Die Netflix-Serie »Unorthodox« thematisiert die Emanzipationsgeschichte von Deborah Feldman. Als junge Frau entflieht sie der ultraorthodoxen jüdischen Sekte der Satmarer. Von Till Schmidt
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in Jahr – und nicht ein Baby.« Schon nach wenigen Minuten erfahren die Zuschauer von »Unorthodox«, welche Erwartungen auf frisch verheirateten Frauen aus der Satmarer-Sekte lasten. Wie sich die 19-jährige Esther »Esty« Shapiro aus dieser Gemeinschaft befreit und ein neues Leben in Berlin beginnt, davon erzählt die Ende März veröffentlichte Netflix-Mini-Serie von Anna Winger, Alexa Karolinski und Maria Schrader. Die Satmarer gehören zur Strömung des chassidischen Judentums, einer ultra-orthodoxen Glaubensrichtung, die Mitte des 18. Jahrhunderts in Osteuropa entstand. Heute leben die etwa 120.000 Mitglieder der Satmarer vor allem in New York, wo eine Gruppe Shoah-Überlebender die Sekte 1948 neu gegründet hatte. Ihre Anhänger pflegen einen abgeschotteten Lebensstil, tragen traditionelle Kleidung und sprechen mit dem Jiddischen fast ausschließlich die Sprache ihrer Vorfahren. Mit möglichst vielen Kindern wollen sie jene sechs Millionen Juden ersetzen, die in der Shoah ermordet wurden. »Unorthodox« basiert lose auf Deborah Feldmans gleichnamiger Autobiografie, die sie 2012 weltbekannt machte. Andere Teile der Serie sind stärker fiktiv oder inspiriert vom Nachfolger »Überbitten« (2015), in dem Feldman ihre der Flucht folgende Identitätssuche auf Reisen in den USA und in Europa schildert. »Meine Version des Glückes habe ich in Berlin gefunden«, schreibt die heute 33-Jährige im Vorwort zur Neuauflage von »Unorthodox«. An diesem Ort »voller Geflüchteter, Aussteigerinnen und Aussteiger« sei es ihr gelungen, »ein neues Ich und auch ein dazugehöriges Leben aufzubauen«. Feldmans Leben in New York war bestimmt von strengen Regeln und Bevormundung. Mit 17 Jahren heiratete sie einen sechs Jahre älteren, ihr weitgehend unbekannten Mann in einer arrangierten Ehe. Das Thema Sexualität war stark tabuisiert und mit Ängsten belegt, Frauen diente Schulbildung vor allem zur Vorbereitung auf die Rolle als Ehefrau und Mutter. Im Alter von 19 Jahren – und auf Druck der Verwandtschaft – bekam Feldman schließlich einen Sohn. Die ohnehin unglückliche Ehe geriet immer stärker in die Krise, soziale Kontrolle und dogmatische Rollenerwartungen prallten auf den Freiheitsdrang Feldmans. Eine heimlich gepflegte Leidenschaft für Literatur und ein
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Studium an einem nahegelegenen College trugen zu Feldmans Emanzipationsprozess bei. Während des Studiums begann sie, Jeans zu tragen und ließ ihr Haar wachsen, das sie gemäß der Tradition der Satmarer nach der Hochzeit abrasieren und durch eine Perücke ersetzen lassen musste. »Die meisten Frauen, die ich kenne, führen nach ihrer Hochzeit dasselbe Leben, dass sie zuvor auch schon geführt haben. Sie (…) beschäftigen sich selbst mit den Pflichten von Töchtern und Ehefrauen. Für Frauen (…) wie mich aber wird dieses Leben nicht genug sein«, schreibt die damals 23-Jährige in ihrer Autobiografie. Ein anonymes Blog, in dem Feldman diese immer auch von Gefühlen der Scham und Unsicherheit begleiteten Erfahrungen schilderte, ebnete ihr den Weg für die Veröffentlichung von »Unorthodox«. Das Buch führte am Tag seines Erscheinens schlagartig die Bestsellerliste der New York Times an, und die Auflage durchbrach wenige Monate später die Millionengrenze. Ein Glücksfall, denn viele Aussteiger und Aussteigerinnen sind nach dem Verlust des familiären Netzwerkes und vor dem Hintergrund der ihnen systematisch vorenthaltenen Bildung starker Armut ausgesetzt. Sowohl in Feldmans Büchern als auch in der Serie ist das immer wieder ein Thema. Gelegentlich wurde der Vorwurf erhoben, die Serie »Unorthodox« würde das Judentum negativ homogenisieren. Doch dass die kleine Gruppe der Satmarer in keiner Weise die weltweit knapp 15 Millionen Jüdinnen und Juden repräsentiert, wird in der Serie mehr als deutlich. Hier findet eine säkulare, in Berlin lebende Israelin genauso ihren Platz wie etwa Estys lesbische, ebenfalls geflohene Mutter. Schade nur, dass die Biografien dieser Charaktere lediglich angedeutet werden. »Leute wie ich haben uns in der populären Kultur kaum wiederfinden können, so dass wir erst lernen mussten, wie wir
»Leute wie ich haben uns in der populären Kultur kaum wiederfinden können. Wir mussten erst lernen, unsere eigenen Geschichten zu erzählen.« AMNESTY JOURNAL | 04/2020
Foto: Dominik Butzmann / laif
Exodus einer Frau