Verlust des familiären Netzwerkes und vor dem Hintergrund der ihnen systematisch vorenthaltenen Bildung starker Armut ausgesetzt. Sowohl in Feldmans Büchern als auch in der Serie ist das immer wieder ein Thema. Gelegentlich wurde der Vorwurf erhoben, die Serie »Unorthodox« würde das Judentum negativ homogenisieren. Doch dass die kleine Gruppe der Satmarer in keiner Weise die weltweit knapp 15 Millionen Jüdinnen und Juden repräsentiert, wird in der Serie mehr als deutlich. Hier findet eine säkulare, in Berlin lebende Israelin genauso ihren Platz wie etwa Estys lesbische, ebenfalls geflohene Mutter. Schade nur, dass die Biografien dieser Charaktere lediglich angedeutet werden. »Leute wie ich haben uns in der populären Kultur kaum wiederfinden können, so dass wir erst lernen mussten, wie wir

»Leute wie ich haben uns in der populären Kultur kaum wiederfinden können. Wir mussten erst lernen, unsere eigenen Geschichten zu erzählen.« AMNESTY JOURNAL | 04/2020

Foto: Dominik Butzmann / laif

Exodus einer Frau


Neue Freiheit. Die Autorin Deborah Feldman in Berlin.

unsere eigenen Geschichten erzählen«, sagt Feldmann im Making-of der Serie. Zu dieser empowernden Dimension zählt nicht nur, dass »Unorthodox« in weiten Teilen in Feldmans Muttersprache Jiddisch gedreht wurde, sondern auch die enorme Beteiligung von jüdischen Frauen an der Produktion sowie in den Schauspielrollen. »Juden wurden in deutschen Filmen bisher fast immer von nichtjüdischen Deutschen gespielt. Diesmal sollten Juden Juden spielen«, sagte Drehbuch-Co-Autorin Karolinski bei einer Vorabvorführung in New York. Die Darstellung der Satmarer in der Serie mag der Komplexität des Lebens vor Ort und der Vielschichtigkeit der Individuen mitsamt ihren inneren Konflikten nicht immer gerecht werden. Problematischer ist allerdings die Darstellung von Berlin und seiner Bevölkerung. Eine Schlüsselszene spielt am Wannsee: Von ihrem späteren Liebhaber, dem nicht-jüdischen Deutschen Robert, wird Esty auf jene Villa aufmerksam gemacht, in der die Nationalsozialisten 1942 die »Endlösung der Judenfrage« beschlossen. »Ein See ist ein See«, antwortet Robert auf die Frage, ob man darin schwimmen kann – Esty zieht ihre Perücke aus, wirft sie ins Wasser und lässt sich in der neu gewonnenen Freiheit treiben. Um den Begrenzungen ihres eigenen Lebens zu entfliehen, kehrt Esty also ausgerechnet an jenen

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Ort zurück, an dem das Trauma der Satmarer ihren Ursprung nahm. Das ist individuell nachvollziehbar, geht es in »Unorthodox« doch auch um Estys persönliche Leidens- und Emanzipationsgeschichte. Überblendet wird dies aber von der stereotypen Darstellung der angeblich durchweg bunten, weltoffenen und queeren Stadt. Auch dies wird in Feldmans Buch »Überbitten« wesentlich differenzierter in den Blick genommen. Erfahrungen mit deutschen Neonazis sind darin ebenso Thema wie alltäglicher Antisemitismus, vergangenheitspolitisch motivierter Philosemitismus oder linksliberaler Kulturrelativismus. Im Vorwort der Neuauflage ihres Buches schreibt Feldman, dass sie die Serie im Gegensatz zu ihren beiden Autobiografien als Teil einer größeren Erzählung von Rebellion und Emanzipation begreife. »Unorthodox« erzähle »eine Geschichte von so vielen Menschen, die mir genauso gut wie anderen gehören könnte«. Letztlich gehe es vor allem um die Themen Schmerz, Konflikt, Einsamkeit und Demütigung – Erfahrungen, die in anderen kulturellen Traditionen oder religiösen Kontexten ebenfalls gemacht würden. In einem Interview sagte Feldman: »Im Detail existieren natürlich Unterschiede, aber die Gefühle, die Erfahrungen und der Druck, dem ich ausgesetzt war, das alles gibt es ebenfalls unter Christen, Muslimen oder Hindus.«

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Kein Pogo in Kairo In Ägypten wurde eine der beliebtesten Musikrichtungen im Land verboten. Mahraganat ist die Stimme der marginalisierten Jugend aus den Vororten Kairos. Von Hannah El-Hitami

Laut, rüde und gesellschaftskritisch. Mahraganat ist die Musik der ärmeren Viertel Kairos. Blick auf eine Hochzeit im Randbezirk Salam City.

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ie Probleme begannen am Valentinstag. Im Kairoer Stadion sangen die ägyptischen Stars Hassan Shakosh und Omar Kemal vor Tausenden Zuschauern einen Song über die Liebe zur Nachbarstochter und erklärten der lyrisch Angebeteten: »Wenn du mich verlässt, trinke ich Alkohol und rauche Haschisch.« Die scheinbar harmlose Zeile hat zum Verbot einer ganzen Musikszene geführt: Mahraganat oder Electro-Schaabi heißt die Musik der marginalisierten Jugend aus Kairos Außenbezirken – sie ist die Ausdrucksform einer enttäuschten Generation und gleichzeitig der Soundtrack ihrer ausgelassenen Partys. Im Februar reagierte das Musikersyndikat, das auf dem Papier eine Gewerkschaft ist, und entschied, Mahraganat-Künstlern die Lizenz zu entziehen und Veranstalter zu bestrafen, die diese auftreten lassen. Der Vorsitzende des Syndikats, Hany Shaker, forderte auch Online-Plattformen dazu auf, entsprechende Songs zu löschen, allerdings ohne Erfolg. Auf Soundcloud war das umstrittene Lied über die Nachbarstochter (»Bint al-Giran«) Anfang 2020 der zweitmeistgehörte Song weltweit. Dass eine Liedzeile so viel Gegenwind provoziert, ist mehr als eine Frage des Geschmacks. Denn Mahraganat-Musik ist nicht nur vulgär und provokant, sondern auch politisch und gesellschaftskritisch – sie passt weder den konservativen Künstlerkreisen Ägyptens in den Kram noch der Regierung des ehemaligen Militärs Abdel Fattah al-Sisi.

Ihre Musik ist der HipHop Ägyptens: die Stimme einer marginalisierten Jugend am Rande der Stadt, gefürchtet von den Bewohnern und Autoritäten im Zentrum. Wie im Rap wird bei Mahraganat zwar sehr viel und durchaus auch rüde gesprochen, aber nicht nur über Frauen, Alkohol und Drogen. Die Musik thematisiert auch die Perspektivlosigkeit, die Armut und den Alltag am Rande der ägyptischen Gesellschaft. Gerade diese unkontrollierbaren Teile der Bevölkerung machen der militärnahen Regierung Sorgen. Mahraganat-Musik repräsentiert die gedrängten, unübersichtlichen Stadtviertel mit ihren solidarischen Nachbarschaften und vielen jungen, frustrierten Menschen. Die Hälfte der ägyptischen Bevölkerung ist unter 25 Jahren alt. Auch daraus speisten sich 2011 die großen Proteste. »Das Volk will fünf Pfund Handy-Guthaben«, singt MC Sadat in einem Song und greift dabei den Hauptslogan der ägyptischen Revolution auf, der 2011 lautete: »Das Volk will den Sturz des Regimes.« Weiter singt er: »Das Volk ist so verdammt müde, es lebt von der Hand in den Mund.« Revolutionen scheitern, so deuten diese Zeilen an, wenn ein Großteil der Bevölkerung wirtschaftlich zermürbt wird. Seit 2016 steckt Ägypten in einer tiefen Wirtschaftskrise. Die Preise für Grundnahrungsmittel sind rasant gestiegen, während die ohnehin schon geringen Löhne nur bedingt angepasst wurden.

Kunstschaffende im Gefängnis Informell gebastelt in Kairos Randbezirken Mahraganat bedeutet übersetzt »Festivals«. Der Begriff wird als Synonym für alles Laute, Bunte, Schrille verwendet. Die Musikrichtung ist eine Mischung aus volkstümlich-arabischen Liedern und modernen Computer- oder Keyboardklängen. Gesungen wird dazu mit einer großen Portion Autotune, das die Stimmen der Sänger verzerrt und künstlich klingen lässt. Entstanden ist Mahraganat-Musik in den ärmeren und informellen Vierteln Kairos. Genauso informell wie die halbfertigen Gebäude und ungepflasterten Straßen, die prekären Jobs und die improvisierte Infrastruktur ist der kreative Prozess hinter den Liedern: In winzigen Wohnungen basteln die jungen DJs an alten Computern mit raubkopierter Software ihre Tracks und verbreiteten sie über das Internet. Anfangs legten sie vor allem bei Hochzeiten und Straßenfesten in Kairos Randbezirken auf, wo Massen an jungen Männern ekstatisch herumhüpften, Bengalo-Feuer schwenkten und Pogo tanzten. Doch inzwischen ist Electro-Schaabi so beliebt, dass auch junge Leute aus der oberen Mittelschicht in den Clubs und Hotels der Hauptstadt dazu feiern. Und auf Kairos Straßen ist Mahraganat-Musik omnipräsent: Sie scheppert aus den motorisierten, dreirädrigen Tuk-Tuks, in denen meist Jugendliche in Flipflops sitzen und durch die Gassen ihrer Viertel rasen. Nachts schallt sie über den Nil, wo große Gruppen junger Frauen und Männer sich Boote mieten, tanzen und feiern – nur wenige Meter von den konservativen Regeln des Festlandes entfernt.

Foto: Mosa’ab Elshamy / AP / pa

Der HipHop Ägyptens Die alteingesessene Musikszene, repräsentiert vom Musikersyndikat, war bislang von einem ganz anderen Stil geprägt. Erfolgreiche Lieder trugen Titel wie »Wenn du wirklich liebst« oder »Mein Schmerz«, gesungen wurde mit leidendem Blick über Liebe, Sehnsucht und Betrug. Der ungeschönte Realismus der Mahraganat-Künstler hört sich anders an.

MAHRAGANAT

Wie viele kreative Strömungen wuchs die Mahraganat-Szene nach der Revolution 2011 rasant – und wie andere auch droht sie nun an der nationalistisch-reaktionären Wende zu zerbrechen, die die Regierung seit dem Militärputsch vor sieben Jahren eingeschlagen hat. Jede Kritik daran wird im Keim erstickt, vermeintliche oder tatsächliche Oppositionelle verschwinden und tauchen in Gefängnissen oder Polizeistationen wieder auf. Amnesty International schätzt, dass Ägypten bis zu 60.000 politische Gefangene in seine Haftanstalten gesperrt hat. Kunstschaffende bleiben davon nicht verschont, wie erst Anfang Mai der Tod des 24-jährigen Filmemachers Shady Habash im Tora-Gefängnis in Kairo zeigte. Er saß zuvor mehr als zwei Jahre ohne Prozess ein, nachdem er einen satirischen Musikclip gedreht hatte (mehr dazu auf Seite 69). Ob den Mahraganat-Musikern auch so harte Strafen drohen, ist noch unklar. Kurz nach dem Konzert am Valentinstag sagte der ägyptische Parlamentarier Faraj Amer in einer Talkshow, dass er sich um härtere Gesetze gegen Mahraganat-Musiker und andere Künstler bemühe, die »der ägyptischen Kunst, Tradition und Moral schaden«. Er wolle die Strafe bei Verwendung unangemessener Sprache auf bis zu drei Jahre Gefängnis erhöhen. Hassan Shakosh und Omar Kemal haben sich inzwischen für ihre kontroverse Liedzeile entschuldigt. In einem Statement auf YouTube erklären sie, dass der Skandal nur auf einem Missverständnis beruhe: Sie hätten eigentlich eine Version des Liedes ohne die besagte Liedzeile spielen wollen, doch vor Ort habe man die beiden Tracks auf dem USB-Stick verwechselt. »Wir hatten versprochen, die Zeile zu ersetzen und waren überrascht, als plötzlich die alte Version gespielt wurde«, verkündete Shakosh mit schuldbewusster Miene. Vielleicht ist sein kürzlich neu erschienener Song ein Versuch, wieder die Gunst der Regierung zu gewinnen: »Unser reines Militär hat ein reines Herz«, singt er darin zu den sanften Klängen eines Klaviers, und weiter: »Tausend Dank an die Armee.«

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Foto: Karen Ducey / Getty Images

Auch ein Globalisierungskritiker? Ein US-Amerikaner marschiert mit den rechtsextremen »Patriot Prayer« 2018 durch das als liberal geltende Portland.

Jetzt geht’s rund Der israelische Journalist Nadav Eyal hat mit »Revolte« ein interessantes Buch über den Widerstand gegen die Globalisierung geschrieben. Leider versteht er nicht, was Globalisierung bedeutet. Von Maik Söhler

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rühling, Sommer und Herbst haben zwei Dinge gemein. Sie sind Jahreszeiten, und sie sind nicht Winter. Ansonsten sind sie so unterschiedlich, wie es verschiedene Jahreszeiten nun mal sind. Neonazis, Umweltschützer und manche Arbeitnehmer in den USA haben zwei Dinge gemeinsam. Sie sind Menschen, und sie sind nicht einverstanden mit Folgen der Globalisierung. Ansonsten sind sie so unterschiedlich, wie es verschiedene Menschen nun mal sind. Doch es gibt noch etwas, was sie eint: Der israelische Journalist Nadav Eyal hat sie als Akteure auserkoren, um in seinem neuen Buch »Revolte« am »weltweiten Aufstand gegen die Globalisierung« teilzuhaben, wie es im Untertitel heißt. Es ist ein interessantes Buch; interessant, weil Eyal gleich mehrfach mit sehr schrägen Grundannahmen hantiert, die in der Summe dann doch allerlei Stoff zum Nachdenken geben. Schräg ist allein schon der Begriff der Globalisierung, den der Autor verwendet. Obwohl er eine gute Definition zur Hand hat, der zufolge Globalisierung »eine immer umfassendere, immer tiefere und immer schnellere Vernetzung von Staaten, Kulturen und Individuen« ist, lässt sich Eyal an vielen Stellen dazu hinreißen, Globalisierung bloß als Synonym für einen technologiebasierten weltumspannenden Kapitalismus zu verwenden. Noch schräger ist, dass faschistischer Heimatschutz, ökologischer Aktivismus gegen den Klimawandel und Mittelschichts-

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ängste vor dem Jobverlust für ihn zu ein- und derselben »Revolte« gegen eben diesen technologiebasierten weltumspannenden Kapitalismus gehören. Was für ein Quatsch! Dabei sind die einzelnen Kapitel des Buches durchaus lesenswert; die Recherchen gehen tief, die Analysen sind klug, die Übergänge meist sinnvoll. Doch dann das: »Die Absicht, das Experiment der Grenzkontrolle zu befördern und die Grenzen letztlich hermetisch abzuriegeln, zielt darauf, die verlorene Kontrolle in einer globalisierten Welt wiederzugewinnen«, schreibt der Autor über nationalistische Regierungen. Die aber tun nur, was nationalistische Regierungen auch schon vor 100 oder 200 Jahren gemacht haben. Nationalisten brauchen keine »verlorene Kontrolle« als Vorwand, um sich und ihre Basis für etwas Besseres zu halten. »Revolte« ist deshalb nur eingeschränkt zu empfehlen. Wer immer noch nicht verstanden hat, wie es zum Brexit kommen konnte, warum Donald Trump Präsident der USA wurde und weshalb die AfD in Deutschland in allen Landesparlamenten und im Bundestag sitzt, der kann es in diesem Buch nachlesen. Es nimmt zudem unfreiwillig vieles an regionalen und nationalen Befindlichkeiten vorweg, die uns im Zuge der Corona-Krise noch länger begleiten werden. Denn 90 Prozent aller Maßnahmen gegen das Virus wurden und werden im nationalen Rahmen getroffen; selten haben supranationale Institutionen wie die EU oder die UNO so tatenlos zusehen müssen, wie sich Grenzen schlossen und sich Nationen bis zum Ende der Quarantäne einigelten. Vor diesem Hintergrund wirkt Eyals Appell, die Bedeutung der Nationalstaaten endlich aufzuwerten, nur noch komisch. Nadav Eyal: Revolte. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Ullstein, Berlin 2020. 496 Seiten, 29,99 Euro

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Vergessener Einsatz für Demokratie

Krieg, Frieden, Straßenbau

Der Konflikt um Hongkong kommt nicht zur Ruhe. Ende Mai hat Chinas Volkskongress das umstrittene »Sicherheitsgesetz« gebilligt. Kritiker fürchten, es könne das Ende der Autonomie und Demokratiebewegung in der Sonderverwaltungszone bedeuten. Der 1996 geborene Joshua Wong ist das jugendliche Gesicht der Demokratiebewegung. Sein Buch »Unfree Speech«, das er gemeinsam mit Jason Y. Ng geschrieben hat, liest sich stellenweise wie eine Gebrauchsanweisung für Aktivisten, aber gibt auch einen guten Einblick in die Geschichte der Proteste in Hongkong: angefangen von den Schülerprotesten über die Regenschirm-Bewegung bis hin zu den Demonstrationen gegen ein Gesetz, das die Auslieferung beschuldigter Personen an China ermöglicht. Teils euphorisch, teils ernüchtert schildert Wong die Höhen und Tiefen der Demokratiebewegung und seinen Weg zum Aktivisten. Bereits als Schüler gründete er die Gruppe »Scholarism«, die gegen die Einführung chinesischer, nationalistischer Tendenzen im Bildungsplan kämpfte. Das Kernstück des Buches bilden Tagebucheinträge und Briefe, die er im Gefängnis schrieb, nachdem er wegen seines Engagements inhaftiert worden war. »Nirgendwo auf der Welt wird der Kampf zwischen freiem Willen und Autoritarismus deutlicher als hier«, schreibt er. Die Demokratie sei global gefährdet und müsse global verteidigt werden.

Eine Straße soll gebaut werden. Eine gerade Straße, die zwei Teile eines armen Landes verbinden wird. Die verfeindeten Landesteile haben gerade ihren Bürgerkrieg beendet. Bald will der Präsident auf dieser Straße eine Militärparade abhalten. Zwei Arbeiter aus einem wohlhabenden Land reisen an, um den Straßenbelag in kurzer Zeit zu planieren und die Straße zu vollenden. Das Ziel wird erreicht, doch die Ausführung droht an allerlei widrigen Umständen vor Ort zu scheitern und der Nutzen des Bauwerks bleibt mehr als zweifelhaft. Der US-Schriftsteller Dave Eggers, der für gute Literatur (»Weit gegangen«, »Zeitoun«) ebenso bekannt ist wie für sein menschenrechtliches Engagement (seine Buchreihe »Voice of Witness« untersucht gefährdete Menschenrechte), legt mit »Die Parade« eine Parabel zur Arbeit von Entwicklungshelfern vor. Er stellt dabei eine wichtige Frage und bietet zugleich Antworten an: Wenn Entwicklungshelfer ihrem Auftrag gerecht werden, wem kommt das zugute? Dem Auftraggeber? Den Entwicklungshelfern? Der Bevölkerung vor Ort? Ihrem Präsidenten? Seinen Gegnern? »Die Parade« ist ein wunderbar klar konstruierter Roman mit einer bewusst einfachen Sprache und einem überschaubaren Figurenfundus. Wer wie Eggers in diesem Buch aus solch simplen Zutaten eine derart verstörende Wirkung entfalten kann, der hat verstanden, was Kunst ist.

Joshua Wong, Jason Y. Ng: Unfree Speech. Aus dem Englischen von Irmengard Gabler und Karl Picher. S. Fischer, Frankfurt/Main 2020. 208 Seiten, 16 Euro

Dave Eggers: Die Parade. Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020. 192 Seiten, 20 Euro

Rebellische Forscher

Schwankender Übergang

Wissenschaftliche Forschung klassifizierte Menschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach »Rassen«. Doch gab es eine Reihe Ethnologen, die sich gegen dieses rassistische Weltbild stellten: In seinem Buch »Schule der Rebellen« porträtiert Charles King diese Forscher rund um den Anthropologen Franz Boas (1858–1942) sehr anschaulich. Sie lehnten das Konzept zivilisatorischer Entwicklungsstufen ab und wandten sich gegen eine Hierarchisierung von Kulturen. Außerdem waren sie Vorbilder für spätere Fachrichtungen wie die Gender Studies. Doch was heute als fortschrittlich gilt, führte damals zu Gegenwind. King widmet sich in seinem Buch dem Leben und Wirken der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. So begleitet der Leser etwa die BoasSchülerin Margaret Mead auf eine Forschungsreise nach Samoa. Neben Einblicken in ihre Forschung erfährt man, was sie und andere Ethnologen einst umtrieb, und unter welch prekären Lebensumständen sie ihre Studien betrieben. »Schule der Rebellen« schildert die Entwicklung der modernen Anthropologie, die der aus Minden stammende Boas in den USA begründete. Lesenswert ist das Buch daher für alle, die sich für die Geschichte der Ethnologie und prominente Vertreter des Faches interessieren, aber auch für diejenigen, die mehr wissen wollen über frühe Begründer eines modernen Menschenbildes.

Der Ozean »lebte, als wäre er selbst ein eigenes, lebendiges Wesen. Er sprudelte, brüllte, schäumte und spukte Blasen und Schaum.« In Alan Gratz’ Jugendroman ist das Meer weder Sehnsuchtsort noch Urlaubsziel, es ist eine Naturgewalt, die es zu überleben gilt. Eindrücklich verwebt der US-amerikanische Autor drei Fluchtgeschichten, in denen das Meer eine zentrale, tödliche Rolle einnimmt. Der fundiert recherchierte Roman ist deshalb etwas Besonderes, weil er den Kunstgriff nutzt, Fluchten aus unterschiedlichen Zeiten parallel zu erzählen, die sich trotz aller Unterschiede erschreckend gleichen. Josef und seine Familie müssen Berlin 1939 auf der Flucht vor den Nationalsozialisten verlassen und gehen in Hamburg an Bord der St. Louis, die sie nach Kuba bringen soll. Isabel, ihre Familie und die Familie ihres besten Freundes Ivan besteigen 1994 in der Nähe von Havanna nachts ein kleines, selbstgebautes Boot, um nach Florida zu gelangen. Mahmouds Familie flieht nach einem Bombenangriff, bei dem ihre Wohnung zerstört wird, aus Aleppo, um in Berlin ein neues Leben ohne Krieg und Zerstörung zu beginnen. In allen drei Geschichten ist das Meer ein Ort des Übergangs, der nicht nur für die Hoffnung und den Aufbruch in ein besseres Leben steht, sondern auch das Erwachsenwerden der Protagonist*innen markiert.

Charles King: Schule der Rebellen. Aus dem Englischen von Nikolaus de Palézieux. Hanser, München 2020. 480 Seiten, 26 Euro

Alan Gratz: Vor uns das Meer. Drei Jugendliche. Drei Jahrzehnte. Eine Hoffnung. Aus dem Englischen von Meritxell Janina Piel. Hanser, München 2020. 299 Seiten, 17 Euro. Ab 12 Jahren

Bücher: Lea De Gregorio, Maik Söhler, Marlene Zöhrer BÜCHER

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Weg in den Kampf

Sanfter Rap

»Ich bin nicht weggegangen, weil ich von dir weg wollte«, schreibt der jugendliche Addai seiner Mutter in einer E-Mail. Er habe sich vielmehr auf die Suche nach sich selbst begeben wollen. Nun hat der 20-Jährige, der sich als dunkelhäutiges Kind in Deutschland immer fehl am Platz fühlte, seine Bestimmung gefunden. Ein Imam hat ihn überredet, in den Bürgerkrieg nach Syrien zu gehen, er könne dort den »Brüdern und Schwestern« im Kampf gegen Präsident Assad helfen. In welcher Gruppe er genau landet, bleibt zwar offen, klar aber ist: Die Mutter wird ihr Kind nicht wiedersehen – alles was sie über ihn erfährt, stammt von Ilias, der als Unterstützer terroristischer Organisationen in einem deutschen Gefängnis sitzt und Addai bei den Kämpfen in Syrien kennenlernte. Esther Niemeier, die Addai kannte und mit seiner Familie eng befreundet ist, hat einen bemerkenswerten Antikriegsfilm über die schmerzliche Suche nach dem verlorenen Sohn gedreht. In Zeichnungen, Animationen und kolorierten, real gespielten Szenen – kurz: in einem aufsehenerregenden Artwork – stellt sie das Leben Addais nach und fragt nach den Gründen von Radikalisierung. Der Film ist in der Mediathek der Bundeszentrale für politische Bildung frei zugänglich und wird ergänzt durch viele Informationen zum Konflikt in Syrien. Ein Essay der Filmkritikerin Morticia Zschiesche vervollständigt das Dossier.

Kann man Hass mit Liebe bekämpfen? Der brasilianische Rapper Emicida glaubt fest daran. Sein neues Album ist eine Liebeserklärung an die Vielfalt der Gesellschaft wie der Musik Brasiliens. Es ist erstaunlich sanftmütig für einen Rapper, dessen Künstlername ein Wortspiel aus »Mörder« und »MC« ist. Der 35-jährige ehemalige Battle-Rapper ist einer der angesehensten MCs und zweifellos der vielseitigste HipHopKünstler des Landes. Er mischt Rap, Trap-Beats und FunkRhythmen mit lokalen Stilen wie Maracatu, Samba und Forró auf meisterhaft organische Weise. Für das Album »AmarElo« ließ er sich von Poemen des 1989 verstorbenen Dichters Paulo Liminski inspirieren. »Lieben ist eine Verbindung zwischen Blau und Gelb«, dichtete dieser einst, was im Portugiesischen aber viel poetischer klingt. Das Wort »Gelb« (»Amarelo«) setzt sich aus den Wörtern »amar« (»Lieben«) und »elo« (»Bindeglied«) zusammen. Emicida zeigt auf »AmarElo« Mut zum Mitgefühl und setzt damit bewusst einen Gegenakzent zur Brutalität eines Jair Bolsonaro. Auf dem Album sind Stars wie die Samba-Legende Zeca Pagodinho und das kubanische Schwesternduo Ibeyi mit dabei. Der Sound ist zart und lieblich, doch die Texte sind schonungslos kritisch. »Ismália« handelt von Rassismus und Polizeigewalt, und »9nha« karikiert mit beißendem Witz den Waffenfetisch vieler Brasilianer. Im Titelstück liefert sich Emicida zudem ein packendes Duett mit der Dragqueen Pabllo Vittar: ein klares Statement der Solidarität mit der LGBTQI-Community, die von Bolsonaro und seinen Anhängern gehasst wird.

»Tracing Addai«. D 2018. Regie: Esther Niemeier. Darsteller: Benito Bause, Kais Setti. Auf: https:// m.bpb.de/lernen/projekte/307267/tracing-addai

Emicida: AmarElo (Stern’s Music)

Der Vermittler Der derzeit wohl bekannteste Schauspieler Brasiliens, Wagner Moura, hat in den vergangenen Jahren mehrfach Figuren der südamerikanischen Zeitgeschichte verkörpert, unter anderem den kolumbianischen Drogenbaron Pablo Escobar und den brasilianischen Kommunistenführer Carlos Marighella. In seinem neuesten Film spielt er seinen Landsmann Sérgio Vieira de Mello, der zunächst als UN-Mitarbeiter und später als UN-Hochkommissar für Menschenrechte über Jahrzehnte in komplizierten Konflikten, wie etwa in Kambodscha oder Ost-Timor, erfolgreich vermitteln konnte. Ein bemerkenswertes filmisches Vorhaben, denn diplomatische Prozesse anschaulich zu machen, gehört nicht unbedingt zum Kernbestand des populären Kinos. Moura gibt dem Diplomaten eine leicht übermenschliche Note. Reichlich dominant ist auch die Liebesgeschichte mit der UN-Ökonomin Carolina Larriera. Sie wird vom »Bond-Girl« Ana de Armas allerdings so gut gespielt, dass man keine Szene missen möchte. Eine Herausforderung stellen die vielen Zeitsprünge des Films dar, denn de Mellos Leben wird ausgehend von seinem traurigen Ende erzählt: Eingeklemmt liegt er im Hauptquartier der UN-Mission in Bagdad, seinem letzten Einsatzort. Er starb dort 2003, als ein Autobombenanschlag auf das Gebäude verübt wurde. Trotz gewisser inszenatorischer Schwächen ist es äußerst verdienstvoll, dass in »Sergio« die internationale Friedensarbeit gewürdigt wird. »Sergio«. US 2020. Regie: Greg Barker. Darsteller: Wagner Moura, Ana de Armas. Auf Netflix

Elektro-Folk voller Hoffnung Die palästinensische Sängerin und Songwriterin Terez Sliman ist eine der interessantesten Stimmen aus der jungen, arabischen Independent-Szene des Nahen Ostens. Die 34-Jährige hat zwischen Elektronik, minimalistisch-suggestiven Klanglandschaften und Folk in arabischer Sprache ihren eigenen Stil entwickelt. Sie lebt in der israelischen Hafenstadt Haifa und ist schon bei vielen Konzerten und Festivals in Europa und arabischen Ländern aufgetreten. Für ihr Album »When the waves« hat sie sich mit dem Komponisten und Musiker Raymond Haddad zusammengetan, der Bass und Modular-Synthesizer spielt und die elektronischen Arrangements programmiert hat. Die Texte steuerten der von den Golanhöhen stammende Dichter Yasser Khanjar und die Lyrikerin Asmaa’ Azaizeh bei. Das Album widmet sich teils intensiven Gefühlen und den diversen Schattierungen der Schönheit. Kämpferischer und indirekt politisch wird es dagegen auf »Hunger« und »When Tables will Turn«, die zwischen den Zeilen auf die Situation der Palästinenser anspielen. Die Hoffnung, dass sich die Dinge eines Tages doch noch zum Besseren wenden könnten, will sich Terez Sliman nicht nehmen lassen. »Ich singe angesichts der Ungerechtigkeit und des Leids«, sagt sie über sich. »In dieser verdrehten Welt ist laut zu singen mein größtes Glück.« Terez Sliman: When the Waves (Kirkelig)

Film: Jürgen Kiontke | Musik: Daniel Bax 68

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Foto: Gulsin Ketenci / NarPhotos / laif

Songs für eine bessere Welt. Zwei Mitglieder der türkischen Band Grup Yorum sind dieses Jahr im Hungerstreik gegen Repressionen gestorben.

Mundtot gemacht Musiker stehen weltweit unter Druck. Die Organisation Freemuse zählt viele Fälle von Zensur und Inhaftierungen und vereinzelt sogar Ermordungen. Von Daniel Bax

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nfang Mai starb mit Ibrahim Gökçek das zweite Mitglied der Band Grup Yorum. Nachdem er kurz zuvor seinen Hungerstreik nach 320 Tagen abgebrochen hatte, erlag der Bassist in einem Istanbuler Krankenhaus den Folgen dieser Tortur. Einen Monat zuvor war die Sängerin der Band, Helin Bölek, nach 288 Tagen im Hungerstreik gestorben. Die beiden Musiker hatten mit ihrem Todesfasten gegen ein jahrelanges Auftrittsverbot für ihre Band sowie gegen Razzien und die Inhaftierung anderer Musiker protestiert. Die 1985, wenige Jahre nach dem Militärputsch in der Türkei, gegründete Band Grup Yorum hat mehrere Generationen von Linken in der Türkei begleitet und ein Lebensgefühl geprägt. »Yorum« bedeutet so viel wie »Kommentar«, und das brachte das Selbstverständnis der Band auf den Punkt. Besetzung und Arrangements wechselten über die Jahre, doch ihrer Linie blieb die Band stets treu. Ihre Protestsongs im türkischen Folkstil waren oft plakativ und voller Pathos, mit klaren und kämpferischen Botschaften und Covern voller wehender roter Fahnen. Die Band steht der »Volksbefreiungsfront der Türkei« DHKP-C nahe, eine in Europa und der Türkei verbotene linke Extremistengruppe. Die Popularität der Band reichte aber weit über diese Kreise hinaus. Ihre überragende Bedeutung zeigte sich 2010, als Grup Yorum zum 25-jährigen Bandjubiläum vor 50.000 Men-

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schen ein umjubeltes Konzert im Istanbuler İnönü-Stadion gab. Die Repression der vergangenen Jahre aber hat die Band fast zerstört. Die Beerdigung von Ibrahim Gökçek wurde von Tumulten begleitet. Die verbliebenen Musiker haben aber angekündigt, weitermachen zu wollen. Auch anderswo verloren Künstler ihr Leben, weil Machthaber sie zum Schweigen bringen wollten. In Ägypten starb Anfang Mai der 24-jährige Filmemacher Shady Habash in der Haft. Er war mehr als ein Jahr zuvor festgenommen worden, nachdem er bei einem Musikvideo des Rocksängers Ramy Essam Regie geführt hatte. Der Song »Balaha« richtete sich gegen Ägyptens Militärherrscher Abdel Fattah Al-Sisi, das Video zu »Balaha« wurde bei YouTube mehr als fünf Millionen Mal aufgerufen. Ramy Essam war einer der Wortführer der Proteste auf dem Tahrirplatz, er war verhaftet und gefoltert worden und lebt seit 2014 in Schweden im Exil. Die Organisation Freemuse hat es sich zur Aufgabe gemacht, solche Fälle zu dokumentieren. Für das vergangene Jahr hat sie 711 Verstöße gegen die Kunst- und Meinungsfreiheit gezählt, in insgesamt 93 Ländern. Darunter waren sechs Morde, zwei davon allein in Uganda. Ein Drittel aller Fälle betraf Musiker. Ägypten und die Türkei gehören zu den Ländern, denen Freemuse eine besorgniserregende Entwicklung bescheinigt. Aber auch China, Indien, Indonesien, Brasilien und sogar die USA und Frankreich bieten Anlass zur Sorge. Der wachsende Nationalismus und Populismus führe dazu, dass oppositionelle Stimmen und ethnische Minderheiten oder die LGBTQICommunity marginalisiert und unterdrückt werden, sagt Freemuse-Direktor Srirak Pliplat. Das ist leider ein weltweiter Trend.

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MACH MIT: BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt, oder man lässt sie verschwinden. AMNESTY INTERNATIONAL veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes.

Foto: privat

ACHTUNG! Aufgrund der Verbreitung des CoronaVirus ist die weltweite Briefzustellung momentan eingeschränkt. Deshalb bitten wir Sie, Ihre Appellschreiben per E-Mail oder Fax bzw. an die Botschaft des jeweiligen Ziellandes zu schicken.

IRAN VON COVID-19 NE BEDROHTE GEFANGE Trotz einiger angekündigter Freilassungen angesichts der Covid-19-Pandemie befinden sich im Iran noch immer Hunderte gewaltlose politische Gefangene in Haft. Zu ihnen zählen Menschenrechtler_innen, friedliche Protestierende und andere Personen, die lediglich deshalb inhaftiert wurden, weil sie friedlich ihre Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit wahrgenommen haben. In zahlreichen iranischen Gefängnissen wurden Häftlinge bereits positiv auf Covid-19 getestet. Laut Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO scheinen bestimmte Personengruppen ganz besonders in Gefahr zu sein, bei einer Erkrankung ernste Symptome zu entwickeln und zu sterben. Zu dieser Risikogruppe zählen ältere Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen. Hinzu kommt, dass manchen Gefangenen systematisch eine angemessene medizinische Versorgung verweigert wird, wodurch sie bei einer An-

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steckung mit dem Corona-Virus besonders gefährdet wären. Viele Inhaftierte sind bereits in den Hungerstreik getreten, um gegen den Mangel an Hygieneartikeln in Gefängnissen zu protestieren sowie gegen die Weigerung der Behörden, Häftlinge vorübergehend freizulassen, genügend Tests in Gefängnissen durchzuführen und mutmaßlich Erkrankte zu isolieren. In zahlreichen Gefängnissen wandten Sicherheitskräfte tödliche Gewalt an, um Proteste wegen Sicherheitsbedenken bezüglich Covid-19 niederzuschlagen. Glaubwürdigen Quellen zufolge wurden dabei etwa 35 Personen getötet und Hunderte weitere verletzt. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an die Oberste Justizautorität, in denen Sie darum bitten, alle gewaltlosen politischen Gefangenen umgehend und bedingungslos freizulassen, darunter auch Menschenrechtler_innen und Personen, die nur deshalb inhaftiert sind, weil sie friedlich an den Protesten vom November 2019 und Januar 2020 teilgenommen hatten. Appellieren Sie an ihn, dringend zu erwägen, auch andere Inhaf-

tierte freizulassen, insbesondere Untersuchungshäftlinge und besonders gefährdete Personen. Und bitten Sie darum, dass alle notwendigen Maßnahmen ergriffen werden, um die Gesundheit aller Gefangenen zu schützen, zum Beispiel durch angemessenen Zugang zu Tests. Schreiben Sie in gutem Persisch, Englisch oder auf Deutsch an: Ebrahim Raisi C/o Permanent Mission of Iran to the UN 622 Third Ave., 34th floor New York, NY 10017, USA E-Mail: iran@un.int (Anrede: Dear Mr Raisi / Sehr geehrter Herr Raisi) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €)

Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Islamischen Republik Iran S. E. Herrn Mahmoud Farazandeh Podbielskiallee 67, 14195 Berlin Fax: 030 - 832 22 91 33 E-Mail: info@iranbotschaft.de (Standardbrief: 0,80 €)

AMNESTY JOURNAL | 04/2020


Foto: privat

leidet unter permanentem Husten und Thrombose. Seine Sicht ist zudem durch Lichtblitze und sogenannte Floater im Auge eingeschränkt. Die zunehmende Zahl der Covid-19-Erkrankungen stellt ein großes Risiko für die beiden Männer und viele andere Inhaftierte in Belarus dar.

BELARUS VLADISLAV SHARKOVSKY UND EMIL OSTROVKO Vladislav Sharkovsky und Emil Ostrovko (Foto) sitzen seit 2018 wegen geringfügiger gewaltfreier Drogendelikte im Gefängnis. Zum Zeitpunkt ihrer Festnahme waren sie 17 Jahre alt. Sie hätten nie inhaftiert werden dürfen. Beide Männer leiden unter schweren Erkrankungen. Emil Ostrovko hat chronisches Asthma, und Vladislav Sharkovsky

Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Präsidenten von Belarus und bitten Sie ihn, umgehend zu prüfen, ob Vladislav Sharkovsky und Emil Ostrovko vorzeitig unter Auflagen freigelassen werden können, da Covid-19 für sie eine große Gefahr darstellt. Fordern Sie zudem die Überprüfung des Gewahrsams aller Gefangenen in Belarus, die durch Covid-19 gefährdet sind, wie z. B. Menschen mit Vorerkrankungen. Appellieren Sie an ihn, die Praxis der Inhaftierung von Minderjährigen wegen geringfügigen gewaltfreien Drogendelikten gemäß Paragraf 328 einzustellen und die Drogenbekämpfungspolitik allgemein zu reformie-

Briefentwürfe auf Englisch und Deutsch finden Sie unter www.amnesty.de/briefe. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie sie bitte an: info@amnesty.de

Foto: privat

CHINA LI QIAOCHU

Die Arbeits- und Frauenrechtlerin Li Qiaochu wurde am 16. Februar 2020 in Peking von der Polizei abgeführt. Sie ist an einem unbekannten Ort inhaftiert. Amnesty geht davon aus, dass ihre Festnahme mit ihren Aktivitäten gegen geschlechtsspezifische Gewalt und mit der Tatsache zu tun hat, dass ihr Partner Xu Zhiyong im Dezember 2019 an einem informellen Treffen von Anwält_innen und Aktivist_innen teilgenommen hat. Li Qiaochu engagierte sich online und offline ehrenamtlich in der Prävention von Covid-19. Sie verteilte Gesichtsmasken an Beschäftigte im Gesundheitswe-

BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN

ren. Alle Inhaftierten, die als Minderjährige verurteilt wurden, müssen freigelassen werden. Schreiben Sie in gutem Belarussisch, Russisch, Englisch oder auf Deutsch. Aleksandr Lukashenko Ul. Karla Marksa, 38 220016 Minsk, BELARUS Fax: 003 75 - 17 226 06 10 oder 003 75 17 222 38 72 E-Mail: contact@president.gov.by (Anrede: Dear President / Sehr geehrter Herr Präsident) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €)

Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Belarus S. E. Herrn Denis Sidorenko Am Treptower Park 32, 12435 Berlin Fax: 030 - 53 63 59 23 E-Mail: germany@mfa.gov.by (Standardbrief: 0,80 €)

AMNESTY INTERNATIONAL Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0, Fax: 030 - 42 02 48 - 488 E-Mail: info@amnesty.de, www.amnesty.de

sen und half schwangeren Frauen aus betroffenen Gemeinden dabei, sich gegenseitig zu unterstützen. Li Qiaochu wird ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten und hat keinen Zugang zu ihrer Familie oder einem Rechtsbeistand ihrer Wahl. Sie ist daher in großer Gefahr, gefoltert oder anderweitig misshandelt zu werden. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Direktor der Sicherheitsbehörde von Peking und bitten Sie ihn, Li Qiaochu umgehend und bedingungslos freizulassen, es sei denn, es existieren glaubwürdige und zulässige Beweise dafür, dass sie eine international anerkannte Straftat begangen hat, und sie ein Verfahren erhält, das den internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren entspricht. Bitten Sie ihn, sicherzustellen, dass Li Qiaochu bis zu ihrer Freilassung regelmäßigen und uneingeschränkten Zugang zu Rechtsbeiständen ihrer Wahl und ihrer Familie hat und nicht gefoltert oder anderweitig misshandelt wird. Fordern

Sie zudem, dass ihr umgehend und uneingeschränkt Zugang zu medizinischer Versorgung gewährt wird, wenn sie darum bittet bzw. wenn dies nötig ist. Schreiben Sie in gutem Chinesisch, Englisch oder auf Deutsch an: Wang Xiaohong Beijingshi Gong’anju 9 Dongdajie, Qianmen Dongchengqu, Beijing Shi 100017, VOLKSREPUBLIK CHINA Fax: 00 86 - 10 852 228 23 (Anrede: Dear Director Wang / Sehr geehrter Herr Direktor) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €)

Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Volksrepublik China S. E. Herrn Ken Wu Märkisches Ufer 54, 10179 Berlin Fax: 030 - 27 58 82 21 E-Mail: de@mofcom.gov.cn oder presse.botschaftchina@gmail.com (Standardbrief: 0,80 €)

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BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN – UPDATES In jedem Amnesty Journal veröffentlichen wir drei Einzelschicksale, verbunden mit dem Appell, einen Brief zu schreiben, um Menschenrechtsverletzungen zu beenden. In regelmäßigen Abständen informieren wir darüber, wie sich die Situation der Betroffenen weiterentwickelt hat. Hier nun neue Informationen zu den »Briefen gegen das Vergessen« von Juni 2019 bis Januar 2020.

Aus der Haft entlassen. Malak al-Kashef.

Foto: Ho Duy Hai's sister

VIETNAM – HO DUY HAI (JUNI 2019) Ho Duy Hai ist nicht mehr von Hinrichtung bedroht. Das Todesurteil wurde ausgesetzt, nachdem die Oberste Staatsanwaltschaft Vietnams im November 2019 eine erneute Untersuchung des Falles angeordnet hatte. Grund dafür waren schwere Verfahrensmängel. Im März 2008 war Ho Duy Hai festgenommen und neun Monate später Ho Duy Hai. wegen Mordes zum Tode verurteilt worden. Während der Haft hatte er keinen Zugang zu einem Rechtsbeistand. Berichten zufolge hatte man Ho Duy Hai außerdem durch Folter gezwungen, ein Geständnis abzulegen. Der Ausschuss für Rechtsfragen der Nationalver-

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Protest im Jahr 2014. Ho Duy Hais Mutter.

sammlung, der für die Klärung von Vorwürfen zu juristischem Fehlverhalten zuständig ist, berichtete von schweren Verstößen gegen die Verfahrensregeln. Amnesty hat sich mehrfach für eine Überprüfung des Urteils und die Abschaffung der Todesstrafe in Vietnam eingesetzt. Aus den Reihen der Zivilgesellschaft war zu hören, dass der Einsatz von Amnesty in hohem Maße dazu beigetragen habe, Ho Duy Hais Hinrichtung zu verhindern.

USA – ALEJANDRA (JULI 2019) Die Transfrau Alejandra ist im September 2019 nach 20 Monaten aus der Einwanderungshaft in Texas freigelassen worden. Aufgrund ihrer Geschlechtsidentität war sie in ihrem Heimatland El Salvador immer wieder von Mitgliedern einer Gang und auch von Militärangehörigen bedroht, erpresst und sexuell genötigt worden. Sie war schließlich nach Mexiko geflohen und hatte im November 2017 an der Grenze zu den USA Asyl beantragt. Nach einer Anhörung vor dem Einwanderungsgericht im April 2018 war ihr Asylantrag vorerst abgelehnt und ihre Abschiebung aus den USA angeordnet worden. Die Entscheidung über ihren Asylantrag läuft weiter – auch nach der Entlassung aus der Haft. Sollte sie nach El Salvador zurückgeschickt werden, würde das ein großes Risiko bedeuten. Allein im Januar und Februar 2019 wurden dort laut Menschenrechtsorganisationen drei Transfrauen getötet. Amnesty wird sich weiterhin für Alejandra einsetzen und die Entscheidung über ihren Asylantrag weiter beobachten.

Foto: privat

Foto: privat

Im Juli 2019 ist die ägyptische Menschenrechtsverteidigerin Malak al-Kashef aus der Haft entlassen worden. Die 19-jährige Transfrau war im März 2019 von Angehörigen des Geheimdienstes aus dem Haus ihrer Familie in Gizeh verschleppt worden. Anschließend hielt man sie im Tora-Gefängnis von Kairo, einem reinen Männergefängnis, in Einzelhaft. Die Aktivistin wurde inhaftiert, weil sie nach einem Feuer im Kairoer Ramses-Bahnhof über Online-Netzwerke zu Protesten aufgerufen hatte. Ihr wurde vorgeworfen, eine »terroristische Organisation zu unterstützen« sowie »die sozialen Medien für Straftaten missbraucht zu haben«. Nach Angaben ihres Rechtsbeistands wurde Malak alKashef zu Untersuchungen in einem Krankenhaus gezwungen, bei denen es zu sexualisierten Übergriffen durch das medizinische Personal kam. Amnesty stuft solche Übergriffe als Folter beziehungsweise Misshandlung ein. Die Organisation hatte gefordert, Malak al-Kashef freizulassen und alle Anklagen gegen sie fallen zu lassen.

Foto: LanThang

ÄGYPTEN – MALAK AL-KASHEF (JUNI 2019)

Nicht mehr in Einwanderungshaft. Alejandra.

AMNESTY JOURNAL | 04/2020


Foto: Amnesty

Solidarität mit Alejandra. Amnesty-Protestaktion.

Foto: privat

Ahmed H. konnte Ende September 2019 – kurz nachdem die Briefe gegen das Vergessen für Oktober in den Druck gingen – zu seiner Familie auf Zypern zurückkehren. Die zyprischen Behörden hatten ihm seine Rückkehr schließlich gestattet. Er war im September 2015 in Ungarn inhaftiert und auf Grundlage der ungarischen Antiterrorgesetze wegen »Komplizenschaft in einer Terroraktivität« verurteilt worden. Ahmed H. hatte versucht, seiner Familie bei der Flucht aus Syrien nach Europa zu helfen und war deshalb an die serbisch-ungarische Grenze gereist. Dort war es zu Zusammenstößen zwischen der ungarischen Polizei und Flüchtenden gekommen. Die Polizei hatte Tränengas und Wasserwerfer eingesetzt und Dutzende Personen verletzt. Ahmed H. wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt, die durch Berufungsinstanzen erst auf sieben und später auf fünf Jahre redu-

Vor Ungerechtigkeit wegfliegen. Zeichnung von Ahmed H.’s Tochter.

BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN – UPDATES

ziert wurden. Mehr als 24.000 Menschen hatten sich an Kampagnen von Amnesty International für Ahmed H. beteiligt. Er und seine Frau drücken allen Unterstützern ihre tiefe Dankbarkeit aus.

VIETNAM – TRAN THI NGA (JANUAR 2020) Die Menschenrechtsverteidigerin Tran Thi Nga ist im Januar 2020 – kurz nach der Veröffentlichung der Briefe gegen das Vergessen – nach drei Jahren Haft freigelassen worden. Bedingung für ihre Freilassung war, dass sie mit ihrer Familie in die USA ausreist. Tran Thi Nga war 2017 wegen »Propaganda gegen den Staat« zu neun Jahren Gefängnis Tran Thi Nga. verurteilt worden. Sie hatte sich nach der Formosa-Katastrophe, die 2016 in zahlreichen Provinzen Vietnams zu einem Fischsterben geführt hatte, an friedlichen Protesten beteiligt. Das Stahlwerk »Formosa Hà Tĩnh Steel« hatte Abwässer ins Südchinesische Meer geleitet, die unter anderem mit Phenol und Zyanid kontaminiert waren. Tran Thi Nga ist Mitglied der unabhängigen vietnamesischen Gruppe Frauen für Menschenrechte, die sich friedlich für Land- und Arbeitsrechte sowie den Umweltschutz einsetzt. Wegen ihres politischen Engagements war Tran Thi Nga bereits zuvor misshandelt worden: Im Mai 2014 hatten regierungsnahe Schlägertrupps ihr ein Bein und einen Arm gebrochen; im August 2015 hatten Polizisten sie aus einem Bus gezerrt. Amnesty International hatte die umgehende und bedingungslose Freilassung von Tran Thi Nga gefordert.

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Foto: Amnesty

ZYPERN – AHMED H. (OKTOBER 2019)


Fotos: Amnesty-jugend

AKTIV FÜR AMNESTY

Wollen auch offline wieder aktiv werden. Elsabeh Sonderhoff (l.) und Birte Wulfes von der Amnesty-Jugendvertretung.

»MEHR ALS 5.000 UNTERSCHRIFTEN FÜR AHMED MANSOOR!« Mutige Menschen, die sich weltweit für ihre Rechte und die Rechte anderer einsetzen, werden zur Zielscheibe digitaler Angriffe und Überwachung. Dagegen wandte sich die AmnestyJugendaktionswoche – diesmal nur online. Elsabeh Sonderhoff und Birte Wulfes erklären, was da los war. Die Jugendaktionswoche hat in diesem Jahr wegen Corona »überwiegend online« stattgefunden. Was heißt überwiegend? Da die Lage anfangs nicht absehbar war, hatten wir auch Materialien für Infostände etc. vorbereitet. Letztlich fand die Jugendaktionswoche aber nur online statt. Zusammen mit den Jugend- und Hochschulgruppen haben wir auf Social Media mit täglichen Posts über die Überwachung von Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechtsverteidigern informiert. Außerdem gab es einen informierenden Chatbot und Online-Interviews mit der Themen-Koordination Digitales und dem Amnesty Tech Team. Außerdem haben wir mit einem Twitterstorm auf den gewaltlosen politischen Gefangenen Ahmed Mansoor aufmerksam gemacht. Der Menschenrechtler, Blogger und Dichter aus den Vereinigten Arabischen Emiraten ist seit März 2017 inhaftiert. Er hat die Menschenrechtssituation in seinem Land dokumentiert und wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt.

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Schwerpunkt der Aktionswoche waren »Menschenrechte im digitalen Zeitalter« – da passen Online-Aktionen doch richtig gut … Natürlich hat das sehr gut gepasst, zu diesem Thema gehört aber selbstverständlich auch die kritische Auseinandersetzung mit Digitalisierung. Seid ihr zufrieden mit den Ergebnissen der Jugendaktionswoche? Unter den gegebenen Umständen war sie ein großer Erfolg. Viele Jugend- und Hochschulgruppen haben sich an unseren Aktionen beteiligt, und wir konnten mehr als 5.000 Unterschriften für Ahmed Mansoor sammeln! Trotzdem ist es schade, dass keine anderen Aktionen möglich waren. Im kommenden Jahr wollen wir nach Möglichkeit auch wieder offline aktiv sein. Es ist recht schwierig, als Gruppe gemeinsam eine Online-Aktion zu machen. Das Wir-Gefühl fehlt einfach. Außerdem erreicht man bei Aktionen auf der Straße auch noch ein anderes Publikum als über Social Media. Elsabeh Sonderhoff, 18, und Birte Wulfes, 22, sind in der AmnestyJugendvertretung als Referentinnen für Aktionen bzw. Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit aktiv.

AMNESTY JOURNAL | 04/2020


DANKE FÜR IHRE TREUE! verlieren, wäre zu groß. Deshalb finanziert Amnesty sich vorwiegend über private Spenden, Mitglieds- und Förderbeiträge sowie Vermächtnisse. Staatliche Zuwendungen lehnen wir ab, und wir beantragen auch keine Drittmittel bei regierungsnahen Institutionen. So ist klar, dass weder Regierungen noch öffentliche oder parteinahe Einrichtungen die Arbeit von Amnesty beeinflussen können. Zwar mussten auch wir wegen der Kontaktbeschränkungen so manches Programm zur Gewinnung von neuen Unter-

stützern aussetzen und können noch nicht absehen, wie sich das langfristig auswirken wird. Dennoch möchten wir auch zukünftig für unsere Menschenrechtsarbeit nicht auf staatliche Mittel zurückgreifen müssen. Daher freuen wir uns, wenn Sie – sofern Ihre finanziellen Möglichkeiten das erlauben – weiterhin mithelfen, die finanzielle Unabhängigkeit von Amnesty zu sichern. Danke! Gesine Gernand, Unterstützer-Kommunikation bei Amnesty International

Foto: Logan Weaver

Die gute Nachricht vorweg: Bislang erfahren wir große Solidarität von unseren finanziellen Unterstützern. In den ersten Wochen der Corona-Krise verzeichneten wir nicht die befürchteten Spendenrückgänge und auch Kündigungen von Mitglieds- und Förderschaften blieben größtenteils aus. Daher: Ein großes Dankeschön für Ihre Treue! Das Corona-Virus bestimmt nach wie vor weite Teile unseres Lebens. Wird die Pandemie zu einer Zeitenwende führen? Welche wirtschaftlichen Folgen sind zu erwarten? Wie verändert sich unser gesellschaftliches Miteinander? Wir als Amnesty International werden das begleiten. Wir sehen bereits jetzt, dass Covid-19 weltweit zu neuen Menschenrechtsverletzungen führt. Besonders Betroffene bekommen nicht ausreichend Schutz. Maßnahmen gegen die Virusausbreitung werden genutzt, um Rechte einzuschränken oder Andersdenkende zu verfolgen. Verlust von Vertrautem, Ungewissheit, Zukunftsangst birgt zudem die Gefahr von Radikalisierung und Extremismus. Amnesty wird sich gerade jetzt für die Einhaltung der Menschenrechte einsetzen. Unsere Unabhängigkeit ist dabei ein hohes Gut und sichert unsere Glaubwürdigkeit. Menschenrechtsverletzungen müssen unter großem Aufwand ermittelt werden. Nichts fürchten Menschenrechtsverletzer mehr, als dass ihre Taten ans Licht der Öffentlichkeit kommen. Politische – und damit auch finanzielle – Unabhängigkeit ist dabei entscheidend. Denn wie kann man glaubhaft etwas aufdecken und kritisieren, wenn man gleichzeitig Finanzmittel aus derselben Quelle erhält? Die Gefahr, so seine inhaltliche Unabhängigkeit und Neutralität zu

Bei Amnesty International gilt in allen Bereichen: Gemeinsam kommt man weiter.

IMPRESSUM Amnesty International Deutschland e.V. Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 E-Mail: info@amnesty.de Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin E-Mail: journal@amnesty.de Adressänderungen bitte an: info@amnesty.de Redaktion: Maik Söhler (V.i.S.d.P.), Jessica Böhner, Lea De Gregorio, Anton Landgraf, Tobias Oellig, Pascal Schlößer, Uta von Schrenk

AKTIV FÜR AMNESTY

Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit Albrecht, Daniel Bax, Mariana Delgado, Hannah El-Hitami, Gesine Gernand, Malte Göbel, Oliver Grajewski, Knut Henkel, Paul Hildebrandt, Andrea Jeska, Jürgen Kiontke, Hannes Koch, Nicoló Lanfranchi, Klaus Petrus, Wera Reusch, Till Schmidt, Uta von Schrenk, Parastu Sherafatian, Franziska UlmDüsterhöft, Franziska Vilmar, Wolf-Dieter Vogel, Felix Wellisch, Marlene Zöhrer Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck und Verlag: Hofmann Druck, Nürnberg GmbH & Co. KG

Spendenkonto: Amnesty International Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE23 3702 0500 0008 0901 00 BIC: BFS WDE 33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00) Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und erscheint sechs Mal im Jahr. Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.

und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.

ISSN: 2199-4587

Für unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos übernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die Urheberrechte für Artikel

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RETTER_INNEN

GESUCHT! Wenn es ein Verbrechen ist, Menschenleben zu retten, dann bin ich gerne schuldig. Schuldig, solidarisch zu sein. Kapitän Dariush, einer der Iuventa10, Träger_innen des Amnesty Menschenrechtspreises 2020 :987654328571805/.80-36,+*53)1'5&/8878%3$7,71#7*108"7*!1/"7%3 108 78 7"71&/8878%3 755,8"6608/5 571&/8878%3 755,8"66+*#/9971&/88783. 713 *8-/+*73 71, 6"1, 783,8 3 /557536/7%3,867178 : 7--3083 ,8 76 08'-71/83 71 7-3',3,85716+*17/ 78 3 *178 3763 13 /737/8783 !--/"367- 65 7165 8 -/+*3/65%36/+*3/83/*17135 "-/+*783:1 7/53 13 786+*78 -7 7837/8',675'78%3#71 783 7 786175571&/8878%3 /736/+*3083 783 178'783 ,1. 063 13 /73 7+*573 "7 +*575713 786+*7837/8675'78%36510 17+*5-/+*3 71 .-"5 3 .3 1.*783'7*83 /5"-/7 7183 713 17#3 7132, 7850%3 /73/93 /557-97*1397*130-63 3 786+*783 .13 793 151/8 783 7#0*153*05%3 /63 ',3 3 0*173 0 53,8 3*.*73 7- 6510 78 /13675'783,8639/53 0+* 1,+ 3 0 137/8%3 0663 713*,908/5 173 /8605'3 13"7 +*57573 786+*783 /83 ,1. 03,8 3083 ,1. 063:, 78"178'783 8 5/"38/+*53- 8"713 76510 53#/1 3 /13 .1 718%3 0663 7 763 7 783"71755753#/1 %37"0-3#. 3 GehÜren Sie einer der oben genannten Berufsgruppen an? 0883,857165 5'783 /73,863 /5573*/71 3

amnesty.de/appell-leben-retten

LEBEN RETTEN IST KEIN VERBRECHEN.


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