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DAS MAGAZIN FÜR DIE MENSCHENRECHTE
AMNESTY JOURNAL GESUNDHEIT FÜR ALLE MEDIZINISCHE VERSORGUNG OHNE PRIVILEGIEN
KRIEG IN ÄTHIOPIEN Vom Friedensnobelpreisträger zum Warlord
BRASILIEN Marine gegen Wasserrechte
KUNST UND BILDUNG Mauretaniens Kampf gegen die Sklaverei
02 2021
MÄRZ / APRIL
INHALT
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TITEL: GESUNDHEIT FÜR ALLE Corona-Pandemie: Egoismus, der krank macht
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Impfgerechtigkeit: »Es ist völlig undurchsichtig, welche Preise für Impfstoffe gezahlt werden«
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Medikamente: Patient vs. Patent
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HIV-Therapie: Heilsamer Druck
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Pharmastudien: Auf Kosten anderer
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Vernachlässigte Krankheiten: Kranke ohne Lobby
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Krankheiten im Sudan: Heilbar? Ja, aber nicht hier
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Mit dem Ego-Virus geimpft. Die Pandemie verschärft die weltweiten Ungleichheiten in bislang ungekanntem Ausmaß. Die schwächsten Staaten drohen beim Impfen vergessen zu werden.
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POLITIK & GESELLSCHAFT Krieg in Äthiopien: Friedensnobelpreisträger? Warlord!
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Sexualisierte Gewalt gegen Kinder in Paraguay: Der Staat lässt die Opfer allein
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Sexualisierte Gewalt gegen Kinder in Deutschland: Enormes Ausmaß, neue Sensibilität
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Im Osten Brasiliens: Marine privatisiert Wasser
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Datenschutz und Privatsphäre: Digitale Davids
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In Ungarn diskriminiert: Orbáns dickfelliger Widersacher
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Repression in Belarus: Wie im Berghain, nur viel ernster
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In Thailand begnadigt: Sündenböcke im Strandparadies
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Graphic Report: Schluss mit Guantánamo!
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KULTUR Kunst aus Mauretanien: Gesichter der Sklaverei
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Mauretanien und die Sklaverei: Bildung hilft
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Klangkünstler Abu Hamdan: Die im Dunklen hören gut
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Türkische Kunstszene: Mechanismen der Selbstzensur
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Sängerin Liraz Charhi: »Israelisch? Persisch? Beides?«
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Bildende Kunst aus Brasilien: Bestien & Göttinnen
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Graphic Novel: Tod eines Kriegsdienstverweigerers
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Rasha Nahas’ Musik: Arabische Milch, jüdische Orangen
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RUBRIKEN Panorama 04 Einsatz mit Erfolg 06 Markus N. Beeko über Wandeln durch Handeln! 07 Spotlight: Nach dem Krieg um Bergkarabach 08 Interview: Zaruhi Hovhannisyan 09 Was tun 52 Porträt: Naomi Henkel-Gümbel 60 Dranbleiben: Urteil zu Halle, Julian Assange, Eren Keskin 61 Rezensionen: Bücher 77 Rezensionen: Film & Musik 78 Briefe gegen das Vergessen 80 Aktiv für Amnesty 82 Impressum 83
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Lepra und Schwarzes Fieber. Im Sudan leiden Tausende Menschen an Krankheiten, die es anderswo schon längst nicht mehr gibt. Zu Besuch in zwei Kliniken, die unter speziellen Bedingungen arbeiten.
In allen Feindschubladen. Im System von Viktor Orbán wird gegen viele Unliebsame gehetzt – vor allem gegen Kritikerinnen, Roma und homosexuelle Menschen. Der Soziologe Desző Máté ist alles zugleich. Sein Leben in Ungarn wird zur ständigen Gratwanderung.
62 »Auch von mir wurde erwartet, ein gutes Mädchen zu sein.« Die Sängerin Liraz Charhi richtet sich mit ihrem die Freiheit feiernden Album »Zan« an iranische Frauen. Ein Gespräch über die Identitätsfindung als persischstämmige Israelin und heimlich aufgenommene Musik.
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Bilder voller Würde. In Mauretanien ist Sklaverei trotz des offiziellen Verbots immer noch gängige Praxis. Der Künstler Saleh Lô engagiert sich gegen das ausbeuterische System und zeigt in seinen Porträts befreite Sklavinnen und Sklaven.
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AMNESTY JOURNAL | 02/2021
Absurd hohe Preise. Zahlreiche Organisationen fordern eine Aufhebung des Patentschutzes auf unentbehrliche Medikamente. Doch die Pharmaindustrie hält an ihrem lukrativen Geschäftsmodell fest.
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AUSGEZEICHNET Gleich zweimal ist das Amnesty Journal Ende 2020 mit Preisen des ICMA ausgezeichnet worden. ICMA steht für International Creative Media Award, vergeben wurden die Preise zum elften Mal (eine Übersicht der Auszeichnungen findet sich auf icma-award.com).
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Einen Award of Excellence erhielt unsere Ausgabe 04/2020 zur weltweiten Pandemie mit dem Titel »Schutzlos ausgeliefert – Das Recht auf Gesundheit in der Corona-Krise«. Die Titelseite zeigt zwei junge Brasilianer in Cruzada São Sebastião, einer tristen Betonsiedlung in Rio de Janeiro. Der italienische Fotograf Nicoló Lanfranchi hat den widrigen Alltag unter Covid-19-Bedingungen in dem brasilianischen Armenviertel für uns dokumentiert.
Regionalkonflikt mit Folgen. Äthiopien befindet sich in einer tiefen Krise. Der Krieg in der Region Tigray betrifft auch die Nachbarländer und hat zu unzähligen Toten, Verletzten und Flüchtlingen geführt.
»Wir können Hunger hören.« Der britisch-libanesische Künstler Lawrence Abu Hamdan geht Menschenrechtsverbrechen anhand von Klängen nach. Besonders schwierig war seine Recherche über das syrische Foltergefängnis Saydnaya.
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Unser Titelbild wurde gezeichnet von Lea Berndorfer.
Fotos oben: Lea Berndorfer | Johanna-Maria Fritz | Andy Spyra | Istvan Bielik Rafael Heygster | Saleh Lô | David Levene / Guardian / eyevine / laif | Ronen Fadida
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EDITORIAL
Binders Fotografien betonen die eklatanten Widersprüche jener, die sich mit eigenen Symbolen und Traditionen voneinander abzugrenzen suchen und doch die gleichen Klamotten tragen und das gleiche Bier trinken. Es sind Bilder, die noch lange nachwirken. Wir bedanken uns bei Toby Binder und Nicoló Lanfranchi für ihre großartige Arbeit, kongenial umgesetzt von unserem Layouter Heiko von Schrenk.
Foto: Gordon Welters
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INHALT
Ein noch etwas höher zu bewertender Award of Silver ging an »Verbittert in Belfast«. Der Fotoessay von Toby Binder erschien in der Ausgabe 05/2019 und zeigt den Alltag junger Leute in Nordirland zwei Jahrzehnte nach dem Karfreitagsabkommen. Egal ob Katholiken oder Protestanten, beide Seiten teilen in Belfast die gleichen Sorgen und Nöte.
Dem Todestrakt entronnen. In Thailand wurden im Jahr 2015 zwei junge Männer aus Myanmar zum Tode verurteilt – für eine Tat, die sie wahrscheinlich nicht begangen haben. Im Sommer 2020 wandelte der thailändische König ihre Strafe in lebenslange Haft um. Viele Fragen bleiben.
Noch nicht ausgezeichnet, aber immerhin neu ist unser überarbeiteter Webauftritt unter https://www.amnesty.de/ journal. Besonderer Dank gilt dabei Daniel Kreuz und Tobias Oellig. Wo vorher das Titelbild der gedruckten Ausgabe zu sehen war, gibt es nun aktuelle journalistische Artikel aus den Bereichen Politik, Gesellschaft und Kultur. Wir hoffen, es gefällt Ihnen. Und: Bleiben Sie gesund! Maik Söhler ist verantwortlicher Redakteur des Amnesty Journals.
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PANORAMA
Foto: Sergey Ponomarev / The New York Times / Redux / laif
PROTEST NACH DER INHAFTIERUNG NAWALNYS IN RUSSLAND Juristische Repression gegen einen Oppositionellen hat zu anhaltenden Protesten in Russland geführt. Wegen »Verletzung der Bewährungsauflagen« verhängte ein Gericht in Moskau im Februar eine Haftstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten gegen den prominenten Antikorruptionsaktivisten Alexej Nawalny. Er hatte sich zuvor nach einem Giftanschlag für einige Monate zur medizinischen Behandlung in Deutschland aufgehalten. Nach seiner Rückkehr am 17. Januar wurde Nawalny festgenommen und in einem Schnellverfahren zu 30 Tagen Haft verurteilt. Proteste begleiteten das Schnellverfahren und das spätere Urteil, allein am 23. Januar gingen bei landesweiten Demonstrationen mehr als 100.000 Menschen auf die Straße. Am 31. Januar folgten Proteste in 90 russischen Städten. Tausende Teilnehmende wurden willkürlich inhaftiert und misshandelt (im Bild eine Festnahme in Moskau am 31. Januar). Der friedliche Protest riss bis Mitte Februar nicht ab. Amnesty International fordert, dass Alexej Nawalny und alle gewaltlosen politischen Gefangenen sofort und bedingungslos freigelassen werden.
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AMNESTY JOURNAL | 02/2021
PROTEST GEGEN DEN MILITÄRPUTSCH IN MYANMAR Anfang Februar hat sich in Myanmar das Militär an die Macht geputscht. Der bisherige Vizepräsident Myint Swe wurde zum Übergangspräsidenten ernannt. Staatspräsident Win Myint, De-facto-Regierungschefin Aung San Suu Kyi und andere politisch Aktive der Partei Nationale Liga für Demokratie (NLD) wurden in der Hauptstadt Naypyidaw festgenommen. Telefonleitungen und das Internet waren zeitweise gekappt. Trotz Repression kam es immer wieder zu Protesten der Bevölkerung (im Bild: Solidarisierung mit der NLD am 12. Februar in Yangon) und Streiks in den Betrieben. Die Armee rief für ein Jahr den Notstand aus und kündigte an, danach Neuwahlen abzuhalten. Das Militär hatte sich zuvor geweigert, den Sieg der NLD bei der Parlamentswahl im November 2020 anzuerkennen. Bereits 1962 und 1988 hatte das Militär in Myanmar geputscht. Suu Kyi verbrachte während der Militärherrschaft 15 Jahre im Hausarrest bzw. im Gefängnis. Auch für die nach Bangladesch vertriebene Minderheit der Rohingya könnte der Putsch Folgen haben. »Nun scheint selbst die entfernteste Chance außer Reichweite zu sein, in absehbarer Zeit in Sicherheit und mit Würde zurückzukehren«, sagt Saad Hammadi, der für Amnesty International in Sri Lanka zur Region Südostasien arbeitet. Foto: The New York Times / Redux / laif
PANORAMA
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EINSATZ MIT ERFOLG
DÄNEMARK Das Parlament verabschiedete am 17. Dezember 2020 ein Gesetz, das Sex ohne Zustimmung als Vergewaltigung definiert. Damit ist Dänemark das zwölfte Land in Europa, das seine Gesetzgebung anpasst. Bisher wurden viele Vergewaltigungen in Dänemark nicht angezeigt, weil die Chancen gering waren, die Täter vor Gericht zu stellen und zu verurteilen. Das dänische Justizministerium schätzt, dass jedes Jahr rund 11.400 Frauen Opfer einer Vergewaltigung oder versuchten Vergewaltigung wurden. 2019 wurden jedoch nur 1.017 Vergewaltigungen bei der Polizei angezeigt und nur 79 Täter verurteilt. Amnesty International in Dänemark hatte sich jahrelang dafür eingesetzt, die weitgehende Straflosigkeit bei Vergewaltigungen zu beenden. ���
Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen an den »Urgent Actions«, den »Briefen gegen das Vergessen« und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz Folter verhindert, die Freilassung Gefangener bewirkt und Menschen vor unfairen Prozessen schützt, zeigt unsere Weltkarte. Siehe auch: www.amnesty.de/erfolge
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PARAGUAY Die Behörden haben im November Maßnahmen zum Schutz von Bernarda Pesoa ergriffen und eine Untersuchung wegen eines Angriffs auf sie eingeleitet. Die Sprecherin einer indigenen Bevölkerungsgruppe war Ende Oktober im Gesicht und am Kopf verletzt worden, als neun Männer und Frauen sie angriffen. Pesoa setzt sich in ihrer Gemeinde Santa Rosa für Landrechte und für die Umwelt ein. Die Angreifer_innen stammten laut Pesoa aus einer Nachbargemeinde. Hintergrund ist eine geplante Eukalyptus-Plantage, die das Gebiet beider Gemeinden betrifft. Pesoa und andere Indigene lehnen das Projekt ab. Nach der Veröffentlichung einer Eilaktion von Amnesty ordnete ein Gericht Schutz für die IndigenenSprecherin an. Der Senat rief eine Dialogreihe ins Leben, zu der Amnesty eingeladen wurde.
ÄGYPTEN Am 3. Dezember wurden Gasser Abdel-Razek, Karim Ennarah und Mohamed Basheer freigelassen. Die Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation Ägyptische Initiative für persönliche Rechte (EIPR) waren zwischen dem 15. und dem 19. November von Sicherheitskräften festgenommen und im Tora-Gefängnis inhaftiert worden. Allem Anschein nach handelte es sich dabei um eine Vergeltungsaktion, weil die EIPR 13 westliche Diplomat_innen zum Austausch über Menschenrechtsthemen eingeladen hatte. Drei Tage nach der Freilassung entschied ein Gericht, private Konten der drei Männer einzufrieren. Außerdem wird weiter gegen sie wegen »Beitritt zu einer terroristischen Gruppe« ermittelt. Die Freilassung erfolgte nach internationalem Protest, an dem Amnesty beteiligt war.
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TOGO Am 17. Dezember 2020 wurden Brigitte Kafui Adjamagbo und Gérard Yaovi Djossou aus der Haft entlassen. Beide sind Mitglieder von Dynamique Monseigneur Kpodrzo (DMK), einem Zusammenschluss von Oppositionsparteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen. Sie waren am 27. und 28. November 2020 festgenommen worden, nachdem DMK zu einer friedlichen Demonstration in Lomé aufgerufen hatte. Mit der Kundgebung sollte gegen das umstrittene Ergebnis der Präsidentschaftswahl protestiert werden, das Präsident Faure Gnassingbé eine vierte Amtszeit ermöglicht hatte. Brigitte Kafui Adjamagbo und Gérard Yaovi Djossou wurden wegen »krimineller Verschwörung« angeklagt. Amnesty begrüßte die Freilassung und forderte die Behörden auf, die politisch motivierten Anklagen gegen sie fallen zu lassen.
AMNESTY JOURNAL | 02/2021
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MYANMAR Der japanische Bierhersteller Kirin hat im Februar 2021 angekündigt, seine Zahlungen an eine Militärfirma in Myanmar einzustellen. Betroffen sind Transaktionen zweier zu Kirin gehörender Bierproduzenten in Myanmar an die Myanmar Economic Holdings Public Company (MEHL), ein Unternehmen, das mit dem Militär des Landes verbunden ist. Die koreanische Bekleidungsfirma Pan-Pacific will mit MEHL ebenfalls nichts mehr zu tun haben. Die Geschäftsbeziehungen würden beendet, erklärte Pan-Pacific. Beide Firmen haben damit auf den im September 2020 veröffentlichten Amnesty-Bericht »Military Ltd.« reagiert, der Verbindungen zwischen Firmen und dem Militär in Myanmar aufzeigte. Das Militär wird von der UNO des Völkermords und anderer Kriegsverbrechen an der Minderheit der Rohingya beschuldigt.
EINSATZ MIT ERFOLG
MARKUS N. BEEKO ÜBER
Foto: Bernd Hartung / Amnesty
SAUDI-ARABIEN Die saudische Frauenrechtlerin Loujain al-Hathloul ist Mitte Februar aus dem Gefängnis entlassen worden. Sie war 2018 inhaftiert worden, weil sie sich für die Aufhebung des Fahrverbots für Frauen eingesetzt und das Ende der männlichen Vormundschaft gefordert hatte. Im Gefängnis wurde sie gefoltert, sexuell belästigt und in Einzelhaft gehalten. Ein Sonderstrafgerichtshof verurteilte Loujain al-Hathloul in einem unfairen Prozess wegen »Verschwörung gegen das Königreich« zu fünf Jahren und acht Monaten Haft. Vom Strafmaß wurden zwei Jahre und zehn Monate zur Bewährung ausgesetzt, sodass sie nun unter Auflagen freikam. Amnesty hatte ihre umgehende und bedingungslose Freilassung gefordert. ���
WANDELN DURCH HANDELN! Lego, Modellautos von Wiking und Corgi, das waren Fixsterne meines frühen Verbraucherlebens. Für sie drückte ich mir an Spielzeugläden die Nase platt, opferte mein Taschengeld. Ebenso leidenschaftlich pflegte ich eine »Negativliste«: »Esst keine Outspan-Apfelsinen – keine Früchte aus Südafrika!«, »Get the Shell out of South Africa«. So lauteten schon als Schüler verinnerlichte Grundsätze in Anbetracht des menschenverachtenden Apartheid-Regimes in Südafrika. Als Teenager schob ich mein Mofa lieber als »Shell zu tanken«, und noch heute mache ich, wo möglich, einen Bogen um die gelbe Muschel; das langjährige Gebaren von Shell in Nigeria trug nicht zur Rehabilitierung bei. Als Nelson Mandela 1994 Präsident in Südafrika wurde, war die Verantwortung von Unternehmen in globalen Wertschöpfungsketten Thema für eine weltweite Bewegung. Die »Clean Clothes Campaign« benannte Kinderarbeit in »Sweatshops« und setzte Textilunternehmen sowie Sportartikelhersteller unter Druck. Die Fairtrade-Bewegung wuchs. Naomi Klein prangerte in »No Logo« die Missstände einer globalisierten Wirtschaft an, die mehr Energie entfaltete, um Standards und Normen zu unterlaufen, als Menschen-, Kinder- und Arbeitnehmer_innenrechte zu stärken. Abkommen und Normen zum Arbeitsschutz und zu Arbeitnehmer_innenrechten wurden geschaffen. Seit 2011 formulieren UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte die Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten von Unternehmen. Doch es fehlen weiter gesetzliche Regelungen. »Wandel durch Handel« bleibt ein leeres Versprechen in einer Gegenwart mit Ausbeutung, Drangsalierung von Gewerkschaften und fehlendem Arbeitsschutz für Millionen Menschen. Kobalt und Coltan zeigen, wie Kinderarbeit und Raubbau an der Natur die Grundlage »moderner Zukunftsprodukte« wie Elektroautos oder Computer bleiben. Und unheilige Allianzen aus Firmen und autokratischen Regierungen offenbaren die Wirkungslosigkeit freiwilliger Selbstverpflichtungen der Wirtschaft. In der Pandemie wimmelt es von Firmenbekenntnissen zu Solidarität und Menschlichkeit. Aber während im globalen Süden Beschäftigte und ihre Familien besonders leiden und Amnesty dokumentiert, wie Menschen ohne Schutzvorkehrungen zur Arbeit gezwungen werden, schalten die Wirtschaft und der Wirtschaftsminister in den Rückwärtsgang und weichen den Entwurf zum »Lieferkettengesetz« auf: In der Krise könne man den Firmen nicht auch noch menschenrechtliche Mindestsorgfaltspflichten zumuten. Aber wer den Anspruch erhebt, aus der Corona-Krise zu lernen, wer wirklich für ein »build back better« eintritt, der kann sich mit diesem Entwurf nicht zufriedengeben: Es fehlen rechtlich verbindliche Regelungen zu menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten in der gesamten Wertschöpfungskette. Auch für Unternehmen mit weniger als 3.000 oder 1.000 Mitarbeiter_innen. Es braucht eine zivilrechtliche Haftung, die bei Verstößen auch Entschädigungen für Betroffene ermöglicht und erleichtert. In der Pandemie sollten wir nicht zaudern und wanken, sondern handeln und verwandeln. P.S.: Vor kurzem hat ein Gericht in Den Haag Shell zu Entschädigungszahlungen an nigerianische Bauern verurteilt und Schutzmaßnahmen eingefordert. Markus N. Beeko ist Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion.
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SPOTLIGHT
Foto: Stanislav Krupar / Stern / laif
44 TAGE KRIEG UM BERGKARABACH
Traumatisiert. Armenische Soldaten in einem Militärkrankenhaus in Stepanakert.
Tausende Tote und Geflüchtete nach etwas mehr als sechs Wochen Krieg. Das ist die Bilanz des bewaffneten Konfliktes zwischen Aserbaidschan und Armenien um die Region Bergkarabach. Der Krieg endete in der Nacht vom 9. auf den 10. November 2020 durch eine Waffenstillstandsvereinbarung, die unter Vermittlung Russlands ausgehandelt wurde. Vor dem Krieg lebten in Bergkarabach und in angrenzenden Regionen nach armenischen Angaben 148.000 Menschen. Wegen des Konflikts flüchteten 90.000 nach Armenien, 60.000 sind zurückgekehrt. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums in Baku wurden 2.783 aser-
Beide Seiten leugnen Angriffe auf zivile Gebiete und den Einsatz von Streubomben – trotz eindeutiger Beweise, die dies belegen. 8
baidschanische Soldaten getötet. Die Behörden in Eriwan nannten die Zahl von 3.450 getöteten armenischen Soldaten. Beide Konfliktparteien setzten international geächtete Streumunition ein und griffen Gebiete an, in denen sich Zivilpersonen aufhielten. Amnesty International dokumentierte den Einsatz von Streumunition und sprach von mindestens 18 Angriffen armenischer wie aserbaidschanischer Streitkräfte, bei denen mindestens 146 Zivilpersonen getötet wurden. Beide Staaten geben keine genaue Auskunft über vermisste und gefangene Soldaten und Zivilpersonen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
RUSSLAND GEORGIEN
ARMENIEN
ASERBAIDSCHAN
Eriwan TÜRKEI
Kaspisches Meer
Stepanakert
Baku
Goris
IRAN
Von Aserbaidschan zurückgewonnene Gebiete ab 1.12.2020 Gebiet, das nicht von Aserbaidschan kontrolliert wird – Grenze von Bergkarabach zu Zeiten der Sowjetunion
(EGMR) teilte auf Anfrage mit, Aserbaidschan habe die Gefangennahme von 40 Personen bestätigt sowie die Festsetzung einer Gruppe, die nach armenischen Angaben aus 62 Personen bestehe. Dem EGMR liegen aserbaidschanische Anträge vor, die 13 Personen betreffen, die sich in armenischer Gefangenschaft befunden haben sollen und von denen zwölf in ihre Heimat zurückgebracht worden seien. Amnesty analysierte 22 Videos, die Hinrichtungen, die Misshandlung von Kriegsgefangenen und Zivilpersonen sowie die Schändung von Leichen zeigen. Die Taten betreffen die aserbaidschanische und die armenische Seite.
EIN BERICHT VON AMNESTY INTERNATIONAL DOKUMENTIERT DIE TÖTUNG VON MINDESTENS
146 ZIVILPERSONEN.
AMNESTY JOURNAL | 02/2021
INTERVIEW
ZARUHI HOVHANNISYAN
»VIELE SIND IN EINER PREKÄREN SITUATION« Foto: Tigran Petrosyan
Die armenische Menschenrechtlein Zaruhi Hovhannisyan koordiniert Projekte der Frauenkoalition, einem Zusammenschluss von neun Frauenzentren und Menschenrechtsorganisationen in Armenien. Die 45-Jährige berichtet über Menschen auf der Flucht, Verbrechen im Krieg um Bergkarabach und zahlreiche Menschenrechtsverletzungen der Kriegsparteien. Interview: Tigran Petrosyan
Seit dem 10. November 2020 schweigen die Waffen. Welche Menschenrechtsverletzungen haben Sie während des 44-tägigen Krieges um Bergkarabach und danach dokumentiert? Uns liegen mehrere Berichte vor, die beweisen, dass Aserbaidschan Kriegsverbrechen begangen hat. (Anmerkung der Redaktion: Amnesty International hat Verletzungen des humanitären Völkerrechtes sowohl von armenischen als auch von aserbaidschanischen Streitkräften dokumentiert.) Das aserbaidschanische Militär nahm zivile Einrichtungen in Bergkarabach unter Beschuss: eine Schule, das Krankenhaus von Stepanakert sowie die Kathedrale von Schuschi. Außerdem setzte Aserbaidschan Streumunition in Bergkarabach ein, die zivile Opfer forderte. (Anmerkung der Redaktion: Nach Recherchen von Amnesty International trifft der Einsatz von Streumunition auch auf Armenien zu.) Weitere Menschenrechtsverletzungen begeht Aserbaidschan noch immer an armenischen Kriegsgefangenen: Demütigungen und Folter sind belegt, ebenso, dass die Todesstrafe verhängt wurde. Damit verstößt Aserbaidschan gegen das humanitäre Völkerrecht. Wie reagiert die internationale Gemeinschaft? Die UNO reagiert nicht ausreichend. UNICEF erklärte, dass Kinder in Aserbaidschan durch armenische Angriffe verletzt wurden. Das trifft zu. UNICEF hätte aber auch gegenüber der aserbaidschanischen Seite eine ähnliche Haltung einnehmen müssen. Leider ist das nicht der Fall. Vor dem Krieg wohnten in Bergkarabach und den umliegenden Regionen 148.000 Menschen. Von 90.000 Geflüchteten sind 60.000 zurückgekehrt. Viele suchen jedoch Schutz in Armenien.
SPOTLIGHT
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INTERVIEW
Kümmert sich die armenische Regierung denn um diese Menschen? Sie befinden sich in einer prekären Situation. Die Regierung definiert sie weder als Geflüchtete noch als Vertriebene oder Evakuierte, sondern als »spontan Umziehende«. Der armenische Staat will damit vermeiden, dass er diesen Menschen Rechte und Entschädigungen gewähren muss. Viele haben Bergkarabach und angrenzende Gebiete verlassen, weil sie gemäß der Vereinbarung zwischen Armenien, Aserbaidschan und Russland unter aserbaidschanische Kontrolle fallen. Es gab keine staatlich organisierte Evakuierung dieser Gebiete. Ganze Dörfer erhielten bis zum letzten Tag keine Auskunft von den armenischen Behörden, ob die Bewohnerinnen und Bewohner ihre Häuser verlassen müssen oder nicht. Sie wurden im Stich gelassen. Sie kritisieren häufig Menschenrechtsverletzungen der armenischen Armee. Welche Erkenntnisse haben Sie während des Krieges gewonnen? Auch dieses Mal missachtete das Verteidigungsministerium das Recht auf Leben seiner Soldaten und Freiwilligen. In Armenien besteht für Männer ab dem 18. Lebensjahr eine zweijährige Wehrpflicht. Wir haben von Fällen erfahren, in denen junge Männer, die erst seit acht oder zehn Tagen in der Armee waren, direkt in die erste Frontlinie geschickt wurden. In einem anderen Fall eröffneten zwei Abteilungen armenischer Freiwilliger das Feuer aufeinander, weil sie nichts voneinander wussten. Da nahm niemand seine Verantwortung ernst, Menschenleben zu schützen.
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TITEL
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AMNESTY JOURNAL | 02/2021
Gesundheit für alle Impfstoff gegen das Corona-Virus ist knapp. So knapp, dass sich die westlichen Staaten darum streiten. Das bedeutet für die meisten afrikanischen, asiatischen und amerikanischen Länder nichts Gutes. Sie werden teilweise Jahre auf Impfungen warten müssen. Können die UNO und NGOs für Impfgerechtigkeit sorgen? Nicht nur bei Covid-19, auch bei anderen Krankheiten wird schnell deutlich, dass Patient und Patent nicht so recht zueinanderpassen. Die Gesundheit aller ist in Gefahr.
Zeichnung: Lea Berndorfer
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Egoismus, der krank macht E
s ist ein dramatischer Appell, den das Pflegepersonal aus Manaus in die Welt schickte. »Sauerstoff, gebt uns Sauerstoff«, ruft eine Krankenschwester in der brasilianischen Metropole in ihre Handykamera. Seit die Infektionszahlen wegen einer neuen Mutation des Corona-Virus in die Höhe schießen, spielen sich in der Stadt im Amazonasgebiet, in der zwei Millionen Menschen leben, apokalyptische Szenen ab. Hunderte Patienten können nicht mehr versorgt werden. Es gibt fast keine freien Krankenhaus- und Intensivbetten mehr. Das Gesundheitssystem ist kollabiert. Weltweit steigen weiter die Fallzahlen, weit über hundert Millionen Menschen haben sich bereits angesteckt. Doch seitdem die ersten Impfstoffe zugelassen wurden, ist ein Ende der Pandemie in Sicht. In Europa, Nordamerika und anderen Teilen der Welt soll bald ein großer Teil der Bevölkerung eine Impfung erhalten. In wenigen Monaten könnte sich die Lage entspannen. Gänzlich anders verhält sich die Situation in einigen Staaten Südamerikas und Afrikas. Die schwächsten Staaten drohen vergessen zu werden. Dort werden Impfstoffe in diesem Jahr nur eingeschränkt oder gar nicht verfügbar sein, obwohl in vielen dieser Staaten die Zahl der Corona-Infektionen weiter hoch ist. Es ist zudem von einer hohen Dunkelziffer auszugehen, denn nur wenige Länder des globalen Südens sind in der Lage, flächendeckend Tests durchzuführen. Für Eritrea, Kamerun oder die Demokratische Republik Kongo liegen keine gesicherten Zahlen über Infektionen vor. In Konfliktgebieten wie in Teilen Äthiopiens existiert keine oder nur noch eine rudimentäre Gesundheitsversorgung. Wenig erfasst ist die Situation von Millionen von Flüchtlingen, die oft unter unmenschlichen Bedingungen leben müssen.
Eine Frage des Geldes Amnesty International und andere Nichtregierungsorganisationen wie Frontline, Global Justice Now und Oxfam haben sich im Bündnis People’s Vaccine Alliance zusammengeschlossen und warnen vor nationalen Alleingängen bei der Impfstrategie: Die Pandemie sei nicht zu Ende, wenn alle Menschen in Europa immunisiert seien, sondern erst, wenn das Virus weltweit besiegt sei. »Das Horten von Impfstoffen untergräbt die globalen An-
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strengungen, die sicherstellen sollen, dass alle Menschen überall vor Covid-19 geschützt werden«, sagt Maria Scharlau, Völkerrechtsexpertin bei Amnesty International. »Reiche Staaten haben gemäß des UN-Sozialpakts eine klare menschenrechtliche Verpflichtung, ärmere Länder dabei zu unterstützen, ihre Bevölkerung zu impfen.« Die gerechte und möglichst simultane Verteilung der Impfstoffe ist eine der zentralen Herausforderungen der Pandemie. Und sie ist auch eine Frage des Geldes, weil eine ausreichende Versorgung für viele Länder nur schwer zu finanzieren ist. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat deshalb zusammen mit der Globalen Impf-Allianz (Gavi) im April die Impfstoffplattform Covax gegründet, die mittlerweile von mehr als 190 Staaten unterstützt wird. Die Idee ist simpel: Staatliche und private Geldgeber zahlen in einen Fonds ein, der dank seiner gebündelten Marktmacht bessere Konditionen in den Verhandlungen mit den Herstellern erzielen kann. Die erworbenen Impfstoffe sollen anschließend an die teilnehmenden Länder geliefert werden, damit sie mindestens ein Fünftel ihrer Bevölkerung impfen können. Erklärtes Ziel von Covax ist es, dass bis Ende 2021 in allen Staaten weltweit das medizinische Personal und besonders vulnerable Bevölkerungsgruppen geimpft sind. Dafür soll das Kinderhilfswerk Unicef, das bereits zahlreiche Impfkampagnen etwa gegen Masern und Polio organisiert hat, im Auftrag von Covax bis Ende 2021 zwei Milliarden Impfdosen und eine Milliarde Spritzen einkaufen und in arme Länder ausliefern. Der Haken ist allerdings, dass Covax nur Impfstoff kaufen kann, der auch verfügbar ist. Seth Berkley, der Vorsitzende von Gavi, fordert die Produktion von weiteren fünf Milliarden Dosen in diesem Jahr, um »sicherzustellen, dass wir die Impfstoffe gerecht an jene verteilen können, die sie brauchen«. Covax allein könne eine zeitnahe und gerechte weltweite Verfügbarkeit von Impfstoffen nicht garantieren. Eine wesentliche Ursache für die mangelnde
AMNESTY JOURNAL | 02/2021
Zeichnung: Lea Berndorfer
Die Pandemie verschärft die weltweiten Ungleichheiten in bislang ungekanntem Ausmaß. Die schwächsten Staaten drohen beim Impfen vergessen zu werden. Von Anton Landgraf
GESUNDHEIT FÜR ALLE
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sen eingekauft, dass die internationale Kritik daran nicht abreißt. Wie andere Staaten bestellte sie 2020 vorsorglich große Mengen bei gleich mehreren Herstellern, weil noch nicht absehbar war, welcher Impfstoff tatsächlich eine Zulassung erhalten würde.
15 Milliarden Impfdosen benötigt
Zeichnung: Lea Berndorfer
Verfügbarkeit besteht darin, dass die reichen Staaten fast die gesamten lieferbaren Impfstoffe für dieses Jahr aufgekauft oder entsprechende Vereinbarungen mit den Herstellern getroffen haben. Nach Angaben von Oxfam hatten diese Länder sich im September 2020 bereits 51 Prozent der in nächster Zeit lieferbaren weltweiten Impfstoffmenge durch Exklusivverträge mit den Herstellern gesichert, obwohl sie gemeinsam nur 13 Prozent der Weltbevölkerung stellen. Dieser »Impfnationalismus« beruht auf umfassenden bilateralen Kaufvereinbarungen zwischen Unternehmen und einzelnen Staaten. Von den sechs Milliarden Dosen Impfstoff, die 2021 schätzungsweise produziert werden können, haben allein die USA mehr als zwei Milliarden für sich reserviert, die EU hat für ihre Mitgliedstaaten Verträge über eine Milliarde Einheiten abgeschlossen. Die kanadische Regierung hat so viele Impfdo-
Wie eine Recherche der People’s Vaccine Alliance belegt, sind ärmere Länder deswegen nur noch begrenzt in der Lage, ihre Bevölkerung vor Covid-19 zu schützen. Tatsächlich könnten 67 Länder, darunter Kenia, Myanmar, Nigeria, Pakistan und die Ukraine – Staaten, die weit mehr als zwei Millionen Covid-19-Fälle gemeldet haben – in diesem Jahr nur ein Zehntel ihrer Bevölkerung impfen. Schon jetzt zeigt sich eine gewaltige Diskrepanz: Bis zum 5. Februar wurden weltweit mehr als 108 Millionen Menschen geimpft, aber nur vier Prozent in den Ländern des Globalen Südens, die meisten davon in Indien. Von den ärmsten Ländern war nur Guinea in der Lage zu impfen: 55 Menschen. Angesichts begrenzter Produktionskapazitäten sind frei erwerbbare Impfstoffdosen in Milliardenanzahl frühestens wieder 2022 verfügbar. Setzt man für die Immunisierung zwei Impfungen voraus, würden weltweit 15 Milliarden Dosen benötigt. »Es wird vier bis fünf Jahre dauern, bis alle auf diesem Planeten die Impfung bekommen«, schätzte kürzlich Adar
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AMNESTY JOURNAL | 02/2021
Poonawalla, der Vorsitzende des indischen Großherstellers Serum Institute of India in der Financial Times. Für eine schnellere Versorgung könnte eine bessere globale Verteilung der Produktionsstätten sorgen, um an vielen Orten gleichzeitig Impfstoffe und medizinische Ausrüstung herzustellen. Nach Angaben von UNICEF werden derzeit nur 43 Prozent der weltweiten Kapazitäten zur Herstellung von Covid-19-Impfstoffen genutzt. Doch dafür müssten erfolgreiche Hersteller wie Biontech und Moderna ihr Wissen weitergeben. Dies ginge zum einen mit Lizenzen, die allerdings in dieser Phase von den Pharmaunternehmen selten vergeben werden. Unter bestimmten Voraussetzungen wären auch sogenannte Zwangslizenzen denkbar, dann müssten die Unternehmen eine Lizenz erteilen. Dafür wären jedoch umfangreiche Kriterienkataloge zu prüfen. Schließlich könnten die Patentrechte für Covid-19-Impfstoffe auch – für einen bestimmten Zeitraum – ausgesetzt werden. Indien und Südafrika haben im Oktober die Welthandelsorganisation (WTO) aufgefordert, das Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS) für medizinische Produkte mit Bezug auf Covid-19 für die Dauer der Pandemie auszusetzen. Der Schutz geistigen Eigentums behindere derzeit »eine rechtzeitige Versorgung mit bezahlbaren medizinischen Produkten«, heißt es in dem Antrag. WTO-Mitglieder sollten eine Ausnahmegenehmigung erhalten, damit Unternehmen vor Ort auf das eigentlich geschützte Patent der Impfstoffe und das dazugehörige technologische Wissen zugreifen und Impfstoffe herstellen können. Rund hundert Staaten haben sich mittlerweile dieser Forderung angeschlossen, ebenso 300 NGOs, darunter Amnesty International, zahlreiche Wissenschaftler und internationale Organisationen wie die WHO. Die EU, die USA und andere reiche Staaten, wie die Schweiz und Japan, lehnen den Vorschlag jedoch bislang ab. »Es ist nachvollziehbar, dass alle Staaten sich genug Impfstoff für ihre Bevölkerung sichern wollen«, sagt Maria Scharlau von Amnesty International. »Gleichzeitig müssen sie jedoch durch das zeitweise Aussetzen von TRIPS den Weg freimachen, damit mehr Impfstoff an viel mehr Standorten produziert werden kann. Ansonsten verletzen sie ihre Menschenrechtsverpflichtungen.« Die WHO und andere Organisationen drängen nun darauf, die Herstellung von Impfstoffen zu erleichtern. Bereits im Mai 2020 starteten Costa Rica und die WHO den Covid-19 Technology Access Pool (C-TAP) als freiwillige Plattform, um alle Daten, das Wissen und das geistige Eigentum zu bündeln und dann die Produktion und den Technologietransfer an andere potenzielle
WANN WIRD WO GEIMPFT? EINE PROJEKTION
bis März 2022 bis Juni 2022 bis Ende 2022 bis 2023. Quelle: The Economist Intelligence Unit
GESUNDHEIT FÜR ALLE
Von den ärmsten Ländern war nur Guinea in der Lage zu impfen: 55 Menschen. Produzenten nicht exklusiv zu lizenzieren. So könnten die Kosten gesenkt werden, und gleichzeitig würde die Verfügbarkeit von Impfstoffen erhöht. Die Plattform wurde in den vergangenen Jahren bereits erfolgreich angewendet, um Krankheiten wie HIV/Aids, Hepatitis C und Tuberkulose besser zu bekämpfen.
Zu wenig Beatmungsgeräte Doch während viele Staaten C-TAP unterstützen, stehen große Pharmafirmen der Forderung, geistiges Eigentum gesammelt freizugeben, ablehnend gegenüber. Der Vorstandsvorsitzende von Pfizer, Albert Bourla, bezeichnete die Idee als »Unsinn«. Ein baldiger Schutz vor Covid-19 ist jedoch dringender denn je, da die meisten ärmeren Staaten die Kranken kaum behandeln können. So standen zu Beginn der Pandemie für die rund 110 Millionen Menschen, die in Äthiopien leben, gerade mal 30 Beatmungsgeräte zur Verfügung, in Mosambik sind es rund 20 Geräte für 29 Millionen Menschen. Hinzu kommen gravierende mittelbare Folgen, sollte die Pandemie noch lange anhalten. Bereits jetzt ist nach Angaben des Bundesentwicklungsministeriums jeder zweite Job in Afrika gefährdet oder verloren gegangen. Weil der Lockdown in afrikanischen Ländern dazu geführt hat, dass Lieferungen von Nahrungsmitteln unterbrochen wurden und keine Medikamente mehr verteilt werden konnten, muss eine Hunger- und Armutskrise befürchtet werden. Auch die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass die extreme Armut dramatisch ansteigen wird. In dem Bericht »Global Humanitarian Overview 2021« heißt es, dass mindestens 235 Millionen Menschen weltweit Hilfe benötigen werden, weil es ihnen an Trinkwasser, Nahrungsmitteln und Sanitärversorgung mangelt. Das entspricht einer Steigerung um 40 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Bei der Vorstellung des Berichts warnte UNONothilfekoordinator Mark Lowcock vor neuen Hungersnöten: »Die reiche Welt kann nun das Licht am Ende des Tunnels sehen. In den ärmsten Ländern ist das nicht der Fall. Die Covid-19-Krise hat Millionen von Menschen in die Armut gestürzt und den Bedarf an humanitärer Hilfe in die Höhe schnellen lassen.« Nicht das Virus habe in den verwundbaren Ländern den größten Schaden angerichtet, sondern dessen Folgen: Nahrungsmittelpreise, die in die Höhe schnellen, sinkende Einkommen, überforderte Gesundheitssysteme, geschlossene Schulen. »Es handelt sich um die trostlosesten und dunkelsten Aussichten, was den humanitären Bedarf in der kommenden Zeit angeht, die wir jemals prognostiziert haben«, sagte Lowcock. »Wir sehen eine große Wende zum Schlechten. Das führt zu Instabilität, zu Konflikten. Die ganze Welt wird den Preis dafür bezahlen.« Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app
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»Es ist völlig undurchsichtig, welche Preise für Impfstoffe gezahlt werden« Corona-Impfstoffe sind teuer. Das muss nicht sein. Jörg Schaaber von der BUKO Pharma-Kampagne spricht über Impfgerechtigkeit und bezahlbaren Schutz für alle. Interview: Lea De Gregorio
Bedeutet Impfgerechtigkeit, dass reiche Länder zurückstecken müssen? Am Anfang ist der Impfstoff knapp. Und natürlich müssen manche Personengruppen warten. Wir müssen aber beachten, dass es Unterschiede gibt. Für ältere Menschen ist das Virus viel gefährlicher als für jüngere. Und für bestimmte Berufsgruppen, wie zum Beispiel medizinisches Personal oder Pflegepersonal in Heimen, ist eine Impfung besonders wichtig. Erst einmal sollten diese Gruppen überall auf der Welt versorgt werden. Es geht nicht, dass wir in den reichen Ländern Privilegien in Anspruch nehmen, die wir anderen nicht gewähren. Wie ließe sich Impfgerechtigkeit herstellen? Die wichtige Frage ist, wie viel Impfstoff überhaupt zur Verfügung steht. Das ist ein wichtiger Punkt, über den zu wenig geredet wird. Es ist ja nicht so, dass alle Fabriken, die technisch dazu in der Lage wären, die Impfstoffe auch herstellen dürfen. Die Patentinhaber entscheiden, wer sie produziert, und das führt zu einer unnötigen Verknappung von Impfstoffen. Amnesty International fordert, den Patentschutz für CoronaImpfstoffe zu lockern. Würde das die größten Probleme aus der Welt schaffen? Das ist ein wichtiger Schritt. Er würde ermöglichen, dass Impfstoffe auch von anderen Fabriken hergestellt werden kön-
»Die Menge an Impfdosen, die Covax zugesagt wurden, ist viel zu gering.« 16
nen. Der zweite Punkt ist aber der Technologietransfer. Einige Impfstoffe werden nach traditionellen Prinzipien hergestellt. Aber bei mRNA-Impfstoffen ist die Herstellung anders, da ist auch Technologietransfer wichtig. Auf der anderen Seite braucht man für den Aufbau einer solchen Produktion keine so riesigen Kapitalsummen und keine so langen Vorlaufzeiten wie für die traditionelle Impfstoffherstellung. Costa Rica hat vorgeschlagen, einen Patentpool für Covid-19Produkte aufzubauen. Der Vorschlag von Costa Rica umfasst nicht nur das Aussetzen der Patentpflicht, sondern schließt auch den Technologietransfer ein. Es geht darum, in unterschiedlichen Teilen der Welt Kapazitäten aufzubauen. Denn es kann nicht sein, dass arme Länder bei der Produktion von reichen Ländern abhängig bleiben. Ein Patentpool kann sehr erfolgreich sein, um ärmeren Menschen Zugang zu wichtigen Arzneimitteln zu verschaffen. Das zeigt das Beispiel HIV. Der Patentpool hat dazu beigetragen, dass heute rund zwei Drittel aller HIV-Positiven, die eine Behandlung brauchen, die auch bekommen. Das sah vor zehn Jahren noch ganz anders aus. Ein Patentpool würde genügen? Es geht auch um Geld. Man sollte nicht unterschätzen, wie günstig man Arzneimittel und Impfstoffe herstellen kann, wenn man keine übergroßen Gewinne erzielen will. Sicherlich gibt es noch nicht in allen Ländern die erforderlichen Produktionsmöglichkeiten. Aber in Indien oder Thailand ist die Pharmaindustrie relativ gut entwickelt und kann auch für andere arme Länder günstig produzieren. Nur ein Beispiel: Die Behandlung einer Person mit HIV kostet mit patentgeschützten Medikamenten ungefähr 10.000 USDollar im Jahr – mit generisch hergestellten Produkten 150.
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Die WHO versucht, mit dem Programm Covax eine faire Verteilung des Impfstoffes sicherzustellen. Was ist davon zu halten? Es ist ein Versuch, wenigstens die gröbsten Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Die Menge der Impfdosen, die Covax bisher zugesagt wurden, ist aber viel zu gering, um die Menschen im globalen Süden zu versorgen. Zudem handelt es sich vielfach nur um Versprechen. Während in Deutschland schon mehrere Millionen Menschen geimpft sind, ist es in Afrika derzeit noch kaum jemand. Die Afrikanische Union rechnet damit, dass es auch mit zusätzlich eingekauften Mengen zwei Jahre dauern wird, bis 60 Prozent geimpft werden können. Es ist außerdem völlig undurchsichtig, welche Preise für Impfstoffe gezahlt werden. Die reichen Länder stecken Milliarden Euro in Covax, und es ist grundsätzlich gut, dass sie bereit sind, etwas abzugeben. Aber wenn für die Impfdosen zu viel gezahlt wird, führt das zur Verknappung und letztlich zu mehr Profit für große Pharmafirmen.
Zeichnung: Lea Berndorfer
Ihre Kritik ist, dass große Konzerne unterstützt werden. Ja, das ist die Gefahr. Dass es um viel Geld geht, kann man daran sehen, dass die Aktienkurse der meisten Impfstoffhersteller rasant steigen. Und das Geld treibt die Forschung voran? Bei Corona werden enorme Anstrengungen unternommen, um Medikamente zu entwickeln, allerdings erst seit deutlich wurde, dass viele Menschen betroffen sind – auch in reichen Ländern. Man darf auch nicht übersehen, dass Staaten den Firmen enorm viel Geld für Forschung und den Aufbau der Produktion gegeben haben. Bei anderen Krankheiten sieht das völlig anders aus. So sterben zum Beispiel jedes Jahr weltweit 1,5 Millionen Menschen an Tuberkulose, obwohl man die Krankheit behandeln kann. Aber die jüngsten Medikamente für die Standardbehandlung sind über 50 Jahre alt. Dazu wird kaum geforscht, weil Tuberkulose fast ausschließlich ärmere Länder betrifft und keine großen Gewinne verspricht.
Foto: Roland Brinkmann
JÖRG SCHAABER
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Jörg Schaaber ist Soziologe und Gesundheitswissenschaftler. Er arbeitet für die BUKO PharmaKampagne. Das Bündnis befasst sich mit den Schattenseiten der globalen Arzneimittelversorgung.
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Patient vs. Patent Zahlreiche Organisationen fordern eine Aufhebung des Patentschutzes auf unentbehrliche Medikamente. Doch die Pharmaindustrie hält an ihrem lukrativen Geschäftsmodell fest. Von Uta von Schrenk
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andita Venkatesan und Phumeza Tisile überlebten, doch beide verloren ihr Gehör. Die Inderin Venkatesan erkrankte 2013, Tisile aus Südafrika 2010 an multiresistenter Tuberkulose. Die damals verfügbare Behandlung ging mit schweren Folgeschäden einher. Inzwischen gibt es zwar Bedaquilin, ein schonenderes Mittel gegen diese Form der Tuberkulose, die auf die Standardbehandlung nicht anspricht. Doch auf dem Medikament liegt ein Patent, und das macht es teuer, zu teuer für viele Erkrankte weltweit. Um anderen Betroffenen ihre Behinderung zu ersparen, haben Venkatesan und Tisile Anfang 2019 beim Patentamt in Mumbai die Patentverlängerung von Bedaquilin angefochten. Sie werden dabei von Ärzte ohne Grenzen unterstützt. Das Patent auf Sirturo, so der Markenname Bedaquilins, läuft in Indien 2023 ab. Durch ein weiteres Patent auf eine andere Darreichungsform des Präparats will der Hersteller Johnson & Johnson den Patentschutz bis 2027 verlängern. Dies würde die Produktion des Mittels als günstiges Nachahmerprodukt weiterhin blockieren – und so vielen Erkrankten eine Behandlung vorenthalten. Tuberkulose ist eine der Haupttodesursachen weltweit. Jährlich sterben 1,5 Millionen Menschen an der Krankheit. Und die Zahl der Patient_innen mit arzneimittelresistenten Formen nimmt zu. Eine »Bedrohung für die Gesundheitssicherheit«, schreibt die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Dass eine Behandlung mit dem von der WHO empfohlenen Bedaquilin pro Tagesdosis 1,5 US-Dollar und in manchen Ländern weit darüber kostet, sei »ein immenser Preis für die Heilung einer Armutskrankheit«, sagt Elisabeth Massute, politische Referentin bei Ärzte ohne Grenzen. Das Medikament muss über 24 Wochen eingenommen werden. So wurden der NGO zufolge im Herbst 2019 nur 20 Prozent der Patient_innen, die es bräuchten, mit Bedaquilin behandelt. »Patente töten«, heißt ein Aufruf der BUKO Pharma-Kampagne und der Organisationen medico international (Deutschland), Outras Palavras (Brasilien), People’s Health Movement und Society for International Development, die eine Aufhebung des Patentschutzes auf alle unentbehrlichen Medikamente fordern. »Die WHO schätzt, dass ein Drittel aller Patient_innen weltweit wegen hoher Preise und anderer struktureller Hindernisse keinen Zugang zu dringend benötigten Medikamenten hat«, schreiben die Initiatoren. Der Acess to medicine index, finanziert von der britischen und niederländischen Regierung sowie privaten Stiftungen und Fonds, geht von zwei Milliarden Betroffenen aus. Der Index hat 53 patentgeschützte Arzneimittel untersucht, die nach Angaben der WHO für die Weltgesundheit von besonderer Bedeutung sind. Laut Index ist zwar die Mehrheit der untersuchten Arzneimittel mit einer Zugangsinitiative verknüpft, sie werden also aus staatlichen Programmen oder von karitativen Organisationen (teil)finanziert. Doch seien diese Initiativen in »Umfang und Reichweite begrenzt« – sie gelten nur für eine Handvoll der ärmsten Länder. Das schließt Millionen arme Menschen in den Schwellenländern aus.
Zeichnung: Lea Berndorfer
Absurd hohe Preise Das Patentsystem der Pharmaindustrie belastet die weltweiten Gesundheitssysteme auf vielfältige Weise. Zum einen treibt es die Kosten immens in die Höhe. So wurde das Medikament Sofosbuvir, mit dem Hepatitis-C erstmals heilbar war, bei seiner Einführung 2014 als »Eintausend-Dollar-Pille« bekannt. Herstellen lässt sich das Medikament Schätzungen zufolge indes für weniger als einen US-Dollar pro Tablette. In Deutschland kostet
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die Therapie mit dem Sofosbuvir-Kombinationspräparat heutzutage immer noch rund 30.000 Euro. Unerschwinglich für Patient_innen in besonders betroffenen Ländern wie China, Brasilien, Ägypten oder der Ukraine. Diese haben daher eine Zwangslizenz erteilt. Die Therapie mit Generika kostet dort inzwischen weit unter 100 US-Dollar. Die Preise, die für patentgeschützte Medikamente teils aufgerufen würden, seien geradezu »absurd«, kritisiert Massute. »Ein Airbag kostet nicht Zehntausende Euro – und er rettet auch Leben.« Welche Bedeutung der Preis in der öffentlichen Gesundheitsversorgung hat, zeigen die Impfungen gegen Pneumokokken. Seit Ende 2019 ist ein neuer Impfstoff auf dem Markt, der um 30 Prozent günstiger ist als die bisher verfügbaren. Ein Preisunterschied auf Leben und Tod: Jedes Jahr sterben fast eine Million Kinder an Lungenentzündung, die durch diese Bakterien verursacht wird. Laut Ärzte ohne Grenzen könnten mit dem günstigen Serum mehr als 55 Millionen Kinder zusätzlich geimpft werden. Lobbyisten der Pharmaindustrie, wie etwa der Verband der forschenden Arzneimittelunternehmen in Deutschland, verteidigen hingegen den Patentschutz wegen der immensen Entwicklungskosten in Milliardenhöhe. »Deshalb sind Firmen darauf angewiesen, dass sie ihre erfolgreich entwickelten Medikamente auch eine Zeit lang allein vermarkten und so wieder Geld hereinholen können«, heißt es vonseiten des Verbandes. Das Kostenargument sei schwierig zu beurteilen, kritisieren NGOs. Denn die Firmen legten in der Regel nicht offen, was sie für die Entwicklung ausgeben. »Dieser Mangel an Transparenz untergräbt die Möglichkeiten von Regierungen und Kunden, faire Preise für lebenswichtige Medikamente auszuhandeln«, sagt Massute von Ärzte ohne Grenzen. 2019 wollte die Weltgesundheitsversammlung, das höchste Entscheidungsgremium der WHO, mit einer Resolution über mehr Transparenz zu fairen Medikamentenpreisen weltweit beitragen. Der Vorstoß wurde jedoch unter anderem von der deutschen Regierung blockiert. Hilfsorganisationen fürchten auch eine Fehlsteuerung in der Arzneimittelforschung infolge der immensen Gewinne, die sich mit patentgeschützten Medikamenten erzielen lassen: Entwickelt wird, was sich lohnt. Bedaquilin war mit einem anderen Medikament nach mehr als 40 Jahren die erste Innovation in der Behandlung der multiresistenten Tuberkulose. »Ohne eine grundlegende Änderung des bestehenden pharmazeutischen Forschungsmodells könnten künftig eher Arzneimittel für Verdauungsstörungen von Haustieren produziert werden, als Medikamente für Arme«, warnte Thomas Gebauer, Sprecher der Stiftung medico bereits vor Jahren. Die Initiativen, die hinter dem Aufruf »Patente töten« stehen, kritisieren das Patentsystem noch aus einem weiteren Grund: Es sorge dafür, »dass auch jene Medikamente hochpreisig gehalten werden, deren Entwicklung auf öffentlich finanzierter Forschung basiert«. So ergab eine unabhängige Analyse im
Es droht eine Fehlsteuerung in der Forschung: Entwickelt wird nur, was sich lohnt. 19
Auftrag der US-amerikanischen Gesundheitsinitiative Treatment Action Group, dass die öffentlichen Investitionen in die Entwicklung des Tuberkulosemittels Bedaquilin bis zu fünfmal höher waren als die von Johnson & Johnson selbst. Auch die »Eintausend-Dollar-Pille« gegen Hepatitis C basiert laut BUKO Pharma-Kampagne auf universitärer Forschung.
Fairer und schneller Zugang zu Arzneimitteln Was also tun? Zum einen lassen sich Patentrechte auf juristischem Wege einschränken oder aussetzen. Staaten können nach dem internationalen Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS) etwa Zwangslizenzen einfordern. Dafür muss ein nationaler Gesundheitsnotstand vorliegen. Oder sie können Medikamente aus einem Land importieren, in dem das Medikament günstiger ist. Dies ist aber nur legal, wenn der Hersteller in jenem Land seine Patentrechte beim Verkauf bereits geltend gemacht hat. »Für viele ärmere Länder sind diese Wege ein wichtiger Beitrag, um den Zugang zu unentbehrlichen Medikamenten zu erleichtern«, sagt die Rechtsanwältin Miriam Saage-Maaß vom European Center for Constitutional and Human Rights. Seit Jahren beteiligen sich viele Pharmaunternehmen an Arzneispenden und freiwilligen Patentpools wie dem Medicine Patent Pool, mit dessen Hilfe bereits die Versorgung Millionen
HIV-infizierter Menschen weltweit erschwinglicher wurde. Tine Hanrieder, Professorin für Health and International Development an der London School of Economics and Political Science, betrachtet freiwillige Patentpools und Arzneispenden jedoch lediglich als »karitative Notlösung«, wie sie in einem Zeitungsbeitrag schreibt. Die Wissenschaftlerin empfiehlt eine andere Strategie. Forschende und zivilgesellschaftliche Netzwerke hätten »längst eine Reihe von Modellen entwickelt, mit denen sich die Forschung und Entwicklung vom Patentsystem entkoppeln lässt, im Sinne des Gemeinwohls«. Dass das geht, hat die Drugs for Neglected Diseases initiative (DNDi) bewiesen, ein weltweiter Zusammenschluss von Forschungsinstitutionen. So hat die Initiative mit öffentlicher Finanzierung und in Zusammenarbeit mit dem Pharmakonzern Sanofi-Aventis das Malaria-Medikament ASAQ entwickelt. Es wird seit 2007 zum Selbstkostenpreis verkauft. Während die Pharmaindustrie Entwicklungskosten in Milliardenhöhe anführt, kann die DNDi nach eigenen Kalkulationen neue Wirkstoffe für 60 bis 190 Millionen Euro entwickeln und zulassen. Dass ein fairer und schneller Zugang zu Arzneimitteln für die gesamte Weltbevölkerung von vitalem Interesse ist, zeigt abermals der Fall Bedaquilin: Wissenschaftler_innen haben im vergangenen Jahr einen neuen Tuberkulosestamm identifiziert, der bereits auch gegen Bedaquilin unempfindlich ist.
Heilsamer Druck HIV-Medikamente waren einst unbezahlbar teuer. Nun gehören sie zu den bezahlbaren Massenprodukten. Wie es dazu kam. Von Malte Göbel Nicht nur Corona, auch Aids fing mit Lungenerkrankungen an: 1981 gab es Meldungen aus San Francisco über eine Krankheit, die Lungenentzündungen bei schwulen Männern auslöste. Berichte aus New York stellten eine hohe Rate an seltenem Hautkrebs fest, dem Kaposi-Sarkom. Im Juni 1982 wurde klar: Es handelt sich um ein neues Virus, das das Immunsystem lahmlegt. Es bekam den Namen »HI« für »Humane Immundefizienz«, die Krankheit nannte man »Aids«. Die medikamentöse Behandlung von HIV und Aids ist kompliziert: »Das liegt an der genetischen Vielfalt und raschen Veränderbarkeit der unterschiedlichen Virusstämme und den spezifischen Zielzellen, die sich das HI-Virus zur Vermehrung aussucht«, erklärt Peter Wiessner vom Aktionsbündnis gegen Aids, einem Netzwerk aus 300 Organisationen, die die HIV-Prävention, Behandlung, Betreuung und Pflege für alle Menschen weltweit verbessern wollen. »Seit 30 Jahren wird versprochen, dass ein HIV-Impfstoff in naher Zukunft liege. Doch alle erfolgversprechenden Ansätze stellten sich letztlich als erfolglos heraus.« Erfolgreicher als die Impfstoffsuche war es, die Vermehrung des HI-Virus im Körper zu bremsen. Dafür wurde 1987 als erstes Medikament das als Krebsmittel entwickelte AZT vorgestellt, ein Hoffnungsschimmer mit Einschränkungen: Die Nebenwirkungen waren hoch, viele Behandelte bildeten Resistenzen, die Behandlung kostete pro Patient und Jahr 10.000 US-Dollar. Den Durchbruch brachte 1996 die Entdeckung, dass die Kombination mehrerer Wirkstoffe erfolgreicher ist als ein einzelnes Medikament. Diese Antiretrovirale Therapie senkt die
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Viruslast im Blut unter die Nachweisgrenze, so dass Infizierte das HI-Virus nicht mehr weitergeben können. Das gilt jedoch nur, wenn regelmäßig Medikamente genommen werden. Aids ist damit zumindest im Westen zu einer beherrschbaren chronischen Erkrankung geworden. Seit 2015 wird in Deutschland jede bekannte HIV-Infektion antiretroviral behandelt. Auch die Kosten sind erschwinglicher geworden, vor allem durch Druck auf die Pharmaindustrie. Gruppen wie »Act Up!« in den USA zwangen die Firmen mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen, auf Teile ihres Gewinns zu verzichten. »Das war keine moralische Einsicht, kranken Menschen zu helfen«, erklärt Peter Wiessner. »Es war Zwang und die Angst vor Gesichtsverlust.« Südafrika drohte den Firmen 1997 damit, den Patentschutz für Aids-Medikamente außer Kraft zu setzen, um die Bevölkerung versorgen zu können. 2001 kam es zu einem Kompromiss mit den Pharmakonzernen, und die Mittel wurden billiger. Die Versorgung in Ländern des globalen Südens ist aber immer noch schlechter als im Westen: »Auch heute sterben jedes Jahr global 690.000 Menschen an Aids, zwölf Millionen Menschen mit HIV haben immer noch keinen Zugang zu lebensrettenden Therapien.« Neuartige Medikamente kommen zuerst im Westen zur Anwendung, ärmere Länder müssen warten. »Der Patentschutz, der für die Medikamente der neuen Generation besteht, trägt dazu bei, dass Menschen im globalen Süden oft nicht optimal versorgt werden können«, sagt Wiessner. Aktionsbündnis gegen Aids: www.aids-kampagne.de
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Auf Kosten anderer Um Geld zu sparen, verlagern westliche Pharmaunternehmen klinische Studien in ärmere Länder – nicht selten mit tödlichen Konsequenzen. Von Tobias Oellig
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evor ein Medikament oder ein Impfstoff zugelassen wird, ist es ein langer Weg. Der Vorlauf ist aufwändig, kostenintensiv und kann Jahre dauern. Klinische Studien an freiwillig Teilnehmenden sind ein unverzichtbarer Bestandteil, um das therapeutische Potenzial und mögliche Nebenwirkungen zu erforschen. Die Pharmaindustrie hat einen hohen Bedarf an freiwilligen Testpersonen, doch gibt es in der westlichen Welt viele Vorbehalte, was die Teilnahme an klinischen Studien angeht. Pharmafirmen weichen deshalb häufig in ärmere Länder aus, wo sie schneller und günstiger Teilnehmende finden. Die Durchführung der klinischen Studien wird dabei oft anderen Organisationen übertragen. Gesundheitsaktivist_innen kritisieren diese Praxis. Denn häufig finden die Studien in Ländern statt, in denen es keine gute Gesundheitsversorgung für die Bevölkerung gibt und medizinische Entscheidungen weniger hinterfragt werden. Durch den Druck, Ergebnisse liefern zu müssen, können Interessenskonflikte entstehen. Und wenn das Budget des durchführenden Krankenhauses davon abhängt, wie viele Menschen sich an der Studie beteiligen, kann es passieren, dass Sorgfaltspflichten verletzt werden, zum Beispiel, wenn es darum geht, über die Risiken aufzuklären.
Die Beispiele Indien und Nigeria In Indien, das sich nach dem Willen der Regierung zum führenden Pharmastandort Asiens entwickeln soll, war das im Jahr 2009 der Fall. Im Rahmen einer Studie erhielten 24.000 Mädchen eine Impfung gegen das humane Papillomavirus, das Gebärmutterhalskrebs verursachen kann. Durchgeführt wurde das Projekt von der US-amerikanischen NGO PATH (Program for Appropriate Technology in Health), der Impfstoff kam von GlaxoSmithKline und Merck. Während der Testphase starben mindestens sieben Mädchen. Ihr Tod stehe nicht in Zusammenhang mit der Impfung, betonten PATH und die indische Regierung; drei Mädchen seien an Malaria gestorben, eines nach einem Schlangenbiss, eines sei ertrunken, und zwei hätten Suizid begangen.
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Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss kam 2011 zu dem Ergebnis, dass die Versuche teilweise ohne korrekte Aufklärung und ohne die notwendige Aufsicht stattgefunden hätten. Zudem hätten in einigen Fällen Lehrer_innen die Aufklärungsbögen für ihre Schülerinnen unterzeichnet. Da die Fälle erst bekannt wurden, als die toten Mädchen beigesetzt waren, war eine genaue Untersuchung unmöglich. Bis heute sind die Vorfälle nicht restlos aufgeklärt worden. Auch ohne körperliche Verletzung oder Todesfolge kann eine Menschenrechtsverletzung vorliegen, nämlich bereits dann, wenn die Aufklärung mangelhaft war. So heißt es in Artikel 7 des UN-Pakts über bürgerliche und politische Rechte: Niemand darf »ohne seine freiwillige Zustimmung medizinischen oder wissenschaftlichen Versuchen unterworfen werden«. Mangelnde Aufklärung spielte auch bei einem Vorfall in Nigeria im Jahr 1996 eine Rolle, als dort im Bundesstaat Kano eine Meningitis-Epidemie wütete. Der US-Pharmahersteller Pfizer schickte Forscher, um das noch nicht zugelassene Antibiotikum Trovafloxacin (Trovan) zu testen. Im Zuge einer Studie wurden 100 Kinder mit dem Medikament behandelt. Mindestens fünf von ihnen starben, nach Angaben der Behörden in Kano sogar mehr als 50, andere erlitten Hirnschäden oder Lähmungen, wurden taub oder blind. In einem Gerichtsverfahren warfen die Kläger Pfizer vor, das Medikament ohne Einwilligung der Angehörigen getestet zu haben. Pfizer gab an, man habe »eine mündliche Einverständniserklärung eingeholt«. Im Laufe des Verfahrens kamen viele Ungereimtheiten ans Licht. Laut BUKO Pharma-Kampagne war der Prüfarzt ein »Strohmann für Pfizer-Forscher, die die Studie tatsächlich durchführten«. Außerdem sei die nigerianische Regierung, anders als von Pfizer behauptet, nicht über die Versuche informiert worden. Pfizer beharrte auf seiner These, die Todesfälle und Gesundheitsschäden seien nicht auf das Medikament, sondern auf die Meningitis-Erkrankung zurückzuführen. Nach jahrelangem Rechtsstreit einigten sich das Pharmaunternehmen und die Kläger 2011 außergerichtlich.
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Kranke ohne Lobby In entlegenen Regionen von Entwicklungs- und Schwellenländern leiden Menschen an sogenannten vernachlässigten Tropenkrankheiten. Muss das so bleiben? Von Heike Haarhoff
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ielleicht muss man mit der afrikanischen Schlafkrankheit beginnen, um zu begreifen, was auf dem Spiel steht. »Nur noch 1.000 Fälle«, ruft Heinz Hänel ins Telefon, in der Demokratischen Republik Kongo seien »es nur noch 1.000 gemeldete Fälle pro Jahr!« Ermutigend seien diese Zahlen, sagt Hänel, Euphorie in jeder Silbe. Er ist beim Pharmaunternehmen Sanofi für die Wirkstoffentwicklung gegen die Schlafkrankheit zuständig. In den 1990er-Jahren seien in dem afrikanischen Land jedes Jahr bis zu 35.000 neue Fälle diagnostiziert worden, von der Dunkelziffer ganz zu schweigen. Doch seit zwei Jahren gibt es Fexinidazol zur Behandlung der Schlafkrankheit, dieser tückischen, von der Tsetsefliege übertragenen Infektion, die das zentrale Nervensystem befällt. Die Erkrankung führt zunächst zu Schlaf-, Empfindungs- und psychiatrischen Störungen, später zu Krampfanfällen und Koma, schließlich zum Tod. Fexinidazol war der Durchbruch: Eine Tablette, billig zu produzieren, leicht zu transportieren, einfach zu schlucken. Ein Medikament, das es ohne Hänel nicht gäbe. Frühere Wirkstoffe konnten nur gespritzt werden, die Patientinnen und Patienten mussten oft tagelange Fußmärsche bis in die nächste Klinik auf sich nehmen, die Nebenwirkungen waren extrem, viele brachen die Therapie ab. Heute bleiben sie zu Hause, nehmen zehn Tage lang die Tabletten ein – und werden gesund. Insofern, sagt Hänel, sollte demnächst die Ausrottung der Humanen Afrikanischen Trypanosomiasis gelingen. So lautet die medizinische Bezeichnung der Schlafkrankheit. Normalerweise jedenfalls. Wäre da nicht Corona. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnt, dass die Covid-19-Pandemie das Engagement von Regierungen, Stiftungen, NGOs und Pharmaunternehmen zur Bekämpfung der sogenannten Neglected Tropical Diseases (NTDs) beeinträchtigen könnte. An diesen vernachlässigten Tropenkrankheiten erkranken fast ausnahmslos sozial marginalisierte Menschen in entlegenen Regionen afrikanischer und asiatischer Entwicklungs- und Schwellenländer. Julien Potet von Ärzte ohne Grenzen nennt sie die »Krankheiten für Patienten ohne Lobby«. Wer an diesen Tropenkrankheiten leide, gerate wegen der Priorisierung von Covid-19-Erkrankten ins Hintertreffen, beklagt die WHO. Ein weiteres Problem sei das hohe Corona-Infektionsrisiko, dem das Personal im Gesundheitswesen ausgesetzt sei. Zudem würden durch Flughafenschließungen und erhöhte Frachtpreise die Lieferketten für Medikamente unterbrochen. Bei der Schlafkrankheit besteht die Herausforderung darin, Menschen in schwer zugänglichen, manchmal auch umkämpf-
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ten Gebieten aufzusuchen, Erkrankte zu identifizieren und ihr Blut zu untersuchen, erklärt der Mediziner Achim Hörauf vom Deutschen Zentrum für Infektionsforschung. Heinz Hänel will sich dennoch nicht geschlagen geben. Es sei schon möglich, dass es wegen Corona länger dauern werde, sagt er. »Aber dass wir die Krankheit eliminieren, daran gibt es keinen Zweifel.« Es wäre ein Lichtblick im mühsamen Kampf gegen die vernachlässigten Tropenkrankheiten, von denen nach Angaben der Organisation Drugs for Neglected Diseases initiative (DNDi) mehr als eine Milliarde Menschen in 149 Ländern betroffen sind, die Hälfte davon Kinder. Weitere zwei Milliarden sind von diesen Krankheiten bedroht. Die Verläufe sind schleichend, sie gehen bei Jugendlichen mit Entwicklungsverzögerungen einher und führen bei Erwachsenen zu dauerhaften Behinderungen oder im schlimmsten Fall zum Tod. Eine weitere Konsequenz ist der wirtschaftliche Niedergang ganzer Regionen infolge der weiten Verbreitung der Krankheiten. Ein Teufelskreis für drei Milliarden Menschen, 38 Prozent der Weltbevölkerung, der durchbrochen werden muss.
Imagegewinn für Sanofi Die WHO hat gerade einen neuen Aktionsplan zur Bekämpfung der NTDs bis zum Jahr 2030 vorgestellt. Zuletzt formulierte sie 2012 das Ziel, bis 2020 zehn vernachlässigte Tropenkrankheiten unter Kontrolle zu bringen. Dies wurde nur zum Teil erreicht. Zurückgedrängt wurden Elephantiasis, viszerale Leishmaniose und afrikanische Schlafkrankheit; die Medinawurm-Erkrankung steht vor der Ausrottung. Der Kampf gegen Bilharziose, Flussblindheit oder die Chagas-Krankheit war weniger erfolgreich. »Die Gründe sind komplex«, sagt die Politikwissenschaftlerin Anna Holzscheiter, die am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin die Forschungsgruppe Governance for Global Health leitet. Das Budget der WHO lasse wenig Spielraum für autonome Schwerpunktsetzungen; die Entscheidungsmacht konzentriere sich auf wenige Konzerne und Stiftungen, die einzelne, sinnvolle Projekte förderten, selten aber zu nachhaltigen strukturellen Veränderungen beitrügen. Kaum ein Land des globalen Südens verfüge über Ressourcen, um aus eigener Kraft Auswege zu beschreiten, sagt Holzscheiter. »Das ist nicht nur eine Frage des Geldes.« Es mangele auch am wissenschaftlichen Know-how und an der Logistik, Arzneimittel herzustellen und zu verteilen. In abgelegenen Landesteilen gebe es weder Zugang zu sauberem Wasser noch zu medizinischer Basisversorgung, was jedoch Grundvoraussetzung im
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Hoechst stoppte die Forschung: unrentabel. Die Erkenntnisse landeten im Firmenkeller.
Zeichnung: Lea Berndorfer
Kampf gegen NTDs sei. Dieter Müller, Projektkoordinator Globale Gesundheit bei medico international, kann das bestätigen: »Gebraucht wird eine umfassende Gesundheitsvorsorge und -versorgung, gepaart mit Wissens- und Technologietransfer.« Tatsächlich könnten die meisten dieser Krankheiten durch Medikamente wirksam bekämpft werden, schreibt der Verband forschender Arzneimittelhersteller. »Doch für die Unternehmen ist die Erforschung dieser Medikamente weder attraktiv noch profitabel, weil die Menschen, die sie brauchen, sie nicht bezahlen können«, sagt Julien Potet von Ärzte ohne Grenzen. Und doch ist es im Fall der Schlafkrankheit gelungen, mit Fexinidazol ein neues, wirksames Medikament zur Zulassung zu bringen, das die Pharmafirma Sanofi auf eigene Kosten produziert und mit dem sie die Demokratische Republik Kongo gratis beliefert. Ist Sanofi plötzlich eine karitative Einrichtung? »I wo«, sagt Heinz Hänel. »Die Anfänge davon fanden heimlich statt.« 1979 machte Hänel, damals noch Biologiestudent, ein Praktikum bei der Hoechst AG, wie Sanofi früher hieß. Er erforschte Moleküle, die Parasiten wie den von der Tsetsefliege übertragenen Erreger Trypanosoma unter Kontrolle bringen sollten. Doch Hoechst stoppte die Forschung: unrentabel. Hänels Erkenntnisse landeten im Firmenkeller. Bis unabhängige, in der DNDi zusammengeschlossene Wissenschaftler Mitte der 1980er-Jahre Hänels frühe Arbeiten in einer Publikation entdeckten. Heimlich flog er in die Schweiz, seine alten Aufzeichnungen im Gepäck, und traf sich mit Vertretern der Initiative. Um herauszufinden, ob Hänels Tablette wirken würde, waren Studien nötig. Hänel wandte sich 1984 an die Stiftung von Bill und Melinda Gates, die danach viele Jahre lang zusammen mit weiteren privaten Geldgebern, der DNDi und staatlicher Unterstützung aus sieben europäischen Ländern, darunter Deutschland, die präklinische Entwicklung und klinische Studien finanzierte. Am 24. Dezember 2018 erteilte die europäische Arzneimittelbehörde Fexinidazol die Zulassung für außereuropäische Länder. Und die Rolle von Sanofi? »Ich habe gesagt: Es ist unser Molekül. Wir haben soziale Verantwortung. Es ist ein Imagegewinn.« Hänel lacht. Wenn das Beispiel Fexinidazol Schule macht, dann übernimmt nun auch mal die öffentliche Hand anstelle der Industrie die Suche nach neuen Substanzen gegen Infektionskrankheiten. Dies wäre ein Paradigmenwechsel.
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Diagnose Lepra. Mohammed Ali (Mitte), sein Sohn Rakib und die Ärztin Dr. Seela Kaju in der Aburoff-Klinik. Khartum im Dezember 2020.
Heilbar? Ja, aber nicht hier Ob Lepra oder Schwarzes Fieber: Im Sudan leiden Tausende Menschen an Krankheiten, die es anderswo schon längst nicht mehr gibt. Von Philip Malzahn (Text) und Johanna-Maria Fritz (Fotos), Khartum
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ehn Jahre lang war Mohammed Ali auf der Suche nach dem Grund dafür, dass er das Gespür für seinen Körper verliert. Dass er manchmal vergisst, seine Schuhe anzuziehen und mit aufgerissenen Füßen heimkommt. Ob der Boden kalt, heiß oder von spitzen Steinen übersät ist, macht für ihn keinen Unterschied. Nicht nur seine Füße, auch seine Hände sind steif, die Finger unbeweglich. »Meine starken Pranken, mit denen ich jahrzehntelang angepackt habe, sind nutzlose Stummel geworden«, so beschreibt er seinen Zustand. Am Ende einer zehnjährigen und kostspieligen Suche, die ihn in mehr als 50 Krankenhäuser führte, erfuhr Mohammed Ali schließlich im August 2020 von Dr. John Kulu, dass er Lepra hat. Seitdem befindet er sich in Therapie. Einmal im Monat fahren er und sein Sohn aus ihrem Dorf in der Provinz Weißer Nil mehrere Stunden mit dem Bus in die Hauptstadt Khartum. Dort holt er sich die nächste Dosis Tabletten ab, und Dr. John Kulu und seine Kollegin, Dr. Seela Kaju, untersuchen seinen Zustand. Dr. Kaju nimmt ihn mit nach draußen. Er soll sich in die Sonne stellen und erzählen, ob er die Strahlen auf seiner Haut spürt. Währenddessen untersucht Dr. Kulu sein Blut. Die 1990 gegründete Aburoff-Klinik in Khartum ist das einzige Lepra-Krankenhaus im ganzen Land. Der Eingang befindet sich in einer staubigen Seitenstraße im Nordosten der Stadt und wird nur von einem verrosteten Schild gekennzeichnet. Sie ist nicht auf Google Maps und anderen digitalen Karten verzeichnet. Und so finden nur die wenigsten dorthin. Finanziert wird die Aburoff-Klinik von der britischen Hilfsorganisation The Leprosy Mission. Für Großbritannien hat Mohammed Ali wenig übrig, doch in Anbetracht seiner Krankheit hat er keine Wahl, als sich von jenen helfen zu lassen, die einst über den Sudan herrschten. »Damals stand ich mit der Nationalfahne am Straßenrand und habe die Briten verabschiedet, als sie unser Land verlassen mussten«, erzählt er stolz. Sudan war von 1899 bis 1956 eine britische Kolonie; die Erinnerung an diese Zeit ist vor allem bei der älteren Generation noch sehr präsent. Rakib, Mohammeds Sohn, muss grinsen, während er seinem kranken Vater aus dem Stuhl hilft, weil er nicht allein aufstehen kann. »Seinen Humor hat er nicht verloren. Aber ich würde ihm nicht alles glauben. Manchmal ist er 70, manchmal sagt er, er sei 100. Manchmal hat er die Engländer schadenfroh verabschiedet, manchmal eigenhändig bekämpft und besiegt.«
»Die Medikamente sind teuer, und Sudan ist eines der ärmsten Länder.« John Kulu, Arzt die Krankheit sei besiegt. Im Jahr 2020 wurden aber weltweit erneut mehr als 200.000 Fälle registriert, die meisten davon in tropischen Gebieten. »Durch mangelnde Hygiene und bei geschwächtem Immunsystem, etwa in Folge von Mangelernährung, kann sich die Krankheit gut ausbreiten«, erklärt Kulu. Wie bei den meisten Krankheiten sei vor allem eine frühe Diagnose wichtig. Die aber werde erschwert: »Durch die lange Inkubationszeit, die mehrere Jahre dauern kann, durch mangelnde Aufklärung und vor allem dadurch, dass es kaum Zugang zu Medikamenten gibt.« Lepra ist heilbar – vorausgesetzt, man kommt an die richtigen Antibiotika. Je nach Krankheitsfortschritt und Verlauf dauert eine Therapie zwischen einem halben Jahr und zwei Jahren. Es werden mehrere Antibiotika gleichzeitig verabreicht, um zu verhindern, dass der Erreger während der langen Behandlungsdauer gegen ein Antibiotikum resistent wird. »Diese Medikamente sind teuer, und Sudan ist eines der ärmsten Länder der Welt«, erklärt Dr. Kulu. »Hinzu kommt, dass der Sudan 27 Jahre lang, bis Dezember 2020, als Terrorunterstützer auf der Sanktionsliste der USA stand.« Das Land hatte also nicht nur zu wenig Geld, um die Bevölkerung mit Medikamenten zu versorgen. Selbst wenn Geld da gewesen wäre, konnten Medikamente jahrelang wegen der Sanktionen nur als Spende über internationale Hilfsorganisationen in den Sudan gelangen. Der Schweizer Pharmakonzern Novartis ist der Haupthersteller von Anti-Lepra-Medikamenten. Die sogenannte MultiDrug-Therapie ist bislang nicht auf dem freien Markt erhältlich,
Reisekosten für zwei Personen Die Behandlung in der Klinik ist umsonst. Doch die monatlichen Hin- und Rückreisen kommen die Familie Ali trotzdem teuer zu stehen. Weil Mohammed es nicht allein schaffen würde, muss sein Sohn mitkommen. Das heißt: Reisekosten für zwei Personen. Der 31-Jährige verkauft normalerweise Ramsch am Straßenrand, während seine drei Brüder auf dem Feld arbeiten. Wenn nicht gerade Erntezeit ist, ist die Familie von den Tageseinkünften Rakib Alis abhängig. John Kulu sagt, so oder so ähnlich ergehe es den meisten Patienten, die die Klinik aufsuchen: »Lepra hat nicht nur gravierende Folgen für Körper und Geist des Patienten, sondern betrifft die ganze Familie. In manchen Gemeinden wird die komplette Familie des Kranken gebrandmarkt. Sie werden fortan völlig isoliert.« Lepra ist eine chronische Infektionskrankheit, ausgelöst durch sogenannte Mykobakterien, zu denen auch die Erreger für Tuberkulose gehören. Die Weltgesundheitsorganisation WHO gab im Jahr 2000 an,
GESUNDHEIT FÜR ALLE
Lepra ist heilbar. Mohammed Ali bei der Medikamenteneinnahme.
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so aus: »Die Auswirkungen der Krankheit sind gravierend, doch das Bewusstsein dafür ist gleich Null.«
Afrikanische Lösungen Lepra gilt als Neglected Tropical Disease (NTD), also als vergessene Tropenkrankheit. »Lepra ist die vergessenste aller Krankheiten, doch bei Weitem nicht die einzige«, sagt Mowia Mukhtar, Professor im Sudan und Experte für NTDs. »Die Liste ist lang: Es gibt Virenerkrankungen wie das Dengue-Fieber, bakterielle Infektionskrankheiten wie Lepra, Wurmerkrankungen wie Bilharziose und parasitäre Krankheiten wie Leishmaniose, auch Kala Azar oder Schwarzes Fieber genannt.« Der in den USA promovierte Wissenschaftler gründete mit zwei Kollegen im Jahr 1993 das Institut für endemische Krankheiten in Khartum, um »trotz Sanktionen und wirtschaftlichen Herausforderungen eigene, afrikanische Lösungsansätze zu entwickeln«, 200 Fälle von Lepra in nur einem Jahr. Dr. John Kulu in seiner Klinik in Khartum. sagt Mukhtar. »Kennzeichnend für NTDs ist, dass sie heilbar sind. Dass viele Menschen daran sterben, hat sondern wird nur über die WHO verteilt. 2015 hatte der Konzern strukturelle Gründe.« Als er und seine Kollegen das Institut versprochen, Medikamente im Wert von 40 Millionen US-Dollar gründeten, war der Sudan eine islamistische Diktatur und von über einen Zeitraum von fünf Jahren an die WHO zu spenden der Außenwelt abgeschnitten. »Ohne die Arbeit der NGOs wäre und so zum Kampf gegen Lepra beizutragen. Wie viele dieser die Situation heute viel schlimmer«, sagt er. »Doch jetzt bricht Spenden kommen in der Aburoff-Klinik an? »Für die Patienten, ein neues Zeitalter im Sudan an, und wir müssen das auch aus die wir behandeln, haben wir genug Tabletten. Viele schaffen es medizinischer und aus afrikanischer Sicht nutzen.« jedoch gar nicht erst zur Behandlung: Bis heute findet die geIm April 2019 wurde Präsident Omar al-Baschir, der 30 Jahre samte Behandlung einer tödlichen Krankheit für ein Land mit lang über das Land geherrscht hatte, nach mehrmonatigen Promehr als 40 Millionen Einwohnern in einer Klinik mit zwei testen vom Militär abgesetzt. Das Land wird nun von einer ÜberZimmern statt«, sagt Dr. Kulu. gangsregierung aus Militär und zivilen Kräften regiert. InnerNachdem Mohammed Ali mit der Untersuchung fertig ist, halb der nächsten drei Jahre soll es freie Wahlen geben. Im Zuge bekommt er seine Medikamente. Aus dem weißen Karton mit dem Logo von Novartis nimmt Seela Kaju eine Packung und gibt dieser Veränderungen wurden im Dezember 2020 auch die schwerwiegenden Sanktionen aufgehoben. sie Rakib Ali, der sie für seinen Vater aufbewahrt. Im Jahr 2020 Mukhtar hat ein klares Ziel vor Augen. »Im Mittelpunkt unbehandelten Kulu und seine Kollegin rund 200 Fälle von Lepra. serer Arbeit stehen Forschung und Aufklärung. Da es auf die Die Dunkelziffer liege jedoch weitaus höher. Dr. Kulu drückt es meisten Medikamente zur Behandlung von NTDs Patente gibt, versuchen wir auch auf andere Weise, diese Krankheiten zu bekämpfen und unsere Abhängigkeit zu reduzieren.« Im Sudan kommen auf 1.000 Einwohner etwa 0,4 Ärzte. In Deutschland sind es zehn Mal so viele. »Vor allem in armen und ländlichen Regionen, also dort, wo auch die meisten Krankheiten auftreten, ist es wichtig, dass die Bevölkerung lernt, Symptome zu erkennen«, sagt Mukhtar »Darauf müssen wir uns konzentrieren«, auch wenn die eigene Forschung ebenfalls wichtig bleibe.
Schwarzes Fieber
Leiden unter Kala Azar. Fatma und Fatma in der Klinik in Doka.
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Als beispielhaft für eine afrikanische Lösung gilt der Kampf gegen Kala Azar, auch Schwarzes Fieber genannt. Mukhtar betont, dabei seien die meisten Erfolge verzeichnet worden. 2010 übergab die Organisation Ärzte ohne Grenzen dem sudanesischen Gesundheitsministerium die Verantwortung für ein Programm gegen Kala Azar, das sie im Jahrzehnt zuvor aufgebaut hatte. Gleichzeitig eröffnete die Regierung eine Zweigstelle des Instituts für endemische Krankheiten in der Provinz Gadaref im Osten des Landes, fünf Stunden Autofahrtzeit von Khartum entfernt. Dort gibt es die meisten Fälle von Kala Azar. Denn der Hauptüberträger, die sogenannte Sandmücke, breitet sich dort
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17 Tage lang dauert die Therapie. Zweimal am Tag wird die Spritze verabreicht. wegen der starken Regenfälle im Herbst besonders stark aus. Die Region gilt als eine der ärmsten im Sudan. Das El-Hassan-Zentrum befindet sich mitten in der Savanne, nahe der Kleinstadt Doka, und behandelt ausschließlich Patienten mit Kala Azar. Gleichzeitig erforschen die Ärzte die Krankheit, die in verschiedenen Formen auftreten kann. »Die viszerale oder innere Leishmaniose ist die häufigste und auch die tödlichste Form. Sie greift die Organe an: zuerst die Leber, dann die Nieren und schließlich das Herz«, erklärt Dr. Ali Nureddin. Der Hofft auf ein neues Zeitalter. Dr. Mowia Mukhtar in Khartum. 28-Jährige arbeitet seit zwei Jahren im El-Hassan-Zentrum und »Natriumstibogluconat ist schädlich für die Venen und betreut gemeinsam mit fünf Kolleginnen und Kollegen 35 bis 40 kann dort zu Schwellungen und Entzündungen führen«, sagt Patientinnen und Patienten im Monat. Dr. Nureddin. Das seien jedoch notwendige Übel, die man für Die meisten Menschen in der Region kennen die Krankheit eine vollständige Heilung in Kauf nehmen müsse. Die struktumittlerweile gut und können Symptome selbst früh erkennen. rellen Probleme hinter der Krankheit sind für ihn viel schwer»Was Kala Azar angeht, haben wir das Wissen, diese Krankheit zu besiegen«, sagt Nureddin stolz. »99 Prozent der Patienten, die wiegender: »Kala Azar trifft am stärksten die ärmsten Menschen in den abgelegensten Regionen. Wenn sie nicht so unterzur Therapie kommen, werden geheilt. Es stirbt nur, wer schon ernährt wären und nicht unter mangelnden hygienischen Bevorher krank war oder keinen Zugang zu Medikamenten hat.« dingung leben würden, wären die Infektionsfälle und die WahrAuf die Frage, wie oft das noch vorkomme, muss Dr. Nureddin scheinlichkeit eines tödlichen Krankheitsverlaufs viel gerinkeine Sekunde überlegen: »Mehrmals im Jahr.« ger.« Hinzu komme, dass vielfach finanzielle Mittel zur MüViszerale Leishmaniose wird typischerweise mit hochtoxickenabwehr fehlten. schen Natriumstibogluconat-Spritzen behandelt, die die ParasiObwohl auch er wie die meisten sudanesischen Ärzte umgeten im Körper töten sollen. 17 Tage lang dauert die Therapie. rechnet nur 200 Euro im Monat verdient, möchte er weiter vor Zweimal am Tag wird die Spritze verabreicht. Der Sudan ist dabei von Hilfslieferungen der Weltgesundheitsorganisation WHO Ort arbeiten. »Wenn wir diese Menschen und ihre Krankheiten vergessen, werden sie sterben.« abhängig, denn der Stoff ist teuer. Die beiden Cousinen und Namensschwestern Fatma befinden sich seit elf Tagen unter der Obhut von Dr. Ali Nureddin. Sie sind 28 und 39 Jahre alt, kommen aus dem gleichen Dorf, ein paar Stunden vom Krankenhaus entfernt, und sind zur gleichen Zeit erkrankt. Als sie außer Fieber auch Schmerzen im Bereich der Leber bekamen, wussten sie, dass es Kala Azar war, und kamen ins El-Hassan-Zentrum. »Zum Glück geht es mir besser«, sagt die jüngere Fatma, die drei Kinder hat. Früher seien viele Menschen in ihrem Dorf daran gestorben, heute nur noch jene, die schon vorher alt und krank waren. Wenn sie keine Spritzen bekommen, verbringen die beiden Frauen die meiste Zeit im Garten der Klinik, wo sie mit anderen Patientinnen und Patienten gemeinsam kochen. Die Therapie ist wie die Krankheit – extrem schmerzhaft. Laufen, sitzen, alles tut weh. Beide Frauen spüren die typischen Nebenwirkungen des Medikaments: »Mir ist schlecht, schwindelig, ich habe Durchfall«, erzählt Fatma. Sie ist sichtlich erschöpft, und beide Beine sind angeschwollen. Erforscht Kala Azar. Dr. Ali Nureddin im El-Hassan-Zentrum in Doka, Dezember 2020.
GESUNDHEIT FÜR ALLE
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Die indische Regierung hat alle Bankkonten von Amnesty International Indien eingefroren. Amnesty musste deshalb die laufende Menschenrechtsarbeit unterbrechen und 138 Mitarbeitende freistellen. Die Behörden werfen Amnesty Indien vor, gegen das verschärfte Gesetz zur Finanzierung Jahr 2014 hat dessen Regierung vielen Nichtregierungsorganisationen die Erlaubnis entzogen,
Druck gesetzt. Menschenrechtsarbeit vor Ort ist deshalb gerade jetzt wichtiger denn je. Amnesty lässt sich nicht zum Schweigen bringen – Helfen Sie uns dabei und unterzeichnen Sie jetzt unsere Online-Petition. amnesty.de/indien
SCHÜTZEN SIE UNSERE MENSCHENRECHTSARBEIT IN INDIEN! Fordern Sie Premierminister Modi auf, die eingefrorenen Bankkonten von Amnesty Indien sofort wieder freizugeben und dafür zu sorgen, dass Amnesty sich ohne Repressalien für die Menschenrechte in Indien einsetzen kann.
POLITIK & GESELLSCHAFT
Unklare Perspektive. Alle Bilder zeigen Flüchtlinge im Lager Um Racouba im Sudan. Dorthin haben sich Tausende aus Tigray in Sicherheit gebracht.
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Vom Friedensnobelpreisträger zum Warlord Äthiopien befindet sich in einer tiefen Krise. Der Konflikt in der Region Tigray hat zu unzähligen Toten, Verletzten und Flüchtlingen geführt. Ministerpräsident Abiy Ahmed, der einstige Hoffnungsträger, setzt vermehrt auf Gewalt und Repression. Von Bettina Rühl (Text) und Andy Spyra (Fotos)
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Erstmal sicher. Ein Flüchtling aus Tigray zeigt Folterspuren am Hals.
Brot backen. Selbstversorgung im Lager Um Racouba.
Schulunterricht. Auch an die Kinder der Flüchtlinge wird gedacht.
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Berichte über sexuelle Gewalt, Massaker und andere schwere Menschenrechtsverletzungen in Äthiopien reißen nicht ab. Mehrfach haben die Vereinten Nationen gefordert, die Vorwürfe aufzuklären: Erst die UN-Hochkomissarin für Menschenrechte Michelle Bachelet, dann Ende Januar auch die UN-Sondergesandte für sexualisierte Gewalt in Konflikten, Pramila Patten. Sie reagierte auf Berichte über eine hohe Zahl mutmaßlicher Vergewaltigungen in der nordäthiopischen Stadt Mekelle. Nach mehrwöchigen Kämpfen hatten Truppen der äthiopischen Regierung die Hauptstadt der Region Tigray am 28. November 2020 eingenommen, in der bis dahin die Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) herrschte. Seitdem mehren sich Berichte über die Verfolgung von Teilen der Bevölkerung in Tigray, über die Festnahme von TPLFMitgliedern und über sexualisierte Gewalt. Zu überprüfen sind derlei Vorwürfe bisher kaum, die äthiopische Regierung gewährt weder Journalistinnen noch Vertretern der UNO oder Menschenrechtsorganisationen einen ungehinderten Zugang zu der Konfliktregion. Trotzdem gibt es deutliche Hinweise darauf, dass in Tigray schwere Verbrechen verübt wurden, zum Beispiel in der Stadt Mai-Kadra. Dort richteten Unbekannte in der Nacht vom 9. November mit Messern und Macheten ein Blutbad an. Amnesty-Recherchen belegen, dass sie dabei Dutzende, wenn nicht sogar Hunderte Menschen töteten. »Wir haben zahlreiche Foto- und Videoaufnahmen ausgewertet und digital überprüft«, berichtet Fisseha Tekle, Äthiopien-Experte von Amnesty International. Sie zeigen, wie in der ganzen Stadt Leichen gefunden und aufgebahrt wurden. Die Aufnahmen sind kürzlich angefertigt worden. Mithilfe von Satellitenaufnahmen konnte Amnesty verifizieren, dass die Morde tatsächlich in MaiKadra verübt wurden. Die Gesamtzahl der Opfer in Tigray könne zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht einmal geschätzt werden, sagt Tekle: »Die Krise dauert an, das betroffene Gebiet ist sehr groß, und das Geschehen unterscheidet sich sehr in den verschiedenen Regionen.« Auch die Täterschaft sei im Einzelfall bisher kaum zu bestimmen. Augenzeuginnen und Augenzeugen zufolge, die über die Grenze in den Sudan fliehen konnten, wurden die Verbrechen von einer Vielzahl von Täterinnen und Tätern verübt: von Soldaten der äthiopischen Armee, von Mitgliedern der TPLF, von eritreischen Soldatinnen und Soldaten sowie von Milizionären selbsternannter Selbstverteidigungsgruppen. Die Vereinten Nationen gehen von Tausenden Opfern aus. Extrem beunruhigend finden Amnesty International und die UNO auch die Situation der eritreischen Flüchtlinge in Äthiopien. Zehntausende von ihnen lebten bis zum Beginn der Kämpfe in vier Flüchtlingslagern in Tigray sowie in einem
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weiteren Camp und in mehreren Städten. »Im Sudan konnte ich mit mehreren Augenzeuginnen und Augenzeugen sprechen, die aus Lagern in Tigray kamen«, berichtet Tekle. »Sie erzählten, die eritreische Armee habe die Kontrolle über die Lager Shimelba und Hitsats übernommen und damit begonnen, die Flüchtlinge gewaltsam nach Eritrea zurückzubringen.« Die eritreische Armee hatte im November an der Seite Äthiopiens gegen die TPLF gekämpft. »Im Moment wissen wir nicht, wie viele zurückgebracht wurden«, sagt Tekle. »Denn denjenigen, mit denen wir sprechen konnten, ist schon relativ früh die Flucht in den Sudan gelungen.« Während die eritreische Regierung und das Büro des äthiopischen Ministerpräsidenten Abiy Ahmed die Vorwürfe zurückwiesen, räumte der stellvertretende Leiter der Agentur für Flüchtlinge und Rückkehrer der äthiopischen Regierung die gewaltsamen Rückführungen durch eritreische Soldatinnen und Soldaten gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters ein. Nach UN-Angaben sind seit Anfang November mindestens 56.000 Menschen aus Tigray in das Nachbarland Sudan geflohen.
Ein Hauch von Freiheit Die Gewalt konnte sich seit Anfang November so rasend schnell ausbreiten, weil die Krise schon lange schwelte. Was sie zuletzt befeuerte und Anfang November 2020 zum offenen Krieg führte, waren die Regionalwahlen in Tigray im September 2020. Eigentlich hätten im August in ganz Äthiopien Parlamentswahlen stattfinden sollen. Das neue Parlament hätte anschließend den Ministerpräsidenten bestimmt. Wegen der Corona-Pandemie
Mindestens 56.000 Menschen sind aus Tigray ins Nachbarland Sudan geflohen. wurde diese Wahl jedoch zunächst auf unbestimmte Zeit verschoben. Daraufhin beschloss die in Tigray herrschende TPLF, im Alleingang in ihrer Region wählen zu lassen. Anschließend warfen sich die Regionalregierung von Tigray und die Bundesregierung unter Abiy gegenseitig vor, keine Legitimität zu haben. Die Verschiebung der Parlamentswahl wegen der Pandemie war zwar nachvollziehbar, doch verschärfte sich dadurch die demokratische Legitimationskrise, in der sich Abiys Regierung befindet – ein gravierendes Problem angesichts der ambitionierten Reformen, die sich der Ministerpräsident bei seinem Amtsantritt vorgenommen hatte. Die Parlamentswahl und die anschließende Bestätigung durch das neue Parlament wären vor allem deshalb wichtig gewesen, weil Abiy sein Amt 2018 mitten in der Legislaturperiode übernommen hatte, nachdem sein Vorgänger Hailemariam Desalegn im Februar 2018 überraschend zurückgetreten war. Dem Rücktritt waren jahrelange landesweite Proteste vor-
An einer von mehreren Stationen. Flüchtlinge versorgen sich mit Wasser.
ÄTHIOPIEN
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DIE REGION TIGRAY IN ÄTHIOPIEN
ERITREA
SUDAN
Khartum Tigray Mekelle
Um Racouba
ÄTHIOPIEN SÜDSUDAN Addis Abbeba
ausgegangen, die vor allem von der größten äthiopischen Bevölkerungsgruppe getragen wurden, den Oromo, die etwa ein Drittel der insgesamt 105 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner stellen. Abiy übernahm als erster Oromo das Amt des Regierungschefs und galt zunächst als Hoffnungsträger. Er schlug einen anderen Ton an als die Vorgängerregierungen, die sehr repressiv gegen Kritikerinnen und Kritiker vorgegangen waren, und versprach weitreichende Reformen. Tatsächlich hat in Äthiopien kaum jemand in so kurzer Zeit so viele politische Veränderungen bewirkt wie Abiy: Seit der 44Jährige am 2. April 2018 zum Ministerpräsidenten ernannt wurde, hob er den lange geltenden Ausnahmezustand auf, erlaubte bis dahin verbotene Medien und Parteien, kündigte freie Wahlen an, ließ politische Gefangene frei, ging gegen Korruption vor und erhöhte den Einfluss von Frauen in Politik und Gesellschaft.
Friedensvertrag mit Eritrea Im Juli 2018 schloss Abiy einen Friedensvertrag mit dem Nachbarland Eritrea und beendete damit einen jahrzehntelangen Grenzkonflikt. Dem Krieg zwischen den beiden Ländern von 1998 bis 2000 waren schätzungsweise 100.000 Menschen zum Opfer gefallen. Im September 2018 wurde die lange geschlossene Grenze geöffnet, manche Familienmitglieder lagen sich zum ersten Mal nach 20 Jahren wieder in den Armen. Viele bejubelten die Versöhnung, und ein Jahr später erhielt Abiy Ahmed dafür sogar den Friedensnobelpreis. Doch der Kurs des neuen äthiopischen Regierungschefs stieß schon damals nicht überall auf Zustimmung, und ausgerechnet der Friedensschluss war ein Grundstein für den jetzigen Konflikt. Denn nachdem die TPLF jahrzehntelang in Äthiopien alles kontrolliert hatte, fühlte sie sich durch Abiy von der Macht verdrängt. Der neue Ministerpräsident hatte sie auch komplett außen vor gelassen, als er 2018 Frieden mit deren langjährigem Erzfeind Eritrea schloss. Nach Ansicht des norwegischen Friedensforschers Kjetil Tronvoll waren 2018 weder die TPLF noch der eritreische Präsident Isayas Afewerki zur Versöhnung bereit. Afewerki, der Eritrea seit Jahrzehnten diktatorisch regiert, unterhalte seit der Versöhnung aber freundschaftliche Beziehungen zu Abiy. »Sie haben das gemeinsame Ziel, die TPLF auszuschalten«, meint Tronvoll.
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Mit Abiys Amtsantritt begannen die Spannungen zwischen der Zentralregierung und der TPLF. Bis dahin war sie die stärkste politische Kraft innerhalb der regierenden Parteienkoalition EPRDF, seit 1991 hatte sie den Regierungschef gestellt und in dem Land mit seinen 80 verschiedenen Bevölkerungsgruppen ein Machtmonopol etabliert. Aber nicht nur die Spannungen mit Tigray wuchsen, in immer mehr Regionen eskalierten ethnische Konflikte, und Abiys Rückhalt schrumpfte. Selbst große Teile der Oromo gehen mittlerweile gegen »ihren« Ministerpräsidenten auf die Straße. Kern der Konflikte ist das Verhältnis zwischen dem Zentralstaat und den verschiedenen Bevölkerungsgruppen, zwischen der Hauptstadt Addis Abeba und den Regionen. Denn Abiy will den Staat stärker zentralisieren. Zwar soll Äthiopien seiner Vorstellung nach ein föderaler Staat bleiben, die Bevölkerungsgruppen sollen dabei aber eine immer kleinere Rolle spielen. Dagegen wollen die Aktivistinnen und Aktivisten fast aller Bevölkerungsgruppen mehr Autonomie und mehr Rechte als bisher. Der Kampf um die Machtverteilung im Staat bringt also nicht nur Regionen und Zentralregierung sondern auch einzelne Bevölkerungsgruppen gegeneinander auf. Vielerorts eskalieren die Spannungen. Hunderttausende Menschen wurden bereits vertrieben, Äthiopien droht an diesen Konflikten zu zerbrechen.
Zunehmend repressiv Der Druck der zahlreichen Krisen ist womöglich auch ein Grund dafür, dass Abiy sein Vorgehen gegen Oppositionelle und Andersdenkende inzwischen drastisch verschärft hat. Im Jahr 2020 klangen die Nachrichten aus Äthiopien schon wieder erschreckend vertraut: Ende Januar wurden nach Angaben von Amnesty International mindestens 75 Anhänger der Oromo Liberation Front (OLF) inhaftiert. Unter ihnen war auch die politische Aktivistin Chaltu Takele, die mit politischer Haft reichlich Erfahrung hat: Sie saß unter dem vorherigen Regime von 2008 bis 2016 im Gefängnis wegen Mitgliedschaft in der OLF, die damals als Terrororganisation eingestuft war. Kurz nach Abiys Amtsantritt 2018 wurde die OLF zwar zugelassen, die Regierung geht aber weiter gegen deren Anhänger und andere Oppositionelle vor. Seit einem Attentat auf ihn im Juni 2018 baute Abiy den Sicherheitsapparat um und setzte Menschen aus seinem Einflussbereich an entscheidende Positionen. Auch das weckt Erinnerungen an Regime, die sich nicht gerade durch demokratische Spielregeln auszeichnen. Ende Juni 2019 gab es im Regionalstaat Amhara einen Putschversuch, mit dem General Asaminew Tsige, ein amharischer Nationalist, vermutlich die historische Vorherrschaft der Amharen wieder herstellen wollte. In der Folge griff Abiy noch stärker auf den Sicherheitsapparat zurück. Trotz aller Widerstände setzte er den Umbau der äthiopischen Politik fort: Am 1. Dezember 2019 löste er die ehemalige Regierungspartei Revolutionäre Demokratische Front Äthiopischer Völker (EPRDF) auf und ersetzte sie durch die Wohlstandspartei (PP). Er wolle damit den ethnischen Nationalismus überwinden helfen, erklärte Abiy, denn in der PP werden die Mitglieder nicht mehr nach ihrer ethnischen Zugehörigkeit unterschieden. Dass die EPRDF jemals Geschichte sein würde, hatte noch Ende 2019 kaum jemand für möglich gehalten, immerhin handelte es sich um die bis dahin größte und reichste politische Partei Afrikas. Mut also hat Abiy Ahmed. Immer deutlicher aber zeigt sich, dass seine demokratischen Überzeugungen nicht allzu tief verankert sind.
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Kaffeezeremonie. Eine Frau aus Tigray wartet auf Gäste.
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»Wir wollen uns lebend«. Felipa Díaz demonstriert in Asunción.
Vergewaltigt und vergessen In kaum einem anderen lateinamerikanischen Land werden Minderjährige so häufig Opfer sexueller Gewalt wie in Paraguay. Doch der Staat lässt sie im Stich. Von Andrzej Rybak (Text und Fotos)
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Vor dem Parlament in der Hauptstadt Asunción sitzt eine Frau und trauert. Sie trägt ein schwarzes Kopftuch, und auch ihre Bluse und ihre Hose sind schwarz. »Ich trauere um die Mädchen, die sexuell missbraucht und getötet wurden«, sagt Felipa Díaz. In ihren Händen hält sie ein Plakat mit der Aufschrift »#VivasNosQueremos«, auf Deutsch: »#Wir wollen uns lebend«. Normalerweise demonstriert Díaz mit mehreren Gleichgesinnten. Doch die Corona-Pandemie sorgt auch in Paraguay für Einschränkungen. Hin und wieder laufen Menschen an Díaz vorbei – Abgeordnete und andere, die im Parlament arbeiten oder es besuchen. Manche werfen einen Blick auf das Schild. Andere tun so, als hätten sie Díaz nicht gesehen. Für sexuelle Gewalt an Kindern wollen sich viele in Asunción nicht interessieren. Derzeit tobt ein Streit über einen Aktionsplan für Kinder und Jugendliche von Jugendministerin Teresa Martínez, der die Gleichstellung von Mädchen und Jungen und die Aufnahme von Sexualerziehung in die Lehrpläne der Schulen vorsieht. Der Erzbischof von Asunción, Edmundo Valenzuela, religiöse Fundamentalisten und konservative Abgeordnete werfen der Ministerin vor, damit die Institution der Familie zu zerstören und die HomoEhe zu befürworten. »Das ist eine verlogene Hetze«, sagt Díaz. »Der Staat muss doch etwas tun, um seine Kinder vor Gewalt und sexuellem Missbrauch zu schützen.« Paraguay gehört seit Jahren zu den Ländern mit den meisten Fällen von sexueller Gewalt gegen Minderjährige in Lateinamerika. In keinem anderen lateinamerikanischen Land gibt es mehr Mädchen unter 14 Jahren, die schwanger werden. Abtreibungen sind in Paraguay jedoch selbst im Falle einer Vergewaltigung verboten. Nach Angaben der Koordinationsstelle für die Rechte von Kindern und Jugendlichen (CDIA) wurden 2019 täglich 20 Fälle von Gewalt gegen Kinder und Jugendliche gemeldet; in zwölf Fällen handelte es sich um sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen, die jünger als 16 Jahre alt waren. Von 2012 bis 2019 wurden demnach etwa 36.000 Kinder Opfer sexueller Gewalt. Sozialarbeiter schätzen, dass die Fallzahlen tatsächlich drei- bis viermal so hoch sind, da viele Fälle aus Scham oder Angst verschwiegen werden. »Diese Zahlen sind eine Schande für Paraguay«, sagt Ministerin Martínez. »Der Staat hat die Pflicht, seine Macht zu gebrauchen, um Kinder zu schützen, wenn ihre Familien versagen.« Offiziellen Angaben zufolge werden rund 80 Prozent aller sexuellen Gewaltdelikte von Familienmitgliedern verübt: von Vätern und Stiefvätern, Cousins, Onkeln und Brüdern.
»Wir leben in einer total verlogenen Gesellschaft.« Felipa Diáz, Menschenrechtsaktivistin Felipa Díaz kennt viele Kinder, die Gewalt und sexuellen Missbrauch erlebt haben. In der Stadt Capiatá, in der sie lebt, gehört Gewalt zum Alltag. »Die Männer lassen ihre Frauen und Kinder mittellos sitzen, die Frauen suchen neue Partner und haben mehr Kinder«, sagt die 67-jährige Aktivistin. »Die Stiefväter schlagen ihre Stiefsöhne und vergehen sich an ihren Stieftöchtern.« Die Kirche male das Bild einer heilen paraguayischen Familie, das mit der Realität wenig zu tun habe. »Wir leben in einer total verlogenen Gesellschaft«, sagt Díaz. Seit 20 Jahren kämpft sie für die Menschenrechte. »Das bin ich meinem Sohn schuldig«, sagt sie. Der junge Feuerwehrmann wurde 1999 auf der Straße in Asunción überfallen und erstochen. Obwohl die Polizei mehrere Hinweise auf die Täter erhielt, unternahm sie nichts. Die Mörder gehörten einer mächtigen Drogenbande an, die regelmäßig Schmiergeld an die Beamten zahlte. Díaz wollte etwas gegen die Ungerechtigkeit im Land unternehmen. Sie schloss sich Menschenrechtsgruppen an, trat Amnesty International bei und begann, ehrenamtlich für das Rote Kreuz zu arbeiten. Außerdem trennte sie sich von ihrem Ehemann, einem evangelikalen Pastor, der sie immer wieder geschlagen hatte. Ihre Verwandtschaft will nichts mehr von ihr wissen, weil sie die Rechte ihrer lesbischen Tochter verteidigt hat. »Bei uns werden Mädchen missbraucht, und niemand regt sich auf«, sagt Díaz. »Aber wenn Frauen lesbisch sind, ist der Teufel los.« Das gesellschaftliche Leben in Paraguay ist durch
Tiefverwurzelter Machismo Notwendig sei ein tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel, sagt Martínez. Man müsse dem tiefverwurzelten Machismo Einhalt gebieten, und sexuelle Belästigung dürfe nicht länger als Kavaliersdelikt gelten. Außerdem müssten Eltern verstehen, dass auch Kinder Rechte haben, stellt die Jugendministerin fest: »Viele Eltern sehen ihre Kinder immer noch als ihr Eigentum, so wie vor 100 Jahren.«
SEXUALISIERTE GEWALT IN PARAGUAY
Spricht von einer »Pandemie der Gewalt«. Anibal Cabrera.
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Etwa 47.000 Kinder und Jugendliche dienen heute noch fremden Familien. patriarchale Strukturen geprägt, deren Wurzeln weit in die Geschichte zurückreichen. Von 1864 bis 1870 führte Paraguay Krieg gegen Brasilien, Argentinien und Uruguay, der bis zu 80 Prozent der männlichen Bevölkerung das Leben kostete. Die überlebenden Männer wurden angehalten, mit mehreren Frauen möglichst viele Kinder zu zeugen. 1954 putschte sich der deutschstämmige Armeegeneral Alfredo Stroessner an die Macht. Während seiner 35-jährigen Diktatur wurden Tausende von Mädchen von den Militärs vergewaltigt. Diese Ereignisse hinterließen Spuren in der Gesellschaft. Heute werden viele Kinder von Verwandten oder Nachbarn missbraucht. Oft dann, wenn alleinerziehende Mütter sie in deren Obhut geben, um zu arbeiten.
»Eine Pandemie der Gewalt« »Die Lage hier ist schlimmer als in anderen Ländern Lateinamerikas«, sagt Anibal Cabrera. Er leitet die CDIA, in der sich alle paraguayischen NGOs zusammengeschlossen haben, die sich mit den Rechten von Kindern und Jugendlichen befassen. »Wir erleben eine Pandemie der Gewalt gegen Minderjährige, und die Regierung schaut weitgehend tatenlos zu.« Das Land hat die UNO-Kinderrechtskonvention 1990 ratifiziert, setzt sie jedoch nicht um. Es fehlen Kinder- und Jugend-
büros zur Prävention von Gewalt gegen Kinder, und es gibt nicht genügend Sozialarbeiter, Psychologen, Ärzte und Anwälte, die sich um die Betroffenen kümmern. »Wir brauchen einen soziokulturellen Wandel, wir müssen die Leitbilder und die Mentalität der Gesellschaft ändern«, sagt Cabrera. »Die Sexualerziehung in der Schule, die Gleichstellung von Mädchen und Jungen sind nur die ersten Schritte.« Seit etwa fünf Jahren sieht er leichte Anzeichen für einen Wandel. 2015 wurde ein zehnjähriges Mädchen schwanger, nachdem ihr Stiefvater sie vergewaltigt hatte. Obwohl der Arzt vor möglichen Komplikationen warnte, wurde das Mädchen gezwungen, das Kind auszutragen. Der Fall hat viele Menschen wachgerüttelt. Sie gingen auf die Straßen. »Als Reaktion darauf hat das Parlament die Strafe für Kindesmissbrauch auf 15 Jahre angehoben«, sagt Cabrera. »Bis dahin wurde Viehdiebstahl mit zwölf Jahren und die Vergewaltigung eines Kindes mit drei Jahren bestraft.« Die Regierung bemüht sich seither auch, das sogenannte »Criadazgo« zu beenden. Dabei handelt es sich um eine Praxis, bei der arme Menschen auf dem Land ihre Kinder in die Stadt schicken, um in wohlhabenden Familien zu arbeiten. Die Kinder bekommen dafür Essen und dürfen – zumindest theoretisch – die Schule besuchen. In der Praxis sieht das jedoch anders aus: Viele schuften den ganzen Tag. »Sie sind keine Hausangestellten, sondern Sklaven«, sagt Tina Alvarenga, die als Kind selbst in einer fremden Familie gearbeitet hat. »Viele Mädchen werden vom Familienvater oder seinen Söhnen vergewaltigt.« Zehn Jahre war Alvarenga alt, als ihre Eltern sie zu einer Familie nach Asunción schickten. Sie durfte das Haus der Familie nur durch den Dienstboteneingang betreten, aß in acht Jahren kein einziges Mal mit am Tisch. Sie trug gebrauchte Kleider und benutzte alte Teller und Geschirr. »Immerhin durfte ich die Schule besuchen, wurde nicht geschlagen oder missbraucht«, sagt die 58-Jährige heute. Sie kennt viele Frauen, die nicht so viel Glück hatten wie sie.
Musste wie eine Haussklavin arbeiten und hatte Glück im Unglück. Tina Alvarenga.
Will die Straflosigkeit beenden.
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»Leider werden indigene Mädchen nicht geschützt.« Bernarda Pesoa (siehe auch Seite 6).
Mit 18 Jahren wurde sie in die Freiheit entlassen. Sie studierte und forschte für die NGO Global Infancia über das Criadazgo-System. »Früher war das für Mädchen und Jungen aus ländlichen Gebieten unter Umständen die einzige Möglichkeit, eine Schulbildung zu erhalten«, sagt sie. »Im 21. Jahrhundert ist es aber definitiv an der Zeit, die Ausbeutung und den Missbrauch von Kindern zu beenden.« Etwa 47.000 Kinder und Jugendliche dienen heute in Paraguay noch fremden Familien – und erfahren dort häufig sexuelle Gewalt. Oft betrifft dies auch indigene Mädchen, die zur verwundbarsten Gruppe der paraguayischen Gesellschaft zählen. »Leider werden indigene Mädchen in Paraguay nicht geschützt – sie werden oft überfallen, vergewaltigt und getötet«, sagt Bernarda Pesoa aus Santa Rosa, einem Dorf, in dem Angehörige der indigenen Qom leben. »Wenn unsere Töchter mit dem Bus von der Schule kommen, werden sie deshalb immer von Erwachsenen an der Bushaltestelle abgeholt«, sagt Pesoa, die Mitglied der Organisation der ländlichen und indigenen Frauen (Conamuri) ist.
Rosalía Vega von Amnesty International Paraguay vor ihrem Büro.
SEXUALISIERTE GEWALT IN PARAGUAY
Korrupte Justiz Im Juni 2020 wurde ein zwölfjähriges Mädchen aus der indigenen Gemeinschaft Arroyo Cora tot aufgefunden – es wurde zuvor vergewaltigt. »Es gab Proteste im ganzen Land, doch dann legte sich die Empörung, und man tat so, als sei nichts gewesen«, sagt Pesoa. »Es gibt keine Gerechtigkeit in Paraguay: Der Staat tut nichts, um indigene Mädchen zu schützen. Ob sexuelle Gewalt oder Mord, die Fälle kommen nur selten vor Gericht und enden fast nie mit der Verurteilung der Täter.« Indigene erfahren in Paraguay kaum Schutz. Großgrundbesitzer und Agrarkonzerne versuchen immer wieder, sie von ihrem Land zu vertreiben – oft auch mit Gewalt. »Unsere Leute fliehen in die Stadt, Frauen betteln dort mit Babys in ihren Armen um Geld, Jungen putzen an den Kreuzungen Windschutzscheiben von Autos, Mädchen gehen auf den Strich«, sagt Pesoa. Doch haben sich indigene Bevölkerungsgruppen in den vergangenen Jahren zunehmend organisiert, um ihre Rechte einzufordern. Sie werden dabei auch von anderen gesellschaftlichen Gruppen unterstützt. »Der Kampf ist allerdings nicht leicht«, sagt Rosalía Vega von Amnesty International in Paraguay. »Menschen, die für Menschenrechte eintreten, werden von der radikalen Rechten und religiösen Fanatikern bedroht.« Vor dem Büro der Menschenrechtsorganisation fanden schon oft Proteste der Ultrarechten statt. »Sie warfen uns vor, Abtreibung und Perversion zu fördern, da wir gesellschaftliche Änderungen fordern und uns für die Rechte der Minderheiten einsetzen.« Amnesty Paraguay versucht Betroffenen auch vor Gericht beizustehen. »Die Justiz ist hier sehr langsam, teuer und oft korrupt«, sagt Vega. »Prozesse wegen sexueller Gewalt an Kindern dauern nicht selten vier bis fünf Jahre.« Viele Familien geben vorzeitig auf, um die Kinder nicht weiter zu traumatisieren. Und nur ganz wenige Täter werden verurteilt. »Wir müssen dieser Straflosigkeit in unserem Land ein Ende setzen«, sagt Felipa Díaz, die seit Stunden auf der Treppe vor dem Parlament in Asunción ausharrt. »Es wird dauern, aber steter Tropfen höhlt bekanntlich den Stein.«
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Vorsichtige Fortschritte Das Ausmaß der sexuellen Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Deutschland ist enorm. Doch in den vergangenen Jahren entstand eine neue Sensibilität für das Thema. Von Nina Apin Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ist in Deutschland weit verbreitet. Im Jahr 2019 wurden den Ermittlungsbehörden mehr als 13.000 Fälle gemeldet, das sind mehr als 35 pro Tag. Dazu kommen mehr als 12.000 angezeigte Fälle von Abbildungen sexueller Gewalt an Kindern, sogenannte Kinderpornografie. Das Dunkelfeld, also die nicht angezeigten Verstöße gegen das Recht auf die sexuelle Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen, schätzen Fachleute um ein Vielfaches höher. »Sexuelle Gewalt wird überall – und auch in Behörden – gewaltig unterschätzt«, sagt Rainer Becker, Ehrenvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe und ehemaliger Polizeidirektor. Lange gab es kaum Bewusstsein für das Thema. Der Begriff »Sexueller Missbrauch von Kindern« wurde erst 1973 im Strafgesetzbuch der Bundesrepublik eingeführt. In den 1980er-Jahren entstanden die ersten Beratungsstellen für betroffene Mädchen, später auch für Jungen. Eine öffentliche Debatte darüber wurde erst im Jahr 2010 angestoßen. Damals wurden zahlreiche Fälle von sexueller Gewalt öffentlich. Zuerst in verschiedenen kirchlichen Einrichtungen, dann in dem reformpädagogischen Internat Odenwaldschule, wo mehr als 500 Jungen und Mädchen Opfer systematischer sexueller Ausbeutung wurden. Es folgten weitere Skandale in Kinderheimen, Pfadfindergruppen, Freizeiteinrichtungen und Kindergärten. Der Haupttatort für sexuelle Gewalt bleibt jedoch die Familie: Rund 60 Prozent aller sexuellen Übergriffe finden im familiären Nahbereich statt, zwei Drittel der Betroffenen sind Mädchen, die Täter sind meist (Stief-) Väter, Großväter und Brüder. Laut einer neueren Studie hat etwa jede bzw. jeder siebte bis achte Erwachsene in der Kindheit und Jugend sexuelle Gewalterfahrungen gemacht. An den Folgen leiden die Betroffenen oft lebenslang, sie entwickeln Depressionen, Suchterkrankungen
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oder chronische Krankheiten und Bindungsunfähigkeit. Viele Betroffene sind später erwerbsunfähig. Expertinnen und Experten schätzen allein die wirtschaftlichen Folgekosten auf rund elf Milliarden Euro pro Jahr. Trotzdem wird weiterhin zu wenig getan, um Kinder und Jugendliche vor sexueller Gewalt zu schützen. »Wir wissen, wie wir Kinder schützen könnten, aber wir tun es nicht«, lautet das Fazit des Juristen Johannes-Wilhelm Rörig, der seit 2011 das Amt des Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs innehat. Vor allem im Bereich der Prävention sieht Deutschlands oberster Kinderschützer große Defizite. Nicht einmal 20 Prozent aller Schulen in Deutschland verfügen über ein Schutzkonzept, also einen Notfallplan für professionelles Vorgehen im Verdachtsfall. Auch in Kindergärten, Sport- und Freizeiteinrichtungen sind Konzepte für den vorbeugenden Kinderschutz noch keine Selbstverständlichkeit. »Alle Einrichtungen, die mit Kindern arbeiten, müssen sich zu präventiven Maßnahmen verpflichten«, fordert Georg Schäfer, Mitglied der Themenkoordinationsgruppe Kinderrechte von Amnesty International Deutschland. »Von der naiven Hoffnung, ›es wird schon nichts passieren‹, muss man sich verabschieden und akzeptieren, dass haupt- und ehrenamtliche Arbeit mit Kindern dadurch komplexer wird.« Die Ächtung von Missbrauchsabbildungen im Internet muss Priorität haben, sagt Schäfer.
Das Netz von Beratungsstellen und Therapieangeboten ist dichter geworden. AMNESTY JOURNAL | 02/2021
Foto: Guido Kirchner / dpa / pa
Schauplatz hundertfachen schweren Missbrauchs. Campingplatz in Lügde.
Notwendig seien außerdem entschlossene Aufklärung, therapeutische Maßnahmen für Betroffene, die Ahndung von Gewalttaten und der Schutz von Kindern vor Prostitution.
Spürbar bessere Forschung Doch bis dahin ist es noch ein langer Weg. Immer wieder kommt es zu fatalen Fehleinschätzungen staatlicher Kinderschutzstellen. So auch im Fall von Lügde, wo auf einem Campingplatz seit 1998 mehr als 40 Kinder von mehreren Männern missbraucht und dabei gefilmt wurden. Die polizeilichen Ermittlungen waren von so vielen Unregelmäßigkeiten begleitet, dass sich ein Untersuchungsausschuss des nordrhein-westfälischen Landtags mit dem Fall befasste. 2020 wurden in Münster knapp ein Dutzend Männer wegen schweren Missbrauchs beschuldigt – an den eigenen Kindern und Stiefkindern. Die zuständigen Jugend- und Sozialämter hatten zuvor gegebene Hinweise auf mögliche Kindeswohlgefährdung nicht ernst genommen. Die Aufklärung früherer Missbrauchsfälle kommt vielerorts nur schleppend voran. »Es gibt immer noch zu viele Verantwortliche in den Institutionen, die nicht die Notwendigkeit und den Wert von Aufarbeitung sexualisierter Gewalt erkannt haben«, sagt Sabine Andresen, die Vorsitzende der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, die 2016 vom Bundestag eingesetzt wurde. Besonders im kirchlichen Bereich würden Übergriffe zu selten aufgedeckt und geahndet. Laut einer von der katholischen Kirche in Auftrag gegebenen Studie von 2018 musste sich nur ein Drittel der aktenkundig gewordenen Täter einem innerkirchlichen Verfahren stellen.
SEXUALISIERTE GEWALT IN DEUTSCHLAND
Wenden sich Opfer nicht direkt an die Strafverfolgungsbehörden, haben diese kaum Zugriff, da die Kirchen in Deutschland eine rechtliche Sonderstellung genießen. Doch es gibt auch Fortschritte: Nach einer Reform des Entschädigungsrechts haben Opfer sexueller Gewalt besseren Zugang zu Geldzahlungen und Hilfsmaßnahmen. Die Forschungslage über Täter, Tatumstände und Folgen sexueller Gewalt an Kindern hat sich spürbar verbessert, das Netz von spezialisierten Beratungsstellen und therapeutischen Angeboten ist dichter geworden. Betroffene vernetzen sich in Selbsthilfe-Initiativen und haben mit dem Betroffenenrat eine einflussreiche Selbstvertretung auf politischer Ebene. Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs lässt Betroffene bei Anhörungen zu Wort kommen. »Es ist ein großer Erfolg, dass immer mehr betroffene Menschen die Kraft und den Mut aufbringen, über das in ihrer Kindheit und Jugend erlebte Unrecht zu sprechen – auch öffentlich und aus allen Tatkontexten«, sagt Sabine Andresen. Auf juristischer Ebene hat eine Reihe von Strafrechtsverschärfungen dazu beigetragen, dass sexuelle Übergriffe auf Kinder und Jugendliche höher bestraft werden. Ein neuer Gesetzentwurf sieht vor, dass Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Kindern nicht mehr als Vergehen, sondern als Verbrechen gelten – die mit bis zu 15 Jahren Haft bestraft werden können, dies gilt auch für Missbrauchsabbildungen. Außerdem will die Regierung Kinderrechte ausdrücklich in die Verfassung aufnehmen, um ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit und ihren Bedürfnissen besser Rechnung zu tragen.
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Weite Wege zu gehen. Bewohnerinnen des Quilombo Rio dos Macacos beim Wasserholen.
Vom Wasser abgeschnitten Im Osten Brasiliens wollen Nachfahren von Sklaven ihre traditionelle Lebensweise bewahren. Doch sie haben mächtige Gegner: Die Marine hat ihnen den Zugang zu ihren Gewässern untersagt. Von Christine Wollowski (Text) und Rafael Martins (Fotos), Salvador da Bahia
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Rosimeire dos Santos kommt immer am Rio dos Macacos vorbei, wenn sie nach Hause geht. Glänzend und klar liegt der aufgestaute Fluss zwischen Bäumen und Wiesen. Seit Kindertagen hat sie hier geangelt, gebadet, Wasser geschöpft. Die Bambusangelrute hängt noch in ihrer Küche, doch im Gefrierschrank liegen keine Fische mehr. Denn seit Oktober 2020 ist alles anders. Eine Richterin hat per einstweiliger Verfügung entschieden, dass sich kein Mitglied ihrer Gemeinschaft, der den konnte. In den 1960er-Jahren überschrieb die Regierung die Quilombolas vom Rio dos Macacos, dem Ländereien der Marine, die ganz in der Nähe die Militärbasis Fluss oder dem Stausee auch nur nähern von Aratu baute. Für deren Wasserversorgung im Notfall, so darf. Andernfalls droht ein Bußgeld von hieß es, errichtete sie eine Staumauer im Fluss. umgerechnet rund 150 Euro für eine PriAb 1971 wurde für Marineangehörige die Wohnsiedlung Vila vatperson und rund 8.500 Euro für die Naval da Barragem gebaut – und damit begann der Krieg. So Vereinigung, in der sich die Quilombolas zusammengeschlossen haben. Ihr Gegner klingt es zumindest in den Erzählungen der Quilombolas. »Soldaten überfielen unsere Häuser, rissen den Maniok aus unseist die brasilianische Marine. ren Pflanzungen und verprügelten uns, sogar Frauen und KinQuilombolas sind Nachfahren von Sklaven, die bis heute in ihren traditionel- der«, sagt Olinda Oliveira, die damals noch fast ein Kind war. Soldaten versteckten sich im Wald, um den Frauen aufzulauern, len Gemeinschaften leben. Die Vorfahren sie zu bedrängen oder zu vergewaltigen. »Wir mussten einen der Quilombolas vom Rio dos Macacos Ausweis tragen, der uns als ›Eindringlinge‹ kennzeichnete, und waren leibeigene Landarbeiter, Kakaoder jährlich zu erneuern war«, erinnert sich die heute 62-Jähripflücker, Köchinnen, Putzfrauen, Wäschege. Frei bewegen konnten sie sich trotzdem nicht. Wachposten rinnen und Kinderfrauen auf drei Plantaverweigerten Kindern, die zur Schule in die nächste Stadt wollgen im Großraum der Millionenstadt Salten, den Durchgang und hielten Ärzte auf, die Kranke im Quivador da Bahia im Nordosten Brasiliens. Lohn bekamen sie keinen. Allenfalls durf- lombo versorgen wollten, selbst in Notfällen. Manchmal verwehrten sie auch einem Anwalt oder Vertreterinnen einer NGO ten sie sich Lehmhäuschen auf dem Geden Zutritt. lände des Großgrundbesitzers bauen, zur »Wegen der Militärs konnte ich nicht die Schule besuchen«, Selbstversorgung im Fluss angeln und in stellt Rosimeire dos Santos in sachlichem Ton fest. Die 42-Jähriihrem Garten Maniok, Bananen und ange steht vor ihrem unverputzten Backsteinhaus, dessen Fenster dere Früchte anbauen. mit schweren Eisengittern gesichert sind. »Die sind notwendig, Selbstversorgung praktizieren sie bis heute. Ihre Pflanzungen sehen ähnlich aus wie die ihrer Vorfahren, aber anstelle der Lehmhäuser gibt es nun Backsteinbauten. Davor blühen Rosen und Nelken, hängen Mangobäume voller Früchte. Auf den Feldern sprießt Mais, üppige Bananenstauden stehen neben dunkelgrün leuchtenden Maniokpflanzen. Mit den Pflanzungen, den gewundenen Lehmwegen und den kleinen Häuschen wirkt der Quilombo, wie Siedlungen von Quilombolas genannt werden, wie ein idyllisches Überbleibsel aus alten Zeiten. Mehr als 200 Jahre lang lebten die Quilombola-Familien auf dem fruchtbaren Land vor den Toren der Großstadt Salvador, dort wo heute die Vorstadt Simões Filho beginnt. Der letzte Besitzer der Plantage Macacos, Coriolano Bahia, wollte ihnen die Parzellen, die sie seit Generationen bewirtschafteten, als späte Wiedergutmachung übereignen. Doch hatte er reichlich Steuerschulden beim Staat angehäuft und wurde deshalb 1916 enteignet, bevor die Schenkung offiziell registriert werDigitale Kommunikation gegen die Marine. Rosimeire dos Santos.
»Selbst mit Fenstergittern schlafe ich schlecht.« Rosimeire dos Santos hat Angst vor Soldaten
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weil die Soldaten nachts wiederholt in unsere Häuser eingedrungen sind«, sagt sie, und fügt hinzu: »Selbst mit den Gittern kann ich keine Nacht richtig schlafen.« Mehr als die Hälfte der einst 300 Familien sei in umliegende Stadtviertel gezogen, um den Aggressionen zu entgehen.
Marine gegen die Verfassung Es ist ein ungleicher Kampf, der bis heute kaum Öffentlichkeit findet. Auf der einen Seite bewaffnete Soldaten, Angehörige der angesehensten Klasse des brasilianischen Militärs, die in der acht Kilometer entfernten Militärbasis von Aratu regelmäßig den brasilianischen Präsidenten oder andere hochgestellte Persönlichkeiten empfangen. Auf der anderen Seite die Nachkommen von Sklaven, die kaum lesen und schreiben können, und die auf der Polizeiwache eingeschüchtert werden, wenn sie Anzeige erstat- Fühlt sich nicht sicher. Olinda Oliveira erlebt die Gewalt der Marine seit fast 50 Jahren. ten wollen. »Ein Gesprächstermin beim Gouverneur von Bahia könnte uns helfen, Sicherheit der Person, auf Gesundheitsversorgung und würdiaber leider antwortet er nicht auf unsere Anfragen«, sagt Rosigen Wohnraum von Angehörigen der Marine verletzt. meire dos Santos. Die Mitglieder der Quilombola-Gemeinschaft erzählen von Im Jahr 2009 erwirkte die Marine einen Gerichtsbeschluss, der sie ermächtigte, das Gelände – auch gewaltsam – zu räumen. Menschen, die verprügelt wurden, und anderen, die mangels medizinischer Versorgung ihren Krankheiten erlegen seien. Hunderte von Männern seien daraufhin in ihr Gebiet eingeBelegen können sie die Vorwürfe nicht. Auf Nachfrage gibt die drungen, hätten ihre Waffen auf die Quilombolas gerichtet und Presseabteilung der 2. Division der Marine an, es seien seit siederen Häuser beschädigt, erzählt Rosimeire dos Santos. »Unter ben Jahren keinerlei Gewalttaten verzeichnet worden. Ältere Fälden Richtern gibt es viele, die selbst Grundbesitz geerbt haben – le seien ordnungsgemäß verfolgt worden. Man habe alle Anträdas beeinflusst deren Entscheidungen«, kommentiert die Ange auf Medikamentenlieferungen und medizinische Versorgung wältin Adriane Ribeiro, die die Gemeinschaft der Quilombolas im Quilombola-Gebiet bewilligt, allein im Dezember 2020 sei unterstützt. Nach dem Räumungsurteil suchten die Bewohnedies in 69 Fällen geschehen. rinnen und Bewohner der Gemeinschaft vom Rio dos Macacos Die Anwaltsvereinigung führt dagegen an, dass zum Beispiel Hilfe, allen voran Rosimeire dos Santos und Olinda Oliveira, und im August 2020 nachts bewaffstießen auf die ATR, eine Anwaltsvereinigung, die sich vor allem nete Soldaten in das Gebiet der mit Landrechtsfragen beschäftigt, und der auch Adriane Ribeiro Quilombolas eindrangen. Desangehört. wegen sei Anzeige bei der PoliLaut brasilianischer Verfassung aus dem Jahr 1988 haben zei erstattet worden, bislang jeNachfahren von Sklavinnen und Sklaven sowie deren Gemeindoch ohne Folgen. Und mitten schaften ein Anrecht auf Besitztitel für das von ihnen bewohnte in der Corona-Pandemie wandLand. Anthropologen des Instituts für Landreform (INCRA) ten sich Mitarbeiter des staatuntersuchen, ob die jeweiligen Ansprüche berechtigt sind und lichen Gesundheitsdienstes an vermessen die Gebiete. die Gesundheitsbehörden in »Der Landbesitz ist ein Mittel, um neben dem reinen ÜberBahia und beschwerten sich, leben die kulturelle Identität der Quilombolas zu garantieren«, dass sie Schwierigkeiten hätten, erklärt die Anwältin. Ursprünglich sollten alle traditionellen in den Quilombo zu gelangen. Gebiete binnen sechs Jahren nach Verkündung der Verfassung Die Gemeinschaft wünscht vermessen und eingetragen sein. Tatsächlich sind bis heute nur sich dringend einen eigenen, wenige Prozent offiziell überschrieben. »Die Politiker sorgen von der Marine unabhängigen nicht dafür, dass die Gesetze eingehalten werden«, sagt Adriane Eingang für ihr Gebiet. Die MaRibeiro. rine erbot sich, diesen Zugang Im Jahr 2015 bestätigte das Gutachten des INCRA, dass der zu bauen, im Gegenzug sollte Quilombo Rio dos Macacos 301 Hektar umfasst. Doch müssen die Gemeinschaft aber dem sich die Bewohnerinnen und Bewohner bis heute identifizieren, Bau einer Mauer zustimmen, wenn sie an der Wache der Militärsiedlung vorbei wollen, und die sie endgültig von allen Wasnicht immer werden sie durchgelassen. Die Bewegungsfreiheit serläufen und Quellen trennen sei nicht das einzige Grundrecht, das man ihnen vorenthalte, würde. Die Quilombolas schluberichten sie. Auch dass man ihnen den Zugang zum Wasser gen das Angebot aus und blieverwehre, sei lebensbedrohlich. Zudem würden ihre Rechte auf
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ben so abhängig von der Zufahrtsstraße durch die Militärsiedlung und den Durchfahrtsgenehmigungen.
»Keinen Zentimeter« Land für Quilombolas oder Indigene Das Sekretariat für ethnische Gleichberechtigung des Bundesstaates Bahia plant seit Jahren Infrastrukturprojekte und Sozialbauten und hat dafür umgerechnet mehr als eine Million Euro zur Verfügung. Doch die Quilombolas wohnen weiterhin in unverputzten Häusern, die lediglich einen Estrichboden haben und keinen Wasseranschluss. Es gibt weder eine Schule noch eine Gesundheitsstation auf ihrem Gebiet. »Das Verteidigungsministerium erlaubt keinen Transport von Baumaterialien«, heißt es aus dem Sekretariat für ethnische Gleichberechtigung. Die Marine behauptet hingeben, man habe sich dem Wohnungsbau im Quilombo nie entgegengestellt. Wie so oft in diesem Konflikt steht Aussage gegen Aussage. Tatsache ist: Die Kinder laufen täglich fünf Kilometer zu Fuß bis zur nächsten Schule und ebenso viele wieder zurück. Die Frauen füllen ihre Eimer an einer weit entfernten Wasserstelle, zu der ein steiler Pfad führt. Am Stausee, wo sie immer Fische gefangen haben, verkündet ein weißes Schild mit großen Lettern: »Eigentum der Marine«. Für eine wie auch immer geartete Nutzung des Wassers durch die Quilombolas gebe es keine Beweise, erklärt die Marine. Rechtsanwältin Ariane Ribeiro sagt: Die traditionelle Nutzung des Stausees und der Flüsse durch die Quilombolas sei in einem Dokument belegt, das als Grundlage für die Vermessung des Gebiets durch das INCRA dient. Ribeiro hatte sofort Einspruch gegen die einstweilige Verfügung eingelegt, doch der wurde bereits abgelehnt. Jetzt warten die Quilombolas auf eine Neubeurteilung der Entscheidung durch mehrere Richter. Einen Erfolg konnten sie schon verzeichnen: Im Juli 2020 erhielten sie den Landtitel – zwar nur über 104 Hektar anstatt über 301, doch unter einem Präsidenten, der angekündigt hatte, er werde »keinen Zentimeter« Land
»Viele Richter haben selbst Grundbesitz, das beeinflusst.« Adriane Ribeiro, Anwältin an Quilombolas oder Indigene überschreiben, kann dies durchaus als Erfolg gewertet werden. Eine Nachfrage, warum der Besitztitel sechs Monate später noch nicht im Grundbuch eingetragen ist, lässt die zuständige Notarin unbeantwortet. Der Lehmboden leuchtet golden in der Abendsonne. Aus Rosimeires dos Santos’ Haus duftet es nach gekochten Süßkartoffeln vom eigenen Feld. »Wir werden nie aufhören zu kämpfen«, sagt sie mit Nachdruck, »unsere Eltern haben diese Welt für uns bewahrt, und wir werden sie für unsere Kinder verteidigen.« Der Weg vor ihrem Haus, der am Tag sehr belebt war, ist jetzt ausgestorben. »Nachts verstecken sich Soldaten im Wald hinter dem Haus«, sagt Rosimeire dos Santos. »Sie tragen schwarze Kapuzen über dem Kopf und sind bewaffnet.« Von einer NGO bekamen die Quilombolas Spenden, um Kameras und Straßenlaternen auf dem Weg aufzustellen. Die Finanzmittel der Gemeinschaft sind knapp, die meisten Familien leben von den Erträgen ihrer Felder. Rosimeire dos Santos verlässt das Haus nie allein, selbst dann nicht, wenn sie nur im Quilombo unterwegs ist. »Ich weiß, dass sie mich aus dem Weg haben wollen«, sagt sie. »Schützen kann mich eine Begleitperson auch nicht, aber immerhin kann sie mit dem Handy filmen, falls etwas passiert.« Dann schließt sie die Türen und die Eisengitter, legt den Riegel vor und dreht den Schlüssel im Vorhängeschloss.
»Eigentum der Marine«. Die Bewohner des Quilombos müssen ihr Wasser woanders holen. Zum Glück gibt es noch eine Quelle, aber sie ist nicht in der Nähe.
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Digitale Davids Gewinnmaximierung ist den großen Internetkonzernen wichtiger als der Datenschutz und die Privatsphäre der Nutzerinnen und Nutzer. Das Vertrauen in die Marktführer schwindet. Alternativen werden immer beliebter. Von Tobias Oellig Ob Messenger, Suchmaschine oder Navigation: Viele Onlinedienste sind auf den ersten Blick kostenlos. Bezahlen lassen sich große Plattformen wie Facebook, WhatsApp, Google und Twitter ihre Angebote trotzdem: Sie sammeln Unmengen an Daten über ihre Nutzerinnen und Nutzer. Die Lücken im Datenschutz gehören zum Geschäftsmodell, denn personenbezogene Daten sind viel wert. Mit ihnen können zielgerichtete Werbeplätze verkauft werden.
Die Nutzung kostenfreier Onlinedienste hat also einen hohen Preis: den schleichenden Verlust des Privaten. Dabei ist der Schutz der Privatsphäre ein wichtiges Menschenrecht. Es umfasst die informationelle Selbstbestimmung – also das Recht, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung der eigenen Daten zu bestimmen. Auch die Kommunikation mit anderen Menschen gehört zum Privatleben. Das Problem ist: Oft hat man kaum eine Wahl. Denn der Onlinedienst ist komfortabel, die Suchergebnisse sind besser, alle Freundinnen und Freunde sind in genau diesem einen Netzwerk aktiv oder nutzen jenen Instant Messenger. Die gute Nachricht ist: Mittlerweile gibt es in fast allen Bereichen datenschutzfreundliche Alternativen. Man muss also nicht darauf warten, bis die Politik endlich fragwürdige Datenschutzregelungen gesetzlich bekämpft. Eine kleine Auswahl.
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Suchmaschine Ein Goliath wie Google scheint fast konkurrenzlos – obwohl er wegen mangelhaftem Datenschutz immer wieder in der Kritik steht. Eine kleine Suchmaschine jedoch hat den ungleichen Kampf aufgenommen: DuckDuckGo stellt nach eigenem Bekunden Datenschutz und Privatsphäre an erste Stelle. Und verspricht, keine Profile der Nutzerinnen anzulegen, keine IP-Adressen zu speichern und keine Informationen über Besucher zu sammeln. Cookies werden nur in überschaubaren Maßen verwendet. Das Konzept scheint aufzugehen: DuckDuckGo zählt mittlerweile zu den beliebtesten Suchmaschinen. Anfang 2021 wurden zum ersten Mal 100 Millionen Suchanfragen pro Tag erreicht. Weitere beliebte Google-Alternativen: Ecosia, Qwant, Startpage oder MetaGer. www.duckduckgo.com
Messenger WhatsApp zu verlassen, kann schwer sein. Denn ein Messenger ist nur so viel wert wie seine Reichweite. Was nützt der sicherste Service, wenn die Freundinnen und Freunde ihn nicht auch benutzen? Aber das Vertrauen in undurchsichtige Software von großen Konzernen schwindet und auch die Alternativen werden immer reger genutzt. Ginlo, Signal, Telegram und Wire heißen einige der Herausforderer. Der Schweizer Messenger Threema ist dabei der einzige, der vollkommen anonym genutzt werden kann; ohne Angabe einer Telefonnummer oder E-Mail, nur per zufällig generierter ID. Nachrichten werden nach der Zustellung unwiderruflich vom Server gelöscht und sind dadurch nicht einsehbar. Der Programmiercode der App wird regelmäßig von Dritten geprüft, finanziert wird Threema über die App-Verkäufe. www.threema.de
Navigation Google Maps speichert eingegebene Suchbegriffe, die IP-Adresse und auch Breiten- bzw. Längenkoordinaten. Benutzt man die Routenplanerfunktion, wird auch die eingegebene Startadresse auf Google-Servern gespeichert. Eine Alternative dazu ist Open Street Map. Ein kostenloser Kartendienst, der teilweise sogar genauer ist als Google. Der Grund: Nutzerinnen und Nutzer fügen ähnlich wie bei Wikipedia selbst Orte hinzu oder korrigieren Karten. Über zwei Millionen Freiwillige arbeiten gemeinsam an dem Projekt. Manche treffen sich zum Beispiel zu »Mapping Parties« oder »Mapping Weekends«, um ein Gebiet systematisch zu kartieren. Die Vision, die alle verbindet: eine freie Weltkarte zu erschaffen. www.openstreetmap.org
Unabhängig von den Datenschutzversprechen der Anbieter gilt aber stets: Man muss nicht zwingend den richtigen Namen angeben, kann auf Profilfotos verzichten und die eigene Sichtbarkeit auf bestimmte Gruppen beschränken. Am besten immer so sparsam mit den eigenen Daten umgehen, wie eben möglich. www.amnesty.de/informieren/aktuell/digitale-ueberwachung-gefahren-2020-und-wie-du-dichschuetzen-kannst
DIGITALE ALTERNATIVEN
Icons: The Noun Project
Weitere Tipps
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In allen Feindschubladen Im System von Viktor Orbán wird gegen viele Unliebsame gehetzt – vor allem gegen Kritikerinnen, Roma und homosexuelle Menschen. Der Soziologe Desző Máté ist alles zugleich. Sein Leben in Ungarn ist eine ständige Gratwanderung. Von Keno Verseck Es regnet in Strömen an diesem kalten Tag im Spätherbst. Der kleine Junge kauert frierend im Hauseingang eines Hofes, zusammen mit seiner etwas älteren Gefährtin. Sie haben Hunger. Aber bei diesem Wetter die Mülltonnen nach Essbarem zu durchsuchen, kommt nicht infrage. Die beiden sitzen da und fühlen sich verloren. Plötzlich geht im Hof ein Fenster auf. Jemand wirft ein Stück altes Brot heraus. Sofort stürzen sich einige Hunde darauf. Auch die Kinder springen auf. Sie treten die Hunde weg und ergattern das Brot. Es ist alt und angeschimmelt, hat im Dreck gelegen, und die Hunde haben es angebissen. Aber der Hunger der Kinder ist so groß, dass sie das Brot essen. Wenn Dezső Máté heute von diesen Augenblicken erzählt, stockt er immer wieder. Die Szenen sind ihm sehr nah und kommen ihm doch unwirklich vor. Er war dieser neunjährige Junge, der auf den Straßen der südungarischen Stadt Kaposvár lebte. Die Mutter tot, der Vater irgendwo in Kneipen unterwegs. Er, der kleine Junge, verzweifelt über das Straßenleben, aber ohne eine Vorstellung davon, wie es anders werden könnte. Heute lebt Máté in einer schön eingerichteten Wohnung. Er kleidet sich geschmackvoll. Er hat studiert und ist glücklich mit seinem Lebensgefährten verheiratet. Er hungert und friert nicht mehr. Um seine Erinnerungen nicht zu düster wirken zu lassen, sagt er im Gespräch: »Es gab auch gute Momente damals. Einmal habe ich in einer Mülltonne eine Tüte voller Schokoladennikoläuse gefunden. Ich war glücklich.« Máté stammt aus einer armen Roma-Familie und lebt heute in Budapest. Der 36-Jährige wuchs in den postkommunistischen Chaosjahren nach 1989 auf. Er lernte erst als Jugendlicher richtig lesen und schreiben. Als junger Mann entdeckte er seine Homosexualität. Heute ist er Soziologe und engagiert sich für die Rechte von Minderheiten. Damit zählt er in Viktor Orbáns Ungarn zu den Feinden der staatlichen Ordnung. Sein Name stand
»Ich fühle mich gut als Rom und Schwuler. Aber der Weg dahin war lang und schwer.« 48
auf einer der berüchtigten Listen, mit denen eine Orbán nahestehende Zeitung 2018 sogenannte Heimatverräterinnen und Heimatverräter benannte: Politiker und Bürgerrechtlerinnen, Journalistinnen und Akademiker. Die Geschichte von Máté ist einzigartig. Und doch steht sie exemplarisch für das Schicksal von Roma und Romnja sowie armen Menschen im postkommunistischen Ungarn, ebenso wie für das Leben nicht heterosexueller Menschen im System Orbáns. Es ist eine Geschichte, die viele Entwicklungen in Ungarn in den vergangenen Jahrzehnten auf drastische, aber auch erstaunliche Weise in einer einzigen Person bündelt.
Die Schule als sicherer Ort Dezső Máté wurde in zerrütteten Familienverhältnissen geboren. Sein Vater hatte keinen festen Wohnsitz und führte eine Existenz als Lebemann und Kleinkrimineller, häufig saß er im Gefängnis. Seine Mutter starb, als er sechs war, nach ihrem Tod lebte er in Kaposvár jahrelang auf der Straße, während Ungarn eine katastrophale Wirtschaftskrise erlebte. Hunderttausende wurden arbeitslos, Roma und Romnja fast immer als erste. Ob Kinder unter fürsorglichen Bedingungen lebten und die Schule besuchten, interessierte den Staat damals nicht. Als er elf war, entdeckte ihn ein älterer Bruder zufällig auf der Straße und brachte ihn bei einem Onkel in einem nahegelegenen Dorf unter. Máté begann, regelmäßig zur Schule zu gehen. Um der Armut und den gewalttätigen Streitigkeiten in der Familie seines Onkel zu entfliehen, verbrachte er viel Zeit in der Schule: »Ich habe gelesen und gelernt, nicht weil ich es unbedingt wollte, sondern weil es in der Schule warm war, Essen gab und ich meine Ruhe hatte«, erzählt Máté. Später, als Jugendlicher ermutigte ihn seine Ungarisch- und Literaturlehrerin, weiter zu lernen, Abitur zu machen und zu studieren. Die beiden sprechen noch heute regelmäßig miteinander, Máté ist ihr sehr dankbar. Nach dem Abitur studierte er Romologie und Kommunikationswissenschaften, dann Filmkunst und -theorie. Sein erstes Diplom erhielt Máté 2007. Anschließend bewarb er sich um ein Erasmusstipendium für Sozialwissenschaften – ohne zu ahnen, dass auch das ein Wendepunkt in seinem Leben werden würde. Er bekam das Stipendium und ging an die Universität Eindhoven in den Niederlanden. Dort lernte er seinen späteren Ehemann kennen, einen Studenten aus Polen. »Wir waren damals beide verlobt«, erzählt Deszö, »und wir haben gemeinsam festgestellt, dass wir in einer Ehe mit unseren Frauen nur in Lüge leben würden. Wir haben uns entschieden, das nicht zu tun.« Die beiden leben seit dem Ende ihres Stipendiums überwiegend in Budapest. Im Jahr 2015 heirateten sie in Dänemark, denn weder in Ungarn noch in Polen sind gleichgeschlechtliche
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Geht mit Anfeindungen selbstbewusst um. Desző Máté.
Ehen erlaubt. Mátés Ehemann will öffentlich nicht in Erscheinung treten. Dennoch hat sich das Paar entschieden, privat nicht alles zu verstecken – manchmal gehen die beiden händehaltend auf der Straße. »Es gibt immer wieder dumme Kommentare, aber dann pöbele ich einfach zurück«, sagt Máté.
Foto: Istvan Bielik
Dickfellig gegen Anfeindungen
DISKRIMINIERUNG IN UNGARN
Es klingt lapidar. Trotzdem ist das Leben in Ungarn für Máté eine ständige Gratwanderung. Versteckter Antiziganismus, etwa Andeutungen, dass Roma und Romnja arbeitsscheu seien, gehört zum verbalen Repertoire von Ungarns Premier. Weitverbreitete Romafeindlichkeit wird so von oben legitimiert. Oft erkenne er an Gesten im Alltag, dass Leute in ihm einen Dieb sähen, erzählt Máté, etwa wenn sie bei seinem Anblick ihre Taschen umklammerten oder sich in Bus und Bahn von ihm wegsetzten. Homofeindlichkeit wiederum ist Teil von Regierungskampagnen, die immer aggressiver werden. Im vergangenen Herbst verglich Orbán Homosexuelle mit Pädophilen. Wenige Wochen später ließ seine Regierung das Verbot gleichgeschlechtlicher Ehen und ein Adoptionsverbot für gleichgeschlechtliche Paare indirekt in der Verfassung verankern. In der Familie und im Freundes- und Bekanntenkreis bekommt Dezső Máté oft zu spüren, dass er zwischen allen Stühlen sitzt. »Unter Roma sind Schwule meistens verpönt, und in meiner Familie hoffen sie immer noch, dass ich eines Tages eine Frau heirate«, erzählt er. »Umgekehrt gibt es in der LGBTI-Gemeinde eine gewisse elitäre Einstellung und auch Vorurteile gegenüber Roma. Ich persönlich fühle mich inzwischen gut als Rom und Schwuler, aber der Weg dahin war für mich sehr lang und sehr schwer.« Ungarn verlassen will Máté nicht, jedenfalls nicht aus politischen Gründen. Er hat gerade seine Doktorarbeit in Soziologie fertig geschrieben und wird sie Ende März verteidigen. Er ist stolz darauf, dass er dann der erste Rom mit Doktortitel in Ungarn sein wird, dessen Doktorvater selbst Rom ist – der ehemalige Ombudsmann für Menschenrechte, Ernö Kallai. Máté hat eine dickfellige Art entwickelt, mit den Anfeindungen als Rom und Schwuler in Ungarn umzugehen. Als er unlängst zusammen mit seinem Ehemann in einem Drogeriemarkt einkaufte, wurde er von einem Security-Angestellten verfolgt, der ihn offenbar verdächtigte, als Rom werde er dort stehlen. »Er trat an mich heran, um mich zu kontrollieren, da habe ich einfach meinen Mann geküsst«, erzählt Máté lachend. »Der Security-Mann war verwirrt und verzog sich schweigend. So habe ich dem Roma- und Schwulenhass gleichermaßen ein Schnippchen geschlagen.« Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app
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Wie im Berghain, nur viel ernster Die Proteste gegen die gefälschte Präsidentschaftswahl in Belarus am 9. August 2020 gehen weiter. Bei zahlreichen Demonstrationen nahmen die Sicherheitskräfte inzwischen mehr als 30.000 Menschen fest, unter ihnen auch Victoria Biran. Die Aktivistin, die sich für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI) einsetzt, war am 26. September 2020 auf dem Weg zu einer Frauendemonstration, als Sicherheitskräfte sie festnahmen. Zwei Tage später wurde sie zu zwei Wochen Haft verurteilt, die am 11. Oktober 2020 endete. Lilian Tietjen und Matthias Göbel von der Belarus-undUkraine-Kogruppe von Amnesty International Deutschland sprachen mit ihr. Wie kam es zu Ihrer Festnahme? Meine Demonstrationsteilnahme an diesem Tag war kurz – sie dauerte höchstens eine Minute. Die Menge war in Bewegung, und ich verlor meine Gruppe aus den Augen. Ich verteilte Kronen an die Demonstrantinnen, ein humorvolles Zeichen gegen Alexander Lukaschenkos heimliche Amtseinführung, als drei Männer in olivfarbener Uniform auf mich zukamen und sagten: »Kommen Sie mit!« Sie sind LGBTI-Aktivistin. Spielte das eine Rolle? Die Regenbogenflagge, die ich bei mir trug, war wahrscheinlich ein Zeichen. Im Auto fragten sie mich: »Was bedeutet das? Ist Dir klar, dass wir Homo-Ehen niemals akzeptieren werden?« Seit mehr als 15 Jahren stellen sie die gleichen absurden Fragen. Ich habe keine Beweise, dass sie gezielt fahnden. Aber auf der Polizeistation gaben sie mir eine Liste mit Namen meiner Freunde, die bei der Demonstration Regenbogenflaggen und Poster hielten, und fragten: »Wo sind sie?« Ich sagte nichts und war froh, dass sie mich in Ruhe ließen. Haben Sie damit gerechnet, im Gefängnis zu landen? Natürlich. Vor und nach mir wurden Tausende inhaftiert. In Belarus fühlen sich Menschen inzwischen schlecht, wenn sie nicht im Gefängnis waren, eine Art »Protesttrauma«. Es gibt diesen Witz: »Du bist kein Belarusse, wenn du nicht im Gefängnis warst!« Sie wurden zu 15 Tagen Verwaltungshaft verurteilt. Hatten Sie einen Rechtsbeistand? Dank meiner Freunde und meines Netzwerkes bekam ich ein Paket mit wichtigen Dingen, die gerade Frauen im Gefängnis oft fehlen. So konnte ich Binden und Unterwäsche auch an andere weitergeben. Ich bekam sogar für fünf Minuten eine
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Anwältin. Dafür war ich sehr dankbar, wenige bekommen diese Unterstützung. Wussten Sie, dass Amnesty International eine Eilaktion für Sie gestartet hat? Ich habe das nach meiner Entlassung erfahren. Aber ich fühlte mich schlecht, weil Tausende unter härteren Umständen im Gefängnis sitzen. Es geht nicht um mich, aber es ist wichtig, diese Vorkommnisse öffentlich zu machen und die Regierung wissen zu lassen, dass sie unter Beobachtung steht und ihre böse Agenda nicht einfach heimlich durchsetzen kann. Sie wurden in die Haftanstalt Akrestina gebracht, die bekannt ist für Folter und sexuellen Missbrauch. Wie war es da? Es ist ein dreckiger, überfüllter Ort. Manchmal dachte ich, sie wollen, dass wir alle an Covid-19 erkranken. Es stank stark nach Kot, der auch überall in den Toilettenlöchern lag. Wir hatten nie frische Luft und mitunter tagelang keine Möglichkeit, zu duschen. Auch Trinkwasser gab es nicht immer. In die Zellen fiel fast kein Tageslicht, aber nachts wurde das Licht angelassen. Politische Gefangene und andere Straftäter waren gemeinsam inhaftiert. Manchmal wurden die Matratzen entfernt und einige mussten auf dem Boden schlafen. Ich wurde nicht geschlagen, aber Männer oder männlich aussehende Menschen schon. Ich weiß nicht, ob all diese Dinge unter Folter fallen, aber ich würde sagen, dass es das war. Was heißt es, eine »gewaltlose politische Gefangene« zu sein? Es hat mir sehr geholfen, das Ganze von Anfang als eine Art Spiel zu betrachten, zu wissen, dass ich unschuldig bin und dass meine Freunde diese Erfahrungen auch schon gemacht und überlebt haben. Ich habe von Anfang an versucht, mich von dem, was mir da geschieht, zu distanzieren. Sonst wäre es unmöglich gewesen, das Ganze in seiner Absurdität zu verstehen. Ihr online veröffentlichtes Gefängnistagebuch trägt den Titel »From Okrestina to Berghain« (Von Akrestina zum Berghain)? Welche Rolle spielt der Berliner Nachtclub?
»Die Haftanstalt Akrestina ist ein dreckiger, überfüllter Ort. Wir hatten nie frische Luft.« AMNESTY JOURNAL | 02/2021
Foto: Violetta Savchits
Die belarussische Aktivistin Victoria Biran spricht über die Dauerproteste gegen Präsident Lukaschenko, ihre Haft, Repressionshumor und was das Land jetzt braucht.
Zum einen ähnelte unsere Art zu protestieren einem Techno-Rave. Wir tanzten und spielten Techno-Musik, es war eine Mischung aus Protest und Feier. Und dann gibt es noch das Berghain-Prinzip, wie ich es nenne. Als wir im Gefängnis saßen, versuchten wir stets, die Handlungen des Wachpersonals zu ergründen. Bestrafen sie uns? Und wenn ja, warum? Schnell verstanden wir, dass es um reine Machtdemonstrationen geht. Das erinnerte mich an die Türsteher im Berghain: Es ist häufig reine Willkür, wer reinkommt und wer nicht. Wird die LGBTI-Community als Teil der Proteste wahrgenommen, und was kann die Community zu den Protesten beitragen? Die Community ist ein sehr sichtbarer Teil der Proteste. Letztlich kämpften und kämpfen wir alle, die LGBTI-Community, Anarchist_innen, Christ_innen, Arbeiter_innen, IT-Spezialist_innen, Studierende, Menschen verschiedener Klassen und unterschiedlicher Hintergründe, für ein besseres Leben. Die Proteste haben ein sehr emanzipiertes, weibliches Gesicht. Wie kam es dazu? Ich weiß es nicht, aber ich begrüße es sehr. Allerdings ist dieses Gesicht auch sehr heterogen. Einige Frauen haben sich sowohl im Zuge der Proteste als auch im Gefängnis sehr zurück-
haltend und brav verhalten, während andere emanzipierter und feministischer auftraten. Es sollte auch so sein, dass jede ihre eigene Strategie verfolgt. Was kann man in Deutschland tun, um die Menschen in Belarus zu unterstützen? Es ist wichtig, die Gesellschaft aufzuklären. Wer fotografiert, kann Aufklärung zum Thema machen. Verlage können bei der Auswahl der Bücher, die sie übersetzen und publizieren, auf Aufklärung achten. Ebenso juristische Aktivist_innen. Es ist wichtig, allen bewusst zu machen, dass die Ereignisse in Belarus nicht abstrakt sind, sondern reale Menschen betreffen. Man kann sich auch an die politisch Verantwortlichen in Deutschland wenden und sie nach konkreten Handlungen fragen. Was ist Ihr Traum für Ihre Zukunft und die Ihres Landes? Ich hoffe, ich kann meine Arbeit als LGBTI-Aktivistin fortsetzen. Ich möchte junge Aktivist_innen an meinen Erfahrungen teilhaben lassen, damit wir Belarus gemeinsam zu einem besseren Ort machen, zu einem Land, in dem die Menschen gerne leben und ihre Träume realisieren können. Ich möchte in Deutschland studieren, Brücken bauen zwischen Deutschland und Belarus und zeigen, dass wir viel gemeinsam haben. Davon träume ich seit Jahren.
VICTORIA BIRAN Victoria Biran wurde 1990 in Pinsk, Belarus geboren. Sie engagiert sich für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI) und ist Mitgründerin der Website Makeout, die sich mit LGBTI-Themen befasst. Biran hält sich derzeit in Berlin auf und plant, in Deutschland zu studieren.
Selbst bei der Festnahme noch optimistisch. Victoria Biran am 26. September 2020 in Minsk.
BELARUS
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WAS TUN
Denker fragen: Eva von Redecker darunter fallen auch patriarchale Ehegesetzgebungen, die die Produktionsfähigkeit der Frau dem Ehemann übereignen. Unsere ganze Naturbeherrschung und auch unser Umgang mit Tieren beruhen auf der Idee, dass man mit dem, was einem gehört, alles machen kann. Und volle Verfügung heißt immer, etwas kaputtmachen zu dürfen. Sie schreiben unter anderem über Fridays for Future und Black Lives Matter. Wie verhalten sich diese Proteste gegenüber denen von Rechtsextremen? Als Antagonismus. Wobei die Kategorie des Lebens auch in autoritären faschistischen Kontexten eine Rolle spielt. Auch hier ist die existenzielle Bedrohung des Lebens entscheidend. Aber die faschistische Antwort zielt immer auf das Aussterben der anderen zur Erhöhung der eigenen Lebenschancen. Interview: Lea De Gregorio Eva von Redecker war von 2009 bis 2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Berliner HumboldtUniversität und arbeitet derzeit an einem Forschungsprojekt zum autoritären Charakter. Ihr Buch »Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen« erschien 2020 im S. Fischer Verlag.
Foto: Paula WInkler
Wie haben sich Protestformen verändert? Sie sind sichtbarer geworden. Und sie haben sich stärker auf das Thema des Lebens fokussiert. Oberflächlich gesehen, haben sich die Bewegungen zwar multipliziert in ihren verschiedenen Anliegen. Gleichzeitig teilen sie einen Kern: den Kampf für das Leben. Sie nennen dies eine Revolution für das Leben. Welche Rolle spielen dabei die Menschenrechte? Mit der Revolution für das Leben müssten die Verwirklichungsbedingungen der Menschenrechte neu hergestellt werden. Der Schutz des bestehenden Lebens reicht nicht mehr aus, sondern wir müssen die Regeneration des Lebens insgesamt sicherstellen. Gleichzeitig gibt es zu den Menschenrechten auf Unterkunft, gesundheitliche Versorgung und sauberes Trinkwasser einen fließenden Übergang. Welche Utopie strebt die Revolution für das Leben an? Wir müssen verschiedene Gesten erst einüben, um das Leben zu schützen: statt erschöpfender Arbeit etwa regenerierende Arbeit praktizieren und die Dinge, die wir besitzen, pflegen, anstatt sie zu beherrschen. Was verstehen Sie unter Sachherrschaft? Darunter fasse ich ein eigentumzentriertes Herrschaftsverhältnis über Dinge, aber auch über Menschen. Die Extremform ist die Sklaverei. Aber
Das steckt drin: DAX Der DAX ist das deutsche Börsenbarometer. Er gilt als Qualitätsmerkm al und bietet Anlegern Orientierung. Da ist es nicht unerheblich, wenn die Deutsche Börse die Zugangskriterien für ihre verschiedenen DAX-Indizes (DAX, MDAX, SDAX und TechDAX) erneuert. Die neuen Regeln sollen bis Herbst 2021 sukzessive eingeführt werden. NGOs kritisier en diese Regeln jedoch als Rückschritt für Menschenrechte und Klimaschutz im Finanzsektor.
So verzichtet die Börse auf den sich Ausschluss von Unternehmen, die fen beteiligen Waf enen tritt ums mit ten chäf Ges an ren Landmigehö u Daz (»Controversial Weapons«). biologische e, isch chem ie sow n nen, Streumunitio es zum Beiht öglic erm Dies fen. Waf e und nuklear Airbus, zern skon spiel dem Luftfahrt- und Rüstung des ter Toch Eine en. leib weiterhin im DAX zu verb sche zösi fran für n kete erra Konzerns wartet Träg Atomwaffen.
Auch fehlen verbindliche Kriterie n, die die gelisteten Unternehmen zur Nachhaltigkeit verpflichten. Somit können Konzerne Mitglied im DAX bleiben, deren Geschäftsfeld auf fossil erzeugter Energie beruht.
Die Deutsche Börse hat im ESG eingeführt. Bei März 2020 den DAX 50 swahl der gelisteten diesem fließen in die Au chhaltigkeitskriterien in Unternehmen auch Na nsfühziales und Unternehme Bezug auf Umwelt, So mCo Einhaltung der Global rung ein. Basis ist die äftsfelder sch Ge . nen tio Na ten ein pact-Prinzipien der Ver hle oder rnenergie, Kraftwerksko Ke ak, Tab n, ffe Wa wie ortal gsp un rat ebe u. Dem Anlag Rüstungsgüter sind tab genug. it we ht nic ng eru ssifizi Öko-Invest geht die Kla
Strenge Kriterien legt zum Beispiel der Natur -Aktien-Index (NAI) an. Er umfasst 30 Aktien, die unter andere m Atomstromund Waffenproduktion , Kinderarbeit, Diskrimi nierung von Frauen, sozialen und ethnis chen Minderheiten sow ie die Erzeugung von ausgesprochen um welt- oder gesundheitssc hädlichen Produkten ausschließen. Quellen: urgewald, Dachverband der Kritischen Aktionärinnen und Aktionäre, Greenpeace Foto: Nokwan007 / shutterstock.com
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Malen nach Zahlen: Schulbildung Im Jahr 2020 schlossen mehr als 180 Länder als Folge der Corona-Pandemie vorübergehend ihre Schulen. Knapp 1,7 Milliarden Kinder und Jugendliche erhielten deswegen keinen Unterricht.
Kinder in Ländern mit niedrigem Einkommen verloren so fast vier Monate Schulzeit:
Kinder in Ländern mit hohem Einkommen dagegen nur sechs Wochen:
Quellen: Oxfam, Unesco | Icons: The Noun Project
24 Millionen Lernende können ihre Ausbildung möglicherweise nicht fortsetzen. Die Hälfte von ihnen lebt in Südund Westasien und in Subsahara-Afrika.
Menschenrecht missachtet: Teeproduktion in Indien Artikel 23 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte garantiert: »Jeder, der arbeitet, hat das Recht auf gerechte und befriedigende Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert, gegebenenfalls ergänzt durch andere soziale Schutzmaßnahmen.« Dieses Menschenrecht wird in einem der Hauptanbaugebiete für Tee im indischen Bundesstaat Assam häufig verletzt. Einer Studie der Hilfsorganisation Oxfam zufolge leidet ein großer Teil der Arbeiter_innen auf den dortigen Teeplantagen unter Hungerlöhnen und katastrophalen Arbeitsbedingungen. Von den mehr als 500 Befragten hat mehr als die Hälfte nicht ausreichend zu essen, mehr als ein Viertel leidet sogar Hunger. Den
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WAS TUN
Beschäftigten drohen Krankheiten wie Cholera und Typhus, da sie verunreinigtes Wasser trinken müssen. Hinzu kommen gesundheitsschädliche Arbeitsbedingungen: Die Pflücker_innen erhalten keine oder nur mangelhafte Schutzkleidung und sind so Pestiziden ausgesetzt. Dies führt häufig zu Atemwegserkrankungen, Augenreizungen und allergischen Reaktionen. Die NGO sieht eine Ursache für diese Arbeitsbedingungen in der unfairen Wertschöpfung: »Bei einer Packung Markenschwarztee für drei Euro gehen nur circa vier Cent an die Menschen, die den Tee gepflückt haben«, sagt Barbara Sennholz-Weinhardt von Oxfam, Autorin der Studie. »Dass so eine Produktion zu menschenwürdigen Arbeits- und Lebensbedingungen nicht möglich ist, liegt auf der Hand.«
ERMITTLUNGEN GEGEN DIE IUVENTA10 EINSTELLEN! Der einstigen Crew des Rettungsschiffes Iuventa droht in Italien 20 Jahre Gefängnis, weil sie mehr als 14.000 Menschen vor dem Ertrinken gerettet hat. Das Schiff ist seit August 2017 von den italienischen Behörden beschlagnahmt. Seit drei Jahren ermitteln sie gegen die zehnköpfige Crew – und das, obwohl alle Beweise zeigen, dass ihre Arbeit nur Leben gerettet hat. Setz dich dafür ein, dass die Ermittlungen fallen gelassen werden.
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Sündenböcke im Strandparadies In Thailand wurden im Jahr 2015 zwei junge Männer aus Myanmar zum Tode verurteilt – für eine Tat, die sie wahrscheinlich nicht begangen haben. Im Sommer 2020 wandelte der thailändische König ihre Strafe in lebenslange Haft um. Viele Fragen bleiben. Von Bartholomäus von Laffert (Text) und Rafael Heygster (Fotos)
Fundort der Leichen von Hannah Witheridge und David Miller. Sairee Beach, Koh Tao, Januar 2019.
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Am 14. August 2020 begann für die Gefangenen Zaw Lin und Wai Phyo in der Haftanstalt Bang-Kwang in Bangkok ein neues Leben. An diesem Tag wurde bekannt, dass der König aus Anlass seines 68. Geburtstags Milde walten lässt und ihr Todesurteil in eine lebenslange Haftstrafe umwandelt. In Thailand bedeutet dies 50 Jahre Gefängnis. Damit wäre auch eine Auslieferung nach Myanmar möglich. Viereinhalb Jahre zuvor, am 24. Dezember 2015, waren die beiden Gastarbeiter für den Doppelmord an einer britischen Touristin und einem britischen Touristen im Jahr 2014 auf der Taucherinsel Koh Tao zum Tode verurteilt worden. Dass sie die Tat begangen haben, bezweifeln Prozessbeobachter, Menschrechtsaktivistinnen, Diplomaten aus Myanmar und Unterstützerinnen der beiden bis heute. Zaw Lin, einer der beiden Verurteilten, schrieb im August 2020 in einem Brief: »Ich bin ein unschuldiger Mann, ich weiß nichts über die Morde. Als ich in den Knast gekommen bin, war ich 20 Jahre alt, jetzt werde ich bald 26, also bin ich schon sechs Jahre im Gefängnis für nichts. Und nichts wendet sich für mich zum Guten. Ich verschwende meine Lebenszeit im Gefängnis.« Katherine Gerson, die 2015 eine Kampagne von Amnesty International für die beiden Männer leitete, sagt: »Wir haben große Zweifel, ob die Verurteilung rechtmäßig war. Es gab klare Indizien, dass thailändische Polizisten die Männer gefoltert haben, um ein Geständnis zu erzwingen, und dass man ihnen vor Gericht keinen Glauben schenkte.« Zum Zeitpunkt der Verhaftung der beiden habe es unzählige Fälle gegeben, in denen Gastarbeiter aus Myanmar von thailändischen Polizisten erpresst oder unrechtmäßig in Gewahrsam genommen wurden.
Eine Million Urlaubsgäste
»Ich bin ein unschuldiger Mann, ich weiß nichts über die Morde.« Zaw Lin in einer Arbeitersiedlung, wo er sich mit fünf anderen Männern ein Zimmer teilte. Dort lernte er einen anderen jungen Mann aus Myanmar kennen: Wai Phyo, der wie er aus Rakhine kommt, der ebenfalls 2012 mit 18 seine Familie zurückließ, nach Thailand auswanderte und jetzt in einer Bar Tourist_innen Bier ausschenkt. Auf den Facebook-Fotos von damals hängen Wai Phyo die langen, mit Henna gefärbten Haare strähnig in die Stirn. Zaw Lin wirkt älter und hat Pockennarben im Gesicht. Er trägt Shirts mit Motiven von Manchester United und Bob Marley.
Kameras, die nichts aufzeichnen Die Nacht, die das Leben der jungen Männer für immer verändert, ist wolkenverhangen. Am Abend des 14. September 2014 treffen sich die beiden am Strand. Zaw Lin hat seine Gitarre mitgebracht. Gemeinsam mit einem Freund namens Mau Mau sitzen sie unter einem Pinienbaum am Sairee Beach und singen Lieder in ihrer Muttersprache. Vor einer Bar ganz in der Nähe findet eine Feuershow statt. Eine Überwachungskamera zeichnet auf, wie die drei Freunde in einem nahegelegenen Shop Zigaretten und Bier kaufen. Es ist kurz vor Mitternacht, als Mau Mau Zaw Lin bittet, ihm sein Motorrad zu leihen, weil er seine Freundin besuchen will. Als er nach zwei Stunden noch nicht zurück ist, entscheiden sich Zaw Lin und Wai Phyo, ihn zu Hause aufzusuchen. Um sich abzukühlen, springen die beiden auf dem Rückweg kurz ins Meer. Als sie kurz danach an Mau Maus Wohnung in der Nähe
Aber warum wurden die beiden auf Koh Tao verhaftet? Und welche gesicherten Informationen gibt es darüber, was in der Nacht des 15. September 2014 tatsächlich geschah, als David Miller und Hannah Witheridge am Sairee Beach von Koh Tao ermordet wurden? Zaw Lin hat seine Geschichte in Dutzenden Briefen an Freund_innen und Unterstützer_innen niedergeschrieben: 2012 wanderte er von Myanmar nach Thailand aus. Er war 18 Jahre alt, als er beschloss, seine Mutter und seinen Bruder in einem bitterarmen Fischerdorf im Bundesstaat Rakhine an der Westküste Myanmars zurückzulassen und sich nach Thailand durchzuschlagen, um dort Geld zu verdienen. Damit war er einer von etwa 2,3 Millionen Menschen aus Myanmar, die nach Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration ihr Glück in Thailand suchen. Zaw Lin landete auf Koh Tao, einer kleinen paradiesischen Insel in Form einer Schildkröte mit schneeweißen Stränden und Hügeln voller Palmen, in deren Buchten Boote schaukeln. 7.000 Menschen leben dort: 1.500 Thailänder_innen, 1.500 Aussteiger_innen, der Rest sind Gastarbeiter_innen aus Myanmar. Außerdem kommen pro Jahr knapp eine Million Urlaubsgäste, viele von ihnen zum Tauchen. Zaw Lin fand Arbeit in einer Bar und lebte fernab der schicken Touristenhotels Ähnliche Szenen ereigneten sich im September 2014. Bar in der Nähe des Tatorts.
THAILAND
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Warum fand sich keine DNA der vermeintlichen Täter an der Tatwaffe, der Gartenhacke? des Strandes anklopfen, öffnet niemand, doch die Tür ist unverschlossen. »Also sind Wai und ich hineingegangen, wir haben uns hingelegt und geschlafen. Das ist alles, was ich weiß«, schreibt Zaw Lin später in einem Brief an eine britische Journalistin. Vier Stunden nachdem Zaw Lin und Wai Phyo sich schlafen gelegt haben, werden am Sairee Beach, wenige Meter entfernt von dem Pinienbaum, unter dem die Freunde saßen, die britischen Tourist_innen tot aufgefunden. Die Leiche von David Miller treibt in der Bucht. Sie ist bis auf eine schwarze Socke am linken Fuß entkleidet und mit Stichnarben übersäht. Die Leiche Hannah Witheridges liegt wenige Meter entfernt am Strand, das Gesicht ist zertrümmert, der Slip heruntergerissen. Vergeblich sucht die Polizei nach Zeug_innen für die Tat. Sie findet lediglich einzelne Beweisstücke am Strand: drei Zigarettenstummel, eine Plastiktüte, ein rechter Flip-Flop, ein benutztes Kondom, eine blutige Gartenhacke. Die meisten Bänder der Überwachungskameras, die zu Dutzenden am Strand angebracht sind, fehlen. Sie hätten nichts aufgezeichnet, werden die Polizisten später sagen. Es gibt aber zumindest eine Videosequenz, die die Ermittler auf eine Spur bringt: Sie zeigt einen jungen Mann, oben ohne, die schwarzen Haare fallen ihm tief in die Stirn. Die Bilder zeigen ihn, wie er am Shop in der Nähe des Sairee Beach vorbeiläuft, einmal um 3:44 Uhr, einmal um 4:49. Die thailändischen Medien taufen das Phantom »Running Man«. Bald berichten Zeitungen und Fernsehsender auf der ganzen Welt, darunter die britische Sun, die BBC und der Guardian, über den grausamen Doppelmord. Zwei Wochen später nehmen die Ermittler Zaw Lin und Wai Phyo fest. Schon am nächsten Tag werden die beiden in Koh Tao der Weltöffentlichkeit vorgeführt: Bei einem in Thailand üblichen »Reenactment« am Sairee Beach, bei dem die Verdächtigen gezwungen werden, das Verbrechen im Beisein von Polizei und Zuschauer_innen am Tatort nachzuspielen, verkünden die Ermittler, die beiden Männer hätten die Tat bereits gestanden. In der Gerichtsakte heißt es, Mau Mau, Zaw Lin und Wai Phyo hätten sich am 14. September um 22 Uhr am Strand getroffen. Dort hätten sie getrunken und geraucht. Auf dem Heimweg hätten sie gesehen, wie sich die beiden Tourist_innen hinter einem Felsen entkleiden. Daraufhin hätten sie den Mann erschlagen und die Frau vergewaltigt, bevor sie auch sie umbrachten. Und der »Running Man« sei Wai Phyo. Am Heiligen Abend des Jahres 2015 wird im Gerichtssaal von Koh Samui, einer Insel knapp 70 Kilometer südlich von Koh Tao, das Urteil über die beiden Männer gefällt: Schuldig des zweifachen Mordes und der schweren Vergewaltigung. Die Strafe: Tod durch die Giftspritze. Die Urteilsbegründung stützt sich auf das Geständnis der
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Unter diesem Baum saßen Wai Phyo und Zaw Lin in der Tatnacht. Pinie am Strand
beiden. Und auf die Spermaspuren an Witheridges Leiche, die nach Angaben des thailändischen DNA-Gutachtens mit Spuren auf den Zigarettenstummeln und dem Speichel von Zaw Lin und Wai Phyo übereinstimmen.
Wer sagt die Wahrheit? Doch ist diesem Urteil zu trauen? Am 21. Oktober 2014, gut drei Wochen nach ihrer Verhaftung, widerrufen die beiden Männer ihr Geständnis. Zaw Lin schreibt später in einem Brief an eine Journalistin: »Die Polizei hat mein Zimmer gestürmt um 6 Uhr früh. Sie haben mich mit dem Auto zu einem Bungalow gefahren, von dem ich wusste, dass er keine Polizeistation war, und da haben sie mich gefragt, ob ich am 15. September zwei Menschen ermordet habe. […] Als ich gesagt habe, dass ich nichts weiß über den Mord, da haben der Übersetzer und die Polizisten begonnen, mich zu schlagen und zu treten, ins Gesicht und gegen die Brust, dann haben sie mir eine Plastiktüte über den Kopf gezo-
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Polizeipatrouille am Sairee Beach. Koh Tao, Dezeber 2018.
gen, sodass ich nicht mehr atmen konnte. Ungefähr fünf von ihnen waren in dem Raum. Und jedes Mal, wenn ich gesagt habe, ich wisse nichts, haben sie mich noch mehr gefoltert. Sie haben gesagt, wenn ich nicht gestehe und das Dokument unterschreibe, dann werden sie mich erschießen. Und niemand wird je davon erfahren. Und während sie das sagten, hielt einer eine Pistole an meinen Kopf. […] Also habe ich beschlossen zu unterschreiben, und sie waren glücklich!« Schreibt Zaw Lin in seinem Brief die Wahrheit? Oder hatten ihm seine Anwälte geraten, eine Lüge zu erzählen und die Aussage zurückzunehmen? Waren die DNASpuren nicht Beweis genug, dass die beiden von Koh Tao. das schwere Verbrechen begangen hatten? Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International oder die Prozessbeobachter der NGO Solicitors International Human Rights Group zweifeln an der Rechtmäßigkeit des Prozesses. Ein Vorwurf lautet: Die Polizei, die die Spuren nahm, wertete die DNA auch aus. Ein externes Kontrollgremium, wie es in Großbritannien oder den USA vorgesehen ist, gab es nicht. Die Verteidigung forderte während des Prozesses, die DNA erneut zu testen. Die Antwort der Polizei: Die Spuren seien bedauerlicherweise nicht mehr verwertbar. Außerdem kritisiert Katherine Gerson von Amnesty International das Vorgehen der National Crime Agency, der britischen Strafverfolgungsbehörde, die den thailändischen Behörden Informationen vom Smartphone eines der Opfer übermittelt hatte. Mit Hilfe dieser Informationen wurden die beiden Männer später zum Tode verurteilt. Nach EU-Recht, dem die britische Behörde damals unterlag, ist das illegal. Viele Fragen sind bis heute unbeantwortet: Warum fand sich keine DNA der beiden vermeintlichen Täter an der Tatwaffe, der
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Gartenhacke? Wo sind die restlichen Videos der Überwachungskameras aus jener Nacht? Warum flohen Wai Phyo und Zaw Lin nicht, sondern gingen in den Tagen nach dem Mord weiter seelenruhig ihrer Arbeit in den Bars nahe des Tatorts nach?
Briefe aus der ganzen Welt Gleichzeitig kursieren in Thailand bis heute Hinweise, die wahren Mörder würden noch immer auf der Insel leben. Ein Gerücht besagt, dass der Sohn eines wohlhabenden thailändischen Barbesitzers die Morde begangen haben soll und dessen einflussreiche Familie mithilfe der Sicherheitsbehörden das Verbrechen vertuscht habe. Dieser sei in Wahrheit der »Running Man« auf der Aufnahme der Überwachungskamera. Thailändische Medien schrieben dies schon vor Jahren, Inselbewohner_innen behaupten das noch heute. Beweise dafür gibt es nicht. In den ersten Monaten nach dem Urteil war die Unterstützung für Zaw Lin und Wai Phyo groß. Medien auf der ganzen Welt berichteten über das umstrittene Urteil. Die BBC bezeichnete die beiden in einem Artikel als »Sündenböcke«. In der thailändischen Hauptstadt Bangkok gingen Tausende Gastarbeiter_innen aus Myanmar auf die Straße und forderten die Freilassung der Inhaftierten. Irgendwann schalteten sich auch Diplomaten aus Myanmar ein. Die Verurteilten bekamen solidarische Briefe aus der ganzen Welt, die ihnen Hoffnung machen, dass sie doch noch eines Tages freikommen könnten. Es ist eine Hoffnung, die nie greifbarer schien als am 14. August 2020. Im November schrieb Zaw Lin aus dem Gefängnis in Bangkok: »Wie Sie wissen, hat der König anlässlich seines Geburtstages ein Royal Pardon erlassen. Also bin ich von Block 5 nach Block 3 umgezogen, was heißt, dass ich nicht mehr im Todestrakt bin. Hier ist es besser, es gibt mehr Platz, sodass ich Sportübungen machen und mich fit halten kann. Können Sie bitte Druck auf die Botschaft Myanmars ausüben, dass ich bald in mein Land zurückkehren kann?«
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GRAPHIC REPORT
Schluss mit Guantánamo!
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GRAPHIC REPORT
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PORTRÄT
Foto: Markus Schreiber / AP / pa
Selbstbewusst jüdisch leben Naomi Henkel-Gümbel überlebte den Anschlag auf die Synagoge in Halle 2019 und trat im Prozess gegen den Attentäter als Nebenklägerin auf. Sie kämpft gegen Antisemitismus – auch als Mitglied der queeren Organisation Keshet. Von Andreas Koob Während des Prozesses gegen den Attentäter von Halle war Naomi Henkel-Gümbel schwer beschäftigt. Immer wieder sprach die 29-Jährige mit Medienvertreter_innen. Sie plädierte dafür, den Täter nicht ins Rampenlicht zu rücken und sich stattdessen mit den gesellschaftlichen Ursachen des Anschlags und den Interessen der Betroffenen auseinanderzusetzen. »Ich wollte wissen, wo ich als angehende Rabbinerin und als Überlebende des Anschlags von Halle mit meiner Arbeit ansetzen kann«, sagt Henkel-Gümbel. Deshalb war sie als Nebenklägerin an nahezu allen Verhandlungstagen anwesend. »Mir war das wichtig, um die Hintergründe des Anschlags aufzudecken und herauszufinden, wie es um die deutsche Gesellschaft und den Diskurs über Antisemitismus und Rassismus bestellt ist.« Henkel-Gümbel absolviert eine Rabbinatsausbildung am Potsdamer Zacharias Frankel College. Zugleich ist sie in mehreren Organisationen engagiert – etwa bei der queer-jüdischen Initiative Keshet, die sowohl in der jüdischen als auch in der queeren Community Diskriminierung bekämpfen will. Einerseits seien nicht alle jüdischen Gemeinden offen gegenüber queeren Identitäten und Homosexualität, andererseits gebe es in der queeren Community immer wieder Antisemitismus. Vor allem israelbezogener Antisemitismus sei ein großes Problem, sagt Henkel-Gümbel. »Mit Keshet gibt es eine Anlaufstelle, wie ich sie mir früher selbst gewünscht hätte.« Sie befand sich in der Synagoge, als der Attentäter versuchte, in das Gebäude einzudringen. Mit der Organisation Base Berlin war sie nach Halle gefahren, um dort Jom Kippur zu feiern. »Ausgerechnet auf deutschem Boden einen Anschlag zu erleben, war das Schlimmste, was ich mir hätte vorstellen können«,
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sagt Henkel-Gümbel. 2011 war sie nach Israel emigriert, auch wegen Antisemitismus-Erfahrungen. Sieben Jahre später nahm sie ihr Studium in Potsdam auf – mit dem Wunsch, sich für ein selbstbewusstes jüdisches Leben in Europa zu engagieren. Der Anschlag von Halle habe Jüdinnen und Juden hellhöriger werden lassen. »Trotz der Höchststrafe für den Attentäter war das Urteil ein Rückschlag«, sagt sie. »Es erkennt nicht das Ausmaß des Anschlags an.« Für die Ermordung der Passantin Jana Lange und den Mord an Kevin Schwarze, den der Attentäter in einem Dönerimbiss erschoss, sei er zwar zur Rechenschaft gezogen worden. Die Gewalt gegenüber dem Imbissbetreiber Ismet Tekin und dem Passanten Aftax Ibrahim wertete das Gericht nicht als Mordversuch. Henkel-Gümbel wollte im Rahmen der Nebenklage Gerechtigkeit für alle Betroffenen erwirken. Zum Jahrestag des Attentats von Halle lud die Organisation Base Berlin, in der Henkel-Gümbel sich engagiert, Angehörige der rassistischen Anschläge von Hanau und Mölln ein, um sich zu vernetzen und zu bestärken. »Es braucht vor allem Solidarität von allen, die selbst nicht von Antisemitismus und Rassismus betroffen sind«, sagt sie und fordert mehr Bildungsarbeit – für Einsatzkräfte der Polizei. Das systematische Versagen der Behörden sei nach dem Anschlag sowie während des Verfahrens auf schockierende Weise deutlich geworden. Derzeit beunruhigen sie antisemitische Verschwörungserzählungen im Zuge der Corona-Pandemie. Doch sie lässt sich nicht unterkriegen. »Viele Menschen möchten jetzt auch aus Protest selbstbewusster jüdisch leben, sich ihre Identität nicht nehmen lassen, sich nicht in Angst versetzen lassen«, sagt Henkel-Gümbel. »Aber diese Haltung braucht auch viel Kraft.«
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DRANBLEIBEN
Assange nicht an USA ausgeliefert Ein Londoner Gericht hat Anfang Januar die Auslieferung des Wikileaks-Gründers Julian Assange an die USA abgelehnt. Im Falle einer Verurteilung hätten ihm dort 175 Jahre Haft gedroht. Richterin Vanessa Baraitser verweis in ihrer Begründung auf die Haftbedingungen in den USA, die dazu führen könnten, dass Assange Suizid begehe. Die USA legten Berufung gegen die Entscheidung ein. Assanges Verteidiger forderten, ihn gegen Kaution
freizulassen. Das Gericht lehnte seine Haftentlassung jedoch ab. Seit eineinhalb Jahren ist Assange im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh inhaftiert. Aus Sicht von Amnesty International hätte er während des Entscheidungsprozesses über den Auslieferungsantrag erst gar nicht inhaftiert werden dürfen. Die USA werfen Assange Spionage und die Veröffentlichung geheimer
Unterlagen vor. Er hatte sich Zugang zu geheimen Informationen über Handlungen des US-Militärs verschafft, die möglicherweise Kriegs- und schwere Menschenrechtsverbrechen darstellen, und diese veröffentlicht. Amnesty beurteilte die Vorwürfe gegen Assange als politisch motiviert und lehnte eine Auslieferung an die USA entschieden ab. (»Mutige Aussteiger«, Amnesty Journal 02-03/2018)
Eren Keskin zu mehr als sechs Jahren Haft verurteilt
Foto: Kerem Uzel / laif
Die türkische Menschenrechtsanwältin Eren Keskin ist Mitte Februar von einem Gericht in Istanbul zu sechs Jahren und drei Monaten Haft verurteilt worden. Im Hauptverfahren gegen die Zeitung Özgür Gündem, deren Chefredakteurin sie zeitweise war, sprach man sie wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung schuldig. Solange das Urteil nicht rechtskräftig ist, bleibt Keskin in Freiheit. Sie darf die Türkei aber nicht verlassen. Die Rechtsanwältin ist seit 1984 vor allem mit politischen Fällen befasst und steht wegen ihres Einsatzes für die Menschenrechte seit Jahren im Visier der türkischen Behörden. Insgesamt wurden mehr als 140 Strafverfahren gegen sie eröffnet. Die gegen sie verhängten Haftstrafen addieren sich auf knapp 24 Jahre. 2001 erhielt Keskin für ihr Engagement den Menschenrechtspreis der deutschen Sektion von Amnesty International. Amnesty bezeichnete die Terrorismusvorwürfe als absurd und das Urteil als politisch motiviert. Wieder einmal Opfer der Willkür. Eren Keskin im Oktober 2018.
PORTRÄT
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DRANBLEIBEN
(»Mehr Haft- als Lebenszeit«, Amnesty Journal 03/2020)
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KULTUR
»Cheibani«, Acryl und Öl auf Leinwand, 2019. »Cheibani, der Mann auf dem Bild, war früher ein Sklave. Viele ehemalige Sklavinnen und Sklaven in Mauretanien Situation. Cheibani beispielsweise verdient seinen Lebensunterhalt damit, Muscheln am Strand zu sammeln und anschließend zu verkaufen.« Saleh Lô.
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AMNESTY JOURNAL | 02/2021
Gesichter der Sklaverei In Mauretanien ist Sklaverei trotz des offiziellen Verbots immer noch gängige Praxis. Der Künstler Saleh Lô will mit seinen Porträts befreiten Sklavinnen und Sklaven ihre Würde zurückgeben. Von Siri Gögelmann
werden von der Gesellschaft diskriminiert und befinden sich in einer schwierigen ökonomischen
MAURETANIEN
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S
ie kochen, putzen, arbeiten im Haushalt und kümmern sich um die Kinder ihrer »Herren« – von früh bis spät, ohne Lohn, Urlaub oder Zugang zu Bildung. Schätzungen zufolge leben mehrere zehntausend Menschen in Mauretanien als Sklavinnen und Sklaven. Und das, obwohl Sklaverei in dem westafrikanischen Land seit 1981 verboten ist. Der Künstler Saleh Lô hat Proteste der Antisklaverei-Bewegung begleitet und ehemalige Sklavinnen und Sklaven getroffen. Mit Pinsel und Farbe möchte der 36-Jährige ihnen ihre Würde zurückgeben und das Thema in den Fokus der Öffentlichkeit rücken. Lô, der in der mauretanischen Hauptstadt Nouakchott aufwuchs, kam früh mit dem Thema Sklaverei in Berührung. Noch
heute erinnert er sich daran, wie er sich als Vierjähriger beim Spielen mit seinem älteren Bruder verlief. Sie irrten durch die Gegend, als eine fremde Frau sie ansprach. Anstatt ihnen zu helfen, wollte sie die Jungen mit zu sich nach Hause nehmen. Doch die beiden rannten weg. Erst Jahre später begriff Lô, dass diese Frau ihn und seinen Bruder versklaven wollte. Seitdem ist Sklaverei ein Thema für ihn, das sich auch in seiner künstlerischen Arbeit widerspiegelt. Lô, der mit 17 Jahren die Schule abschloss und sein Geld zunächst in einem Hotel verdiente, gelang der Durchbruch 2012 mit einer Ausstellung seiner Bilder in Nouakchott. Seither arbeitet er als Künstler. Für das Amnesty Journal hat er einige seiner Gemälde kommentiert.
»Khoumba«, Acryl und Öl auf Leinwand, 2016.
»Meine künstlerische Arbeit basiert auf hyperrealistisch gemalten Porträts. In der Regel sind meine Gemälde zehn bis zwanzig Mal größer als das Foto, auf das ich mich beziehe. Jede Spur und jede Schicht, die der Pinsel hinterlässt, ist deutlich sichtbar. Sie stellen für mich die Weite, Komplexität und den Reichtum der menschlichen Seele dar. Manche Gemälde erwecken einen unfertigen Eindruck. Damit möchte ich zeigen, dass die Geschichte des porträtierten Menschen noch nicht abgeschlossen ist und eine mögliche Fortsetzung oder Veränderung folgt.«
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»The path to justice«, Acryl und Öl auf Leinwand, 2016.
»Einige meiner Kindheitsfreunde sind bei der Anti-Sklaverei-Bewegung Initiative pour la Résurgence du Mouvement Abolitionniste (IRA). Sie kämpft für die Abschaffung der Sklaverei, für Chancengleichheit und ein gerechtes Mauretanien. 2015 wurde der Vorsitzende der Bewegung, Biram Dah Abeid, zu zwei Jahren Haft verurteilt. Er hatte Aktivistinnen und Aktivisten der IRA unterstützt, die sich trotz eines Verbots der mauretanischen Regierung im Süden des Landes gegen Sklaverei einsetzten. Damals gab es in Nouakchott mehrere Demonstrationen gegen die Inhaftierung von Dah Abeid. Das Bild zeigt einen dieser Protestmärsche. Die Demonstrierenden beeindruckten mich sehr. Sie gaben nicht auf, obwohl die Polizei versuchte, sie vom Justizministerium fernzuhalten und einige von ihnen sogar für mehrere Tage ins Gefängnis steckte. Über die IRA bekam ich auch Kontakt zu befreiten Sklavinnen und Sklaven, die ich dann porträtierte.«
»Aicha«, Acryl und Öl auf Leinwand, 2016.
»Aicha traf ich 2014 kurz nach ihrer Befreiung aus der Sklaverei. Sie wuchs als Tochter einer Sklavin in einer mauretanischen Familie auf. Schon als Kind diente sie dieser Familie. Für sie war es normal, im Haus ihrer ›Herren‹ zu leben und ohne Bezahlung für sie zu arbeiten. Selbst über ihr eigenes Leben zu entscheiden, war für sie unvorstellbar. Wie Aicha wird die Mehrheit der Sklavinnen und Sklaven heute in die Sklaverei hineingeboren. Bei meinen Recherchen habe ich zudem festgestellt, dass die meisten von ihnen Frauen und Kinder sind. Über die Frauen verfügen die ›Herren‹ nach Lust und Laune. Sie werden oft vergewaltigt.«
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Sklaverei in Mauretanien ist zwar offiziell verboten, sie wird jedoch strafrechtlich kaum verfolgt. Die SahelStiftung ermöglicht Kindern ehemaliger Sklavinnen und Sklaven den Schulbesuch, um sie vor prekärer Arbeit zu schützen. Von Jan-Christian Petersen
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auretanien hat die Sklaverei 1981 offiziell verboten – als letztes Land weltweit. Doch erst seit 2007 steht sie auch unter Strafe. Allerdings nur auf dem Papier. Tatsächlich existiert die Sklaverei noch heute und wird strafrechtlich kaum verfolgt. Und das obwohl das AntiSklaverei-Gesetz 2015 noch einmal reformiert und neue Maßnahmen eingeführt wurden. »Die Regierung will die Fälle einfach nicht aufarbeiten«, sagt Abidine Ould-Merzough, der gegen Sklaverei in Mauretanien kämpft. Der 51-Jährige hat 2017 die Sahel-Stiftung mitgegründet, die Kindern von ehemaligen Sklavinnen und Sklaven den Schulbesuch ermöglicht. »Bildung ist das beste Mittel gegen Sklaverei und Unterdrückung«, sagt Ould-Merzough. »Denn selbst diejenigen, die sich aus der Sklaverei befreien, haben wenig Perspektiven und verharren in prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen, weil sie über keinerlei Bildung verfügen.« Wie viele Sklavinnen und Sklaven es in Mauretanien gibt, ist unbekannt – der Global Slavery Index geht von 90.000 aus. Das sind gut zwei Prozent der Bevölkerung. Menschenrechtsorganisationen schätzen den Anteil auf zehn bis zwanzig Prozent. Ould-Merzough gehört selbst zur Bevölkerungsgruppe der Haratin, also derjenigen, die Sklavinnen und Sklaven waren oder immer noch sind. Während seiner Kindheit, die er im Dorf Cheggar in der südmauretanischen Region Brakna verbrachte, mussten die Haratin teils mit bloßen Händen Erdwälle errichten, um Wasser für die Feldarbeit zu stauen. Ould-Merzoughs Cousin sei dabei mit einem Stock zur Arbeit getrieben worden. Als sich der Jugendliche wehrte, wurden er und einige seiner
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Verwandten festgenommen und in die rund 100 Kilometer entfernte Bezirkshauptstadt Djonaba gebracht. Ould-Merzough selbst zählte zu den ersten drei Kindern der Haratin in seinem Dorf, die eine Schule besuchten. Zu verdanken hat er dies seinem Vater, der ihm in den 1970er-Jahren den Schulbesuch erkämpfte, weil er – anders als viele andere im Dorf – erkannte, wie wichtig es ist, zur Schule zu gehen. Viele Haratin kannten den Wert von Bildung nicht, sagt Ould-Merzough. Das sei auch heute noch oftmals so: »Viele Sklaven überlassen ihre Kinder der Sklaverei, weil sie selbst keine Schulbildung besitzen.« Einige wüssten nicht einmal, dass die Sklaverei inzwischen verboten sei. Die Haratin, die »schwarzen Mauren«, umfassen etwa 40 Prozent der mauretanischen Bevölkerung. Die Bevölkerungsgruppe der »weißen Mauren«, der ehemaligen und heutigen Sklavenhalter, wird Bidhan genannt. Mit 30 Prozent Bevölkerungsanteil bilden sie zwar eine Minderheit, sie besetzen jedoch nahezu alle kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Führungspositionen des Landes. Ould-Merzough erklärt, dass Bildung sie zur Übernahme der Führungspositionen qualifiziere, da nur sie sich aufgrund ihres Wohlstandes den Besuch einer der besseren privaten Schulen leisten können. Die Haratin würden hingegen abgehängt. Auf seinem Laptop zeigt er Fotos, auf denen krumme Holzpfosten zu sehen sind, zwischen denen
»Viele Sklaven überlassen ihre Kinder der Sklaverei, weil sie selbst keine Schulbildung besitzen.« Abidine Ould-Merzough AMNESTY JOURNAL | 02/2021
Foto: Hanno Schedle
Mit Bildung gegen Unterdrückung
Schulbesuch. Abidine Ould-Merzough in einer Schule in einem Armenviertel Nouakchotts. Die Schüler werden teils von der Sahel-Stiftung unterstützt.
Kanthölzer und Äste gespannt wurden. »Das sind ungefähr die Umstände, unter denen ich lesen und schreiben gelernt habe«, sagt er. Die Fotografien seien aktuell. Bis heute habe sich daran wenig geändert. Das wackelige Gerüst erinnert an eine etwas größere Gartenlaube. Bis zu 50 Schülerinnen und Schüler finden auf dem steinigen Wüstenboden Platz. Während des Unterrichts wird das Gerüst zum Schutz mit Stoffbahnen abgehängt. Ould-Merzough hält ein anderes Bild dagegen. Es zeigt einen möblierten Klassenraum in einem modernen Gebäude, in dem 18 Kinder in Schuluniformen sitzen. Sie besuchen eine teure Privatschule und werden nach internationalen Standards unterrichtet. Die Kinder sind allesamt Angehörige der Bidhan. Ould-Merzough zeigt aktuelle, teils druckfrische Werke in arabischer Sprache, die die Sklaverei in Mauretanien als gottgewollt verteidigen. Das ausbeuterische System macht ihn wütend. Mithilfe einer autoritären Auslegung islamischer Schriften würde Sklavinnen und Sklaven beigebracht, dass sie von Gott dazu bestimmt seien, anderen zu dienen. Sollten sie sich weigern, kämen sie in die Hölle. Der Aktivist begriff bereits als Kind, wie wichtig Bildung war. Als Zehnjähriger erledigte er den Schriftverkehr im Dorf. »Ich habe meine ganze Kindheit unter den Erwachsenen verbracht«, sagt Ould-Merzough. Er konnte schon früh Anträge und Formulare ausfüllen, Briefe an Behörden schreiben und vorlesen. Seine Alphabetisierung führte außerdem zu einer verbesserten Versorgungslage: In Jahren der Dürre, in denen die Bevölkerung auf Hilfsgüter angewiesen war, wurden diese von den herr-
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schenden Bidhan abgeholt und verteilt. Weil die Haratin nie rechnen, schreiben und lesen gelernt hatten, war es ihnen zuvor nicht möglich gewesen, die zugeteilten Mengen zu überprüfen. Mit Ould-Merzoughs Schulbesuch änderte sich das. Als Jugendlicher engagierte sich Ould-Merzough in der Menschenrechtsbewegung El Hor gegen die Sklaverei. Später war er an führender Stelle in den Anti-Sklaverei-Organisationen SOS Esclaves und Initiative pour la Résurgence du Mouvement Abolitionniste (IRA) aktiv. Ould-Merzough gehört außerdem zum Bundesvorstand der Gesellschaft für bedrohte Völker. Er kam nach dem Abitur nach Deutschland, um Maschinenbau zu studieren. Heute arbeitet er bei einem großen deutschen Autohersteller. Der Ingenieur spricht vier Sprachen. Die Unterstützung aus dem Ausland ist wichtig, denn in Mauretanien ist das Engagement gegen die Sklaverei nicht ungefährlich. Immer wieder werden Aktivistinnen und Aktivisten inhaftiert und strafrechtlich verfolgt. Der IRA-Aktivist Biram Dah Abeid etwa wurde bereits dreimal inhaftiert. Während der Staat gegen Anti-Sklaverei-Aktivistinnen und Aktivisten harsch vorgeht, wird die Sklaverei selbst kaum geahndet. »Auf juristischem Weg kommen wir in vielen Fällen einfach nicht voran«, sagt Ould-Merzough. »Auch deshalb haben wir die Sahel-Stiftung gegründet«, erklärt er. »Wir sammeln Geld für die Schulgebühr, vermitteln Bildungspatenschaften und verhandeln mit den Privatschulen, damit sie die Kinder umsonst aufnehmen.« Wer rechnen, lesen und schreiben kann, könne seine Rechte besser verteidigen.
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Das Hörbare sichtbar machen. »Saydnaya (the missing 19db)«, 2017. Installation des Klangkünstlers Lawrence Abu Hamdan.
»Wir können Hunger hören« Der britisch-libanesische Künstler Lawrence Abu Hamdan geht Menschenrechtsverbrechen anhand von Klängen nach. Schwierig war seine Recherche über das syrische Foltergefängnis Saydnaya: Was die Inhaftierten dort erlitten, hat er anhand ihrer akustischen Erinnerungen rekonstruiert. Interview: Hannah El-Hitami
Sie haben gemeinsam mit Amnesty International und der Forschergruppe Forensic Architecture 2016 das syrische Militärgefängnis Saydnaya rekonstruiert, das für systematische Folter und Massenexekutionen bekannt ist. Wie sind Sie dabei vorgegangen?
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Saydnaya war meine bislang schwierigste Recherche, aber auch die, bei der ich am meisten gelernt habe: über die Beziehung zwischen Ton und Gewalt und über die Art, wie wir uns an Ton erinnern. Weil die Gefangenen meist Augenbinden trugen und im Dunkeln gehalten wurden, rekonstruierten wir das Gefängnis auf Grundlage dessen, was sie gehört hatten. Sie haben mit sechs ehemaligen Gefangenen gesprochen. Wie haben die ihre akustischen Erinnerungen beschrieben? Ton hat keine eigene Sprache, die ihn beschreibt. Wir bezeichnen ihn zum Beispiel als hell oder scharf, leihen also Begriffe für andere Sinneseindrücke aus. Um von den Gefangenen zu erfahren, was sie in Saydnaya gehört haben, musste ich kreativ werden. Zum Beispiel habe ich Objekte genutzt, um Geräusche in verschiedenen Lautstärken nachzumachen. Ein Zeuge konnte Geräusche der Zellentürschlösser identifizieren, woraus wir ableiteten, wie viele Personen auf seinem Gang festgehalten
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Foto: David Levene / Guardian / eyevine / laif
Ist es für Gefangene nicht retraumatisierend, sich solche Geräusche anzuhören? Ganz im Gegenteil: Psychologen und Traumaexperten sagten uns, dass es Zeugen am meisten traumatisiert, wenn man sie bittet, eigenständig zu rekapitulieren, was passiert ist. Die Person muss sich alles selbst vorstellen, sich ganz alleine in diesen Raum begeben. Wir sagten nicht: »Schließ deine Augen und versetze dich an den Ort zurück«, sondern spielten Geräusche ab. Dadurch erlaubten wir den Zeugen, die Erinnerungen anhand dieser Details abzurufen, anstatt selbst danach zu suchen. Wir brachten sie nicht näher heran, sondern erzeugten Distanz zwischen ihnen und dem Gefängnis, indem wir es zum Objekt machten: Sie konnten es auf einem Bildschirm sehen, hören, berühren. Neben Geräuschen spielte auch Stille eine wichtige Rolle. Wie konnten Sie die greifbar machen? Stille wurde in Saydnaya brutal umgesetzt. Die Gefangenen durften keinen Ton von sich geben, selbst wenn sie gefoltert wurden. Stille war das erste, was ihnen befohlen wurde, und es war das letzte, woran sie scheiterten und weswegen sie ihr Leben verloren. Es kam zum Beispiel vor, dass jemand hustete, und deswegen mit dem Tode bestraft wurde. Ich sehe die Stille als eine eigene Form der Misshandlung. Ich wollte sie genauso verstehen, wie man jede andere Waffe und den Schaden, den sie anrichtet, untersuchen würde. Ich habe viel Zeit damit verbracht, diese Stille zu analysieren. Sie stellten fest, dass die Lautstärke, in der sich Gefangene in Saydnaya unterhalten durften, nach Beginn der syrischen Revolution um 19 Dezibel sank. Dafür verglichen Sie die Aussagen von Inhaftierten vor und nach 2011. Wie gingen Sie vor? Zunächst bat ich sie, zu wiederholen, in welcher Lautstärke sie gesprochen hatten. Damit hatte ich aber keinen Erfolg, denn sie unterschieden sich sehr stark voneinander. Ich bat sie also stattdessen, sich zu erinnern, in welcher Lautstärke andere mit ihnen gesprochen hatten. Ich spielte einen Ton ab, machte ihn immer leiser, und sie sollten sagen, an welcher Stelle er sich richtig anhörte. Da waren die Zeugen dann alle weniger als fünf Dezibel voneinander entfernt, was extrem akkurat ist. In Koblenz stehen derzeit zwei ehemalige syrische Geheimdienstmitarbeiter wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht. In dem Verfahren berichten zahlreiche Zeuginnen und Zeugen über ihre Erfahrungen in einem Geheimdienstgefängnis, in dem sie nur mit Augenbinden die Zellen verlassen durften. Warum wird in einem solchen Prozess keine Analyse wie Ihre angewandt, um Beweise zu sammeln? Ich glaube, dass unsere Methoden einen hohen Wahrheitswert haben. Das wurde auch im Nachhinein bestätigt, als wir unsere Ergebnisse mit den Aussagen ehemaliger Wärter abglichen. Aber sie entsprechen eben nicht den Standards, die ein Gericht nutzt, um in einem Strafverfahren Beweise zu sammeln. Wir erfuhren in unserer Recherche zwar viele forensisch valide Fakten. Aber einige der aufschlussreichsten Aussagen waren die, in denen Zeugen ganz verzerrte Erinnerungen beschrieben.
LAWRENCE ABU HAMDAN
»Ich sehe Stille als eine eigene Form der Misshandlung. Eine Waffe, die Schaden anrichtet.« Was meinen Sie damit? Bei einem Zeugen namens Samer versuchten wir herauszufinden, wie nah er an der Haupttür gewesen war. Ich spielte also das Geräusch einer großen Tür ab, und Samer sagte mir immer, ich solle das Geräusch noch lauter machen. Irgendwann war es so laut, dass es unmöglich die tatsächliche Lautstärke der Tür gewesen sein konnte. Es klang eher so laut wie ein Autounfall. Da sagte Samer, so habe nicht die Tür geklungen, sondern das Brot, wenn es morgens vor die Tür seiner Zelle geworfen wurde. Einen solchen Beweis kann man nicht in einem Gerichtssaal präsentieren. Was er sagt, ist unmöglich: dass das Geräusch eines Brotes, das auf dem Boden landet, so laut ist wie ein Autounfall. Genau. Aber ich habe in dem Moment sehr viel über das Gefängnis verstanden. Es geht nicht um die Geräusche, die die Gefangenen dort hörten, sondern darum, was diese ihnen bedeuteten: in diesem Fall, dass sie hungrig waren, dass sie im Dunkeln waren, und dass es still war. Ein winziges Geräusch beschrieb Samer als das lauteste. Seine Aussage ist verzerrt, doch genau diese Verzerrung ist ein Beweis für extreme Mangelernährung. Wenn wir die richtigen Instrumente haben, können wir Hunger hören. Die Ergebnisse Ihrer Arbeit landeten nicht im Gerichtssaal, sondern waren in renommierten Kunstmuseen und in Ausstellungen zu sehen. Passt ein syrisches Foltergefängnis in eine Kunstgalerie? Die Erfahrungen aus dem Gefängnis müssen sichtbar, hörbar und verstehbar werden. Ich wollte das Projekt in einem künstlerischen Raum fortsetzen, weil die Menschen dort Stille, Abstraktion und Verzerrung gewohnt sind. Das kennen sie spätestens seit dem Impressionismus. Das Publikum ist deshalb in der Lage, sich Aussagen anzuhören, die woanders nicht funktionieren.
LAWRENCE ABU HAMDAN
Foto: Amnesty
wurden. Diese Information glichen wir später mit den Aussagen von Gefangenen ab, die auf dem gleichen Flur festgehalten worden waren.
Lawrence Abu Hamdan (35) ist ein libanesisch-britischer Künstler, der sich selbst als »Private Ear« bezeichnet, als »akustischen Privatdetektiv«. Er studierte Sonic Arts in London und promovierte anschließend zur Geschichte der forensischen Linguistik am Goldsmiths College. Für seine Arbeit zu Saydnaya gewann Abu Hamdan 2019 den renommierten britischen Turner Prize. Er lebt in Dubai.
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Der türkische Staat setzt Kunst- und Kulturschaffende willkürlichen Repressionen aus. Aus Istanbul Sabine Küper-Büsch
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er Kunstraum depo liegt im Istanbuler Innenstadtviertel Tophane. Das ehemalige Tabakwarenlager stammt aus dem Familienbesitz Osman Kavalas. Der Mäzen stellt das zentrale, dreistöckige Gebäude seit mehr als einem Jahrzehnt für Ausstellungen und andere Kulturveranstaltungen zur Verfügung. Das künstlerische Programm rankte sich ursprünglich vor allem um Menschenrechts- und Minderheitenthemen. Innovative, politische Dokumentarfilme hatten dort ein Stammpublikum. Heute beschränken sich die Aktivitäten auf wenige Einzelausstellungen von Künstlern mit weniger politischen Konnotationen. »Ich war immer ein strikter Gegner von Militärinterventionen«, sagte der Geschäftsmann und Kulturförderer Osman Kavala zum Auftakt eines neuen Verfahrens gegen ihn am 18. Dezember 2020. Mit fester Stimme wies er die Vorwürfe zurück, Drahtzieher des Putschversuches im Jahr 2016 gewesen zu sein. Die türkischen Behörden werfen Kavala Landesverrat vor, im Falle einer Verurteilung droht ihm eine lebenslange Haftstrafe. Seit mehr als drei Jahren sitzt er in Untersuchungshaft. Im Februar 2020 sprach ihn ein Gericht von dem Vorwurf frei, Drahtzieher der Gezi-Proteste im Jahr 2013 gewesen zu sein, bevor er sich mit neuen, noch unglaublicheren Vorwürfen konfrontiert sah. Kavalas Anwälte bezeichnen die gesamte Anklage als Verschwörungstheorie. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte den Mäzen bereits bei der Festnahme als »roten Baron« bezeichnet, der ein »Handlanger dunkler Mächte« sei. Zu den dunklen Mächten zählen nach Auffassung der türkischen Justiz etwa der amerikanische Milliardär George Soros und die CIA. Kavala betonte bei der Anhörung im Dezember, die von Soros finanzierte Open Society Foundation, deren Berater er war, habe in der Türkei als eingetragener Verein jahrelang legal Förderprogramme zur Stärkung der Zivilgesellschaft finanziert. Die Verhandlung wurde vertagt. Einen Antrag auf Haftentlassung lehnte das türkische Verfassungsgericht am 29. Dezember ab, obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bereits ein Jahr zuvor entschieden hatte, Kavala müsse umgehend freigelassen werden. Der Fotograf Mehmet Kaçmaz spricht von einer Farce der türkischen Justiz und sieht in Kavala einen Sündenbock des Prä-
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sidenten. »Von der AKP kann man mittlerweile nicht mehr als Partei sprechen, es gilt dort und in der Regierung nur noch die Stimme eines Mannes, der alles entscheidet.« 2023 ist der 100. Jahrestag der Republik, bis dahin wolle Recep Tayyip Erdoğan die republikanische Geschichte umdeuten, meint Kaçmaz. Der niedergeschlagene Putschversuch 2016 habe da eine unheilvolle Rolle zugewiesen bekommen, habe als eine neue Form des türkischen Befreiungskampfes zu dienen, wie der von Mustafa Kemal Atatürk geführte Unabhängigkeitskrieg gegen das kolonialistische Europa. Kaçmaz selbst arbeitet derzeit an einer Dokumentation der ökologischen Auswirkungen des geplanten Milliardenprojektes »Kanal Istanbul«. Das Bauprojekt soll das Schwarze Meer und das Marmara-Meer miteinander verbinden. »Es geht mir darum, mit meinen Fotos zu zeigen, dass die letzten Biotope um Istanbul herum in Gefahr sind.« Bis November war Kaçmaz Mitglied des unabhängigen Nar-Kollektivs, einer Gruppe von Fotografen, die sowohl in der Türkei als auch international für hervorragende politische Dokumentarfotografie bekannt war. Während der Gezi-Proteste zeigten die Fotografen im depo IstanbulLandschaften. »Eine Aussicht für eine Million«, hieß die Ausstellung, deren Konzept genial war: Die Fotografen waren mit städtischen Bussen bis zu den Endhaltestellen gefahren und hatten dort, in der Peripherie der 16-Millionen-Metropole, ein Istanbul fotografiert, das fast niemand kennt. Eine Stadt, die in Baustellen versinkt. Trabantensiedlungen, die ohne jede Infrastruktur in der Landschaft stehen, um die Migranten aus anderen Teilen des Landes aufzunehmen, die nach Istanbul strömen. Auf einem Foto sitzt ein alter Mann auf einem zerlumpten Sessel auf einem Acker und blickt verloren auf ein Hochhausmeer. Sogar im Istanbul Modern, einem Museum für zeitgenössische Kunst, stellten die Nar-Fotografen aus, doch das Kollektiv hat sich inzwischen aufgelöst. »Es war irgendwie die Luft raus«, sagt Kaçmaz. Seine Arbeit setzt er seither als unabhängiger Fotograf fort.
Die neue Günstlingswirtschaft Diese Entwicklung ist exemplarisch für das vergangene Jahrzehnt. Als Istanbul 2010 Kulturhauptstadt Europas war, entdeckte die türkische Regierung, welches Potenzial Kultur hat, um Menschen zu mobilisieren. Doch was damals als liberale Kulturförderungspolitik in Zusammenarbeit mit der EU begann, ist längst in Günstlingswirtschaft und Repression Andersdenkender umgeschlagen. Inzwischen müssen die Kulturschaffenden ständig mit Strafverfolgung und Zensur rechnen. »Der Bewegungsradius wird immer enger«, sagt der kurdisch-deutsche
AMNESTY JOURNAL | 02/2021
Foto: Mehmet Kaçmaz / NarPhotos / laif
Die Mechanismen der Selbstzensur
Endstation. Der Fotograf Mehmet Kaçmaz zeigte mit einem Künstlerkollektiv während der Gezi-Proteste Stadtansichten der Istanbuler Peripherie.
Maler Mahmut Celayir und nippt an seinem Teeglas. Er hat ein Atelier in der Nähe des Galataturmes im Istanbuler Stadtviertel Beyoğlu. An einer Wand der Altbauwohnung lehnen großformatige abstrakte Bilder. Celayir beschäftigt sich seit Jahren mit der Landschaft seiner Heimat Bingöl in Ostanatolien, mal in plakativ farbigen, mal in düsteren Nuancen. Das politische Klima fließt immer wieder in seine Malerei ein. Den Sommer hat Mahmut Celayir nicht nur wegen der Pandemie in den Bergen von Bingöl verbracht. »Ich habe mir eine Zeitlang den Luxus gegönnt, nur noch zu malen, und die aktuellen Entwicklungen nur am Rande zu verfolgen.« Es vergeht kein Tag, an dem nicht Nachrichten über Repressionen gegen die Medien- und Kulturszene die Online-Netzwerke beschäftigen. Künstler und Medienschaffende werden angeklagt oder gar festgenommen, weil sie den Präsidenten, die Werte des Volkes oder die der Nation beleidigt haben sollen. »Das Ganze wirkt von außen oft wie eine Posse«, meint Celayir, »aber die Konsequenzen für den Einzelnen sind oft dramatisch, und die Wirkung auf das politische Klima ist absolut toxisch«. Die Atemschutzmasken gegen das Coronavirus erscheinen dem Künstler in diesen Tagen daher auch als ein Symbol für eine Gesellschaft, die politisch nach Atem ringt. So verbot etwa der für den Istanbuler Stadtteil Gaziosmanpaşa zuständige Staatsbeamte am 13. Oktober dem dortigen Stadttheater eine Vorstellung der kurdischen Theatergruppe »Teatra Jiyana Nû« (Neues Leben). Sie wollte unter dem kurdischen Titel »Bêrû« (Gesichtslos) eine Adaption der Komödie »Hohn der Angst« von Dario Fo aufführen. Momentan könne
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niemand wirklich einschätzen, was toleriert werde und was nicht, sagt Celayir. »Willkür ist immer das stärkste Druckmittel, weil es bei vielen die Mechanismen der Selbstzensur auslöst.« Im November wiederum zeigte der kleine unbekannte Ausstellungsort Kiraathane Edebiyat Evi eine hervorragende Ausstellung mit Arbeiten der kurdischen Künstlerin Zehra Doğan. Sie entstanden zwischen 2016 und 2019 in verschiedenen Gefängnissen in der Türkei. Die Künstlerin fertigte mit einem aus ihren Haaren gefertigten Pinsel eindrucksvolle Bilder, die die Repression in verschiedenen Provinzen an der Grenze zu Syrien und dem Irak zum Thema haben. Rollende Panzer, verzweifelte Frauen. Impressionen, die sie mit Tee, Kaffee, Abfallstoffen und Blut auf verschiedenen Tüchern, Laken, Kleidern, Handtüchern und Taschentüchern festhielt, die ihre Mutter ihr in das Gefängnis schickte. Mittlerweile lebt Zehra Doğan im Ausland. In der Türkei läuft ein Strafverfahren gegen sie wegen staatsfeindlicher Aktivitäten.
Momentan kann niemand wirklich einschätzen, was toleriert wird und was nicht. 71
»Auch von mir wurde erwartet, ein gutes Mädchen zu sein« Liraz Charhi, Jahrgang 1978, ist eine israelische Sängerin, Schauspielerin und Tänzerin. Sie wuchs als Kind iranisch-jüdischer Einwanderer in der israelischen Stadt Ramla auf. Nach zwei hebräischsprachigen Alben veröffentlichte sie mit »Naz« (2018) ihr erstes Album auf Farsi. 2020 erschien »Zan«, auf dem Liraz Charhi ebenfalls auf Farsi singt. Als Schauspielerin wurde sie bekannt u. a. durch die Spielfilme »Turn Left at the End of the World« (2004), »Fair Game« (2010) und »Saiten des Lebens« (2012). Zuletzt war sie als Mossad-Agentin Yael Kadosh in dem mehrteiligen Spionage-Thriller »Teheran« zu sehen (Apple TV+).
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AMNESTY JOURNAL | 02/2021
Die Sängerin Liraz Charhi richtet sich mit ihrem die Freiheit feiernden Album »Zan« an iranische Frauen. Ein Gespräch über die Identitätsfindung als persischstämmige Israelin und heimlich aufgenommene Musik. Interview: Till Schmidt
Auf Ihrem neuen Album »Zan« singen Sie auf Farsi – ungewöhnlich für eine israelische Musikerin. Wie kam es dazu? Meine Eltern sind 1964 und 1970 nach Israel eingewandert. Sie haben den Iran verlassen, weil sie dort ihr Judentum nicht offen leben konnten und im Alltag antisemitische Anfeindungen erleben mussten. Das war noch vor der Islamischen Revolution, als es noch eine gute Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern und den Menschen gab. Ich wurde in Israel geboren und bin in Ramla aufgewachsen, einer Provinzstadt, eine Dreiviertelstunde von Tel Aviv entfernt. Lange Zeit habe ich mich gefragt, was ich denn bin – israelisch, persisch, beides? Auf Ihren ersten beiden Alben haben Sie auf Hebräisch gesungen, »Naz« aus dem Jahr 2018 war das erste auf Farsi. Gab es für diese Entwicklung einen bestimmten Wendepunkt? Zu Beginn meiner Karriere als Schauspielerin, Sängerin und Tänzerin war mein persisches Erbe kein Thema. Vor einigen Jahren erhielt ich dann eine Einladung zu einem Filmfestival in Los Angeles. Wegen der vielen Iraner wird L. A. ja als »Teherangeles« bezeichnet. Zu Recht, und dort verstand ich, wie groß meine tatsächliche Familie ist. Das war verrückt. Da ich einige Jahre regelmäßig in L. A. gearbeitet habe, konnte ich dort die iranisch geprägten Viertel, die Musik, das Essen erkunden und Iraner kennenlernen – und damit auch mein eigenes kulturelles Erbe.
Foto: Ronen Fadida
Mit welchem Bild vom Iran kamen Sie in »Teherangeles« an? Mein ganzes Leben hatte ich zwar auch wunderschöne Geschichten über den Iran gehört. Vor allem aber hatte ich das Land als einen hässlichen Ort wahrgenommen, als Ort des extremen Islam, wo Leute sich anschreien, über Bomben reden und uns Israelis verteufeln. Als Ort, wo Frauen ihre Gesichter verdecken müssen, ein freudloses Leben führen und zum Schweigen verdammt sind. Das ähnelt durchaus auch der Geschichte meiner Großmütter, die mit 13 und 15 Jahren verheiratet worden sind. Immer, wenn ich in L. A. gelandet bin, verspürte ich den Drang, mich selbst besser kennenzulernen. Und jedes Mal kehrte ich mit Koffern voller iranischer Platten und CDs mit Popmusik aus der Zeit von vor 1979 nach Israel zurück. Hatten Sie eine Lieblingsplatte damals? In die Musik von Googoosh habe ich mich sofort verliebt. Da ist etwas Faszinierendes in ihrer Stimme. Sie ist frech, nicht höflich, entschuldigt sich nicht, eine Frau zu sein. Als Sängerin und Schauspielerin hat sie ihre Sexualität, ihre Persönlichkeit offen gelebt und immer so gesungen, wie sie das wollte, und sich auch in ihrem Modestil nicht angepasst. Auch nach der Islamischen Revolution hat sie ihr Leben, ihre Seele, ihre Persönlichkeit und ihre Karriere trotz der Repression nicht aufgegeben – und ab einem bestimmten Punkt einfach außerhalb des Iran weitergemacht. Für mich steht Googoosh für die Freiheit der iranischen
LIRAZ CHARHI
Frauen. Das war neu für mich und hat mich als Frau stark inspiriert. Ich merkte, dass auch ich, zu Hause in Israel, stumm gemacht wurde. Auch von mir wurde wie selbstverständlich erwartet, ein ‚gutes Mädchen‘ zu sein, früh zu heiraten und Kinder zu bekommen. Um mehr bei mir selbst zu sein, habe ich mich scheiden lassen. Das war der erste Schritt. Irgendwann später in diesem Prozess wurde mir klar: Ich muss auf Farsi singen. Für Ihr neues Album »Zan« haben Sie mit iranischen Musikern zusammenarbeitet. Wie war das möglich? Es ging nur, weil die Zusammenarbeit geheim über das Internet erfolgte. Die beteiligten Musiker und Komponisten waren sehr, sehr mutig. Von israelischer Seite ist eine Zusammenarbeit gar kein Problem, aber im Iran mit dem Erzfeind Israel zusammenzuarbeiten, das ist wirklich gefährlich. Deshalb habe ich mich entschieden, die iranischen Künstler im Booklet nicht namentlich, sondern nur anonymisiert zu nennen. Immer wieder hing die Produktion am seidenen Faden, weil seitens der Iraner jederzeit etwas schiefgehen konnte. Honorare musste ich über Umwege – etwa via Türkei oder Deutschland – überweisen. Immer mal wieder mussten wir neue, sicherere Wege der Kommunikation finden, damit nichts auffliegt. Der gesamte Prozess war für mich emotional sehr aufreibend. »Zan« bedeutet übersetzt »Frauen«. Welche Botschaft haben Ihre Lieder? Sie richten sich speziell an iranische Frauen. Gleich der erste Song, »Zan Bezan« (Von Frau zu Frau), aber auch »Nafaz« (Atem) und »Hala« (Jetzt) thematisieren das ziemlich direkt. Es geht darum, für die eigene Freiheit zu kämpfen, Widerstände zu brechen, zu singen, zu tanzen und zu jubeln. Haben Sie auch eine Botschaft an die Frauen in Israel, wo es zwar keinen staatlich verordneten Kopftuchzwang, aber ebenfalls viel männlichen Chauvinismus gibt? Mir selbst ist es schon passiert, dass in Jerusalem Konzerte abgesagt wurden, weil sich streng Religiöse beschwert haben. Es passiert also auch in Israel, auch wenn es natürlich eine andere Qualität hat als im Iran. Letztlich ist meine Botschaft an alle Frauen und Mädchen gerichtet, auch an meine Töchter. Meinen eigenen, konservativen Vater musste ich erst überzeugen, dass »Zan« einfach Ausdruck meiner eigenen Persönlichkeit und ein wichtiger Teil meines künstlerischen Werdegangs ist. Zunächst meinte er, ich könne doch nicht einfach die iranischen Frauen zu einer Revolution gegen das dort geltende Gesetz auffordern. Ihr neues Musikvideo zu »Bia Bia« (Komm, Komm) erinnert ästhetisch stark an Googoosh und andere Sängerinnen aus dem Iran vor der Islamischen Revolution. Ist das Zufall? Nein. Für das Video habe ich die Geschichte einer meiner Großmütter aufgegriffen. Sie ist heute 81 Jahre alt und hat eine wunderschöne Stimme. Damals im Iran wollte sie ebenfalls Sängerin werden, und bei jeder Bar Mizwa, Hochzeit oder Party hat sie versucht, sich ein Mikrofon zu schnappen. Doch auch sie wurde zum Schweigen gebracht. Stattdessen ging sie heimlich zu Underground-Konzerten, wohin sie später auch meine Mutter mitgenommen hat. In »Bia Bia« – das Lied ist ein Ruf an meine Liebe, mit mir zusammen zu singen und zu tanzen – habe ich diese Geschichte aufgegriffen und einen solchen Club nachbauen lassen. Damit habe ich den Traum meiner Großmutter nachgespielt, auf der Bühne zu stehen und zu performen.
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Bestien & Göttinnen Der Fotograf und bildende Künstler Igor Vidor arbeitet zu Polizeigewalt in Brasilien. Weil er mit dem Tode bedroht wurde, floh er nach Berlin. Hier beschreibt er einige seiner Arbeiten. Von Malte Göbel
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s ging nicht mehr so weiter. Ich bekam Todesdrohungen. Und dann wurde es auf einmal sehr still. Zu still. Also habe ich zu meiner Frau gesagt: Wir sollten weg von hier, so schnell wie möglich.« Igor Vidor ist ganz ruhig, als er das erzählt. Er sitzt auf einer Couch, trägt eine rote Wollmütze, Corona-Frisur. Seine tiefe Stimme flößt sofort Vertrauen ein. Von der Panik, die er damals wahrscheinlich empfand, ist kaum etwas zu spüren. Mittlerweile lebt der Fotograf und Bildende Künstler in Berlin. Seit Juni 2019 ist er Stipendiat der Martin-Roth-Initiative, die verfolgten Kulturschaffenden einen Schutzraum bietet: Wer in seinem Heimatland wegen seiner Kunst verfolgt oder bedroht wird, soll herausgeholt werden, mit einem Stipendium. Für Igor Vidor war es 2019 die Rettung. »In Berlin konnte ich endlich wieder nachts durchschlafen.« Vidor ist ein politischer Künstler. Seine Werke befassen sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in seiner Heimat, mit der Gewalt im öffentlichen Raum – und das bedeutet auch immer Polizeigewalt. »Brasilien wird von vielen Menschen so positiv gesehen, es gibt diesen Gründungsmythos: Die Brasilianer glauben, sie seien tolerant, vielfältig und friedlich … aber das stimmt nicht! Wir haben die höchste Mordrate der Welt, die höchste Rate von Polizeimorden, auch von Morden an Polizisten, die höchsten Raten von Morden an Frauen, an Trans, an Schwulen und Lesben«, zählt er auf. »Wir sind einfach kein friedliches Land. Brasilien ist gefährlich und gewalttätig.« Dass Gewalt zum Alltag gehört, hat Igor Vidor von klein auf gelernt. Wirklich aufgefallen ist es ihm erst später. Geboren wurde er 1985 in einem armen Vorort von São Paulo, der Vater war Lastwagenfahrer, die Mutter blieb nach der Geburt des zweiten Kindes zu Hause. »Ich wuchs in einer Gegend auf, in der die Straßen nachts gefährlich sein können, wegen der Polizei.« Die Polizei war nicht Freund und Beschützer, sondern Bedrohung. »Es ist krass: Brasilien ist eine Demokratie, aber es ist schwer, den Polizisten zu vertrauen.« Neun seiner Freunde sind von der Polizei getötet worden – dass das nicht normal ist, fiel ihm erst nach dem Tod seines Jugendfreundes Rodrigo auf. Der arbeitete für ein Drogenkartell und wurde 2016 von der Polizei gefoltert und ermordet. »Ich dachte: Oh fuck, was passiert hier eigentlich?« Seitdem war Vidor klar, dass er noch mehr über die Themen Sicherheit und Gewalt und die Verbindung von beidem reden muss. Er begann zu recherchieren. »Es war sehr leicht, Namen und Verbindungen zu finden.« Doch geht es ihm weniger um Namen, als vielmehr um die Strukturen dahinter: »Ich als Künstler habe eine andere Perspektive als ein Journalist. Ich möchte tiefer gehen als die Schlagzeilen in einer Zeitung.« Doch Vidors Recherchen fielen auf, bald bekam er Morddro-
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hungen. Sein Instagram- und sein E-Mail-Account wurden gehackt. Einzelheiten möchte Vidor nicht erzählen, um sich nicht in Gefahr zu bringen, aber: »Die Drohungen enthielten spezifische Angaben über mich und meine Arbeit« – also doch ein Grund, besorgt zu sein. Mit einem Freund, der sich in IT-Sicherheit auskennt, verfolgte er die Drohungen zurück und landete bei einem Polizisten. »Wir fanden heraus, dass er Verbindungen zu einer illegalen Militäreinheit hatte, einer Miliz. Das ist ernst.« Die gleiche Gruppe hatte im März 2018 die Politikerin Marielle Franco umgebracht, was international Aufsehen erregte. Obwohl die von Vidor gesammelten Informationen gereicht hätten, den Mann vor Gericht zu bringen, entschied er sich dagegen, ihn anzuzeigen. »Wir hatten Angst vor Racheakten. Und als ich erfuhr, dass es Versuche gab, mich mit einem Drogenkartell in Verbindung zu bringen, war klar: Ich muss da raus.«
»Teresa und Moira«, 2019. »Teresa und Moira ist der Name dieses Seils aus verdrehten Bettlaken, die von einem Draht zusammengehalten werden. Auf den Laken sind Blutflecken – die Laken bedeckten einst Mordopfer auf Straßen in Brasilien. Teresa ist Umgangssprache für aneinander geknotete Laken, die man aus dem Fenster hängt, um aus dem Gefängnis auszubrechen. Die Bezeichnung geht auf eine christliche Legende aus dem 14. Jahrhundert zurück, in der ein gefangener Priester eine Vision von Santa Teresa hatte, die ihm so zum Ausbruch verhalf. Die Moiren sind in der griechischen Mythologie die drei Schicksalsgöttinnen. Das Werk ›Teresa und Moira‹ schafft so ein Paradox, eine Spannung aus Schicksal, Flucht und Freiheit.«
AMNESTY JOURNAL | 02/2021
»Alltägliches Nr. 1«, 2018. »Das Werk zeigt Gegenstände, die von der Polizei für Waffen gehalten wurden. Menschen, die diese Gegenstände bei sich trugen, wurden von der Polizei erschossen. Das zeigt die tägliche Barbarei und die Fragilität des Lebens in bestimmten Gegenden von Rio de Janeiro. In keinem der Fälle wurde die Polizei zur Verantwortung gezogen.«
Fotos: Igor Vidor (3), Filipe Berndt
Zunächst waren Igor Vidor und seine Frau Gabriela in Brasilien auf der Flucht, von Haus zu Haus, von Region zu Region. Durch seine Arbeit in Rio de Janeiro hatte Vidor Kontakt zum Goethe-Institut, das ihn mit der Martin-Roth-Initiative zusammenbrachte. Nach zehn Monaten bürokratischer Hürden kam er im Juli 2019 mit seiner Frau in der deutschen Hauptstadt an. »Berlin war nicht geplant. Aber endlich fühlten wir uns wieder sicher.« 2020 wurde das Stipendium um ein Jahr verlängert, weil es Hinweise gab, dass Vidor weiterhin gefährdet ist. In Berlin kann Vidor in Ruhe arbeiten. Seine Werke beschäftigen sich weiterhin mit Polizeigewalt und den Strukturen dahinter – mit Drogen- und Waffenhandel, mit dem deutschen Waffenhersteller Heckler & Koch. Vidor hat für die Berlinische Galerie einen Kurzfilm gedreht, in dem er Oberndorf besucht, den Sitz des Rüstungsunternehmens, ein malerisches Örtchen im Neckartal. »Es ist so friedlich dort, aber sie exportieren den Tod!« Die Waffen, mit denen sein Freund Rodrigo und die Politikerin Marielle Franco umgebracht wurden, stammten von Heckler & Koch. »Diese Verbindung nach Deutschland ist schon verrückt, und jetzt ist es genau das Land, das uns Sicherheit bietet.« Wie es für Igor Vidor und seine Frau weitergeht, ist unklar. Im Juli läuft das Stipendium aus. Im Augenblick loten die beiden Porto als neue Heimat aus. Oder Vidor bleibt in Berlin, wo er mittlerweile gut vernetzt ist. Nur nach Hause kann er nicht. »Es ist nicht sicher für mich, nach Brasilien zurückzukehren.«
»Batidão M4A1, Geschenk an den Erlöser«, 2018. »Diese Arbeit ist die erste einer Serie von Skulpturen, die in Realgröße für die Statue von Christus dem Erlöser in Rio de Janeiro gedacht sind. Das Werk bezieht sich auf öffentliche Sicherheitsprogramme, die exklusive Bereiche für Tourismus und Handel schaffen und kulturelles Erbe schützen sollen, während im Mittelstand von Rio gleichzeitig das Spiel mit Softairwaffen immer populärer wird.«
IGOR VIDOR
»Biest – Bestie« (aus der Serie »Allegorie des Terrors«), 2020. »Auf den Wappen von Militär- und Zivilpolizeieinheiten in Brasilien sind oft Tiere dargestellt. Anders als bei indigenen Völkern, wo Tierdarstellungen für spirituelle Verbindungen stehen, können sie bei der Polizei als eine Distanzierung von Menschlichkeit gedeutet werden – und als Zeichen einer institutionalisierten Bestialität. Das Werk ist eine Collage von Körperteilen verschiedener Tiere von Polizeiwappen, um ein neues Ungeheuer zu erschaffen. Gedruckt auf Aramid, einem kugelsicheren Stoff, der dem eigentlich dreidimensionalen Kunstwerk, das Raum einnimmt, gleichzeitig etwas von seinem Umfang nimmt. Diese Ebenheit verstärkt den allegorischen Charakter und schafft eine bestialische Darstellung.«
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Tod eines Kriegsdienstverweigerers In Westdeutschland mussten sich Generationen junger Männer, die den Wehrdienst verweigerten, einer entwürdigenden Gewissensprüfung unterziehen. In »Gegen mein Gewissen« erinnert Hannah Brinkmann an einen Pazifisten, der daran zerbrach. Von Wera Reusch
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Foto: Avant-Verlag
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ie Autorin ist fünf Jahre alt, als sie bei einem Familientreffen an Weihnachten erfährt, dass ihr Onkel Hermann »im Himmel« sei. Als sie wissen will, warum, erklärt ihr Vater: »Das erzähle ich dir, wenn du groß bist!« Zwanzig Jahre später feiert die Familie im selben Haus erneut gemeinsam Weihnachten, als die Autorin ihrem Vater verkündet, sie wolle Hermanns Geschichte erzählen. Ihre Idee stößt zunächst auf wenig Begeisterung: »Warum muss man das alles jetzt wieder aufwühlen«, fragt ihr Vater. Die beiden Sequenzen machen den autobiografischen Hintergrund dieser Graphic Novel deutlich: Hannah Brinkmann erzählt in »Gegen mein Gewissen« die Geschichte ihres Onkels, der sich 1974 das Leben nahm, nachdem seine Kriegsdienstverweigerung Verzweifelt. Während eines Wehrurlaubs begeht Hermann Brinkmann Suizid. aus Gewissensgründen abgelehnt worden war. Das wohl er beim Verwaltungsgericht dagegen klagt, wird Hermann Buch setzt Mitte der 1950er-Jahre ein, als die allgemeine Wehrzur Bundeswehr eingezogen. Wenige Monate später bringt er pflicht und ein mehrstufiges Prüfungsverfahren für Kriegssich während eines Wehrurlaubs in Lindern um. In ihrer Todesdienstverweigerer eingeführt wurden. anzeige macht die Familie deutlich, dass sie der Bundeswehr Der 1955 geborene Hermann wächst in einer kinderreichen eine Mitschuld am Tod des 19-Jährigen gibt, und löst damit Familie im niedersächsischen Lindern auf. In ausgewählten Szeeinen Skandal aus. Es wird jedoch noch Jahre dauern, bis die nen schildert Hannah Brinkmann den empfindsamen Charakerniedrigende Gewissensprüfung ausgesetzt wird. ter des Jungen, der bereits als Kind kein Cowboy mit Pistole sein Hannah Brinkmann erzählt weit mehr als die Geschichte will und seinen Vater kritisiert, der auf die Jagd geht. Die detailihrer Familie. In starken, surrealen Bildern verdeutlicht sie die reich gezeichneten Bilder lassen die 1960er- und 1970er-Jahre verzweifelte Lage eines jungen Menschen, der wegen seiner polilebendig werden – die Ordnung, Enge und den autoritären Geist tischen Überzeugungen so sehr unter Druck gesetzt wird, dass er einerseits, das Aufbegehren und die kleinen Fluchten der Judaran zerbricht. »Hermann war ein Opfer verfehlter konservatigendlichen andererseits. Ob der Messbecher in der Küche oder ver Nachkriegspolitik«, sagt die Autorin in der zweiten autobiodas Plattencover im Jugendzimmer – Brinkmann hat jede Kleigrafischen Sequenz zu ihrem Vater: »Das System hat Kriegsnigkeit recherchiert und bringt den Zeitgeist präzise auf den dienstverweigerer gedemütigt und misshandelt. Amnesty InterPunkt. national hat sie als politisch Verfolgte betrachtet.« Ihr eindrucksDas eigentliche Drama beginnt, als Hermann seinen Mustevolles Buch erinnert an ein bedrückendes Kapitel rungsbescheid bekommt. Anders als seine beiden älteren Brüder jüngeren Zeitgeschichte, das selbst viele Betrofder will er weder eine Krankheit vortäuschen noch nach Westfene inzwischen vergessen oder verdrängt haben. berlin abhauen, um dem Verfahren zu entgehen. »Ich schiebe keine verlogenen Ausreden vor! Ich bin kein Feigling«, erklärt er seinen Geschwistern. Er stellt sich der schikanösen GewissensHannah Brinkmann: Gegen mein Gewissen. Avant-Verlag, prüfung und wird in erster wie zweiter Instanz abgelehnt. ObBerlin 2020, 232 Seiten, 30 Euro
Reflexionen über Flucht
Revolutionäres Scheitern analysiert
Dina Nayeri wurde 1979 in Isfahan geboren und kam als Zehnjährige in die USA: Ihre Mutter hatte den Iran verlassen, nachdem sie zum Christentum übergetreten war, und die Kinder mitgenommen. Nayeri machte in ihrer neuen Heimat eine eindrucksvolle akademische Karriere und veröffentlichte zwei Romane. Ihr erstes Sachbuch »Der undankbare Flüchtling« widmet sie dem Thema Flucht und Asyl, und zwar auf verschiedenen Ebenen: 30 Jahre nach ihrer eigenen Emigration analysiert die Autorin, wie dies ihre Persönlichkeit und ihren Lebensweg geprägt hat. Nayeri erzählt aber auch Geschichten anderer Geflüchteter, die sie in den vergangenen Jahren in Europa getroffen hat. In essayistischer Form behandelt sie Aspekte wie den ewigen Kampf um Würde und Anerkennung in den Aufnahmeländern, die Dankbarkeit und den Opportunismus von Geflüchteten, das Warten lassen als »Vorrecht jeder Macht«, Absurditäten in Asylverfahren, psychologische Anpassung und kulturelle Assimilation. Für ihre klugen Reflexionen über die Fluchterfahrung ist Dina Nayeri im November mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet worden. Ihr Buch gebe dem Gegenwartsbewusstsein wichtige Impulse und fördere moralischen wie intellektuellen Mut, heißt es in der Begründung der Jury: »›Der undankbare Flüchtling‹ ist damit ein Plädoyer, die Würde eines jeden Menschen anzuerkennen.«
Wer nach Ägypten reist, sollte dieses Buch nicht dabei haben. Der neue Roman des ägyptischen Schriftstellers Alaa Al-Aswani ist dort verboten. Kein Wunder, denn in »Die Republik der Träumer« setzt der erfolgreichste zeitgenössische Autor des Landes der ägyptischen Revolution ein Denkmal und analysiert zugleich ihr Scheitern. Als Schuldige benennt er klar die korrupten Eliten eines Systems, von dem vor zehn Jahren nur die oberste Spitze gestürzt werden konnte. Militär und Geheimdienste, staatstreue Medien, wirtschaftliche Profiteure und religiöse Autoritäten haben indes dafür gesorgt, dass alles beim Alten bleibt. Sie treten in Form verschiedener Charaktere in Al-Aswanis Roman auf, wo sie mit den jungen Leuten des Tahrir-Platzes, Gewerkschaftern der Fabriken, oppositionellen Studentinnen und ganz normalen Ägyptern aneinandergeraten. Al-Aswani ist ein Meister der Mikrokosmen: In seinen Werken bildet er die ägyptische Gesellschaft anhand mehrerer Protagonisten ab, deren Geschichten sich miteinander verflechten. Aus mehr als einem Dutzend verschiedenen Perspektiven beleuchtet er in seinem neuen Buch das hoffnungsvollste und zugleich deprimierendste Ereignis der jüngeren ägyptischen Geschichte. Leider fehlt den einzelnen Figuren dadurch die Tiefe. Letztlich bleibt der 63-Jährige aber ein begnadeter Erzähler, der auch auf mehr als 400 Seiten kaum einen Moment der Langeweile aufkommen lässt.
Dina Nayeri: Der undankbare Flüchtling. Aus dem Englischen von Yamin von Rauch. Kein & Aber, Zürich 2020, 400 Seiten, 24 Euro
Zeitzeugin des Genozids Mehr als 100 Jahre nach dem Völkermord an den Armeniern ist jetzt der Bericht einer Augenzeugin auf Deutsch erschienen. Die Bankierstochter Arshaluys Mardigian war 14 Jahre alt, als die Gräueltaten in ihrer Heimatstadt im heutigen Ostanatolien an Ostern 1915 begannen. Ihre gesamte Familie wurde ermordet, während sie zu den wenigen Überlebenden zählte, die später über die Todesmärsche und Massaker, über Gefangenschaft, sexualisierte Gewalt und Folter berichten konnten. Ihre 1918 erstmals erschienenen Erinnerungen sind eine quälende und schockierende Lektüre, sie schildern unfassbare Grausamkeit. Man mag sich kaum vorstellen, welche Verwüstungen dieses Martyrium in der Psyche des Mädchens hinterlassen hat, das schließlich in die USA gelangte. Es ist sehr verdienstvoll, dass dieses historische Dokument jetzt zugänglich ist – sorgfältig editiert und um wichtige Informationen zu seiner Entstehung ergänzt. Denn Mardigian wurde im Exil erneut Opfer: Ihr von einem Drehbuchautor aufgezeichneter Bericht wurde Grundlage eines Hollywoodfilms, in dem die 18-Jährige unter dem Namen »Aurora« die Hauptrolle spielte. Ökonomisch wie emotional ausgebeutet und retraumatisiert zog sie sich aus der Öffentlichkeit zurück. Als sie 1994 in Los Angeles starb, waren Buch und Film vergessen. Arshaluys Mardigian: ... meine Seele sterben lassen, damit mein Körper weiterleben kann. Ein Zeitzeugenbericht vom Völkermord an den Armeniern 1915/16. Aus dem Englischen von Walburga Seul. Zu Klampen Verlag, Springe 2020, 260 Seiten, 24 Euro
Alaa Al-Aswani: Die Republik der Träumer. Aus dem Arabischen von Markus Lemke. Hanser, München 2021, 464 Seiten, 25 Euro
Digitale Selbstjustiz »Letztes Schuljahr habe ich etwas gesehen, was ich nie mehr vergessen werde. Am 1. April kam Jordan Springer in die Cafeteria der Haver High marschiert und hat sich in Brand gesetzt. Aber es war kein Aprilscherz.« Schon die ersten Sätze dieses Jugendromans lassen ahnen: An dieser amerikanischen Highschool läuft etwas gewaltig schief, und Jordan Springers Suizid ist womöglich nur die Spitze des Eisbergs. Denn in den Selbstmord getrieben haben den Jungen die Mobbingattacken seiner Mitschülerinnen und Mitschüler. Dieselben, die nun anlässlich des ersten Jahrestags zu einer Gedenkfeier in der Aula versammelt sind und sich in Trauerbekundungen übertreffen. Der Ich-Erzähler Eli Bennet ist angewidert und schockiert zugleich. Und so beteiligt sich der Computer-Nerd nicht nur an der US-Cybersicherheitsmeisterschaft, sondern lässt sich auch dazu überreden, bei einer Website mitzumachen, die diejenigen, die Jordan gemobbt haben, im Internet für alle sichtbar bloßstellt und diskreditiert. Packend und authentisch ist die Geschichte, die Erin Jade Lange ihren Protagonisten in lockerem Plauderton erzählen lässt; erschreckend die fatalen Ausmaße, die der Kampf gegen Cybermobbing annimmt, bei dem sich zunehmend Fragen nach Macht, Recht und Unrecht, nach Schuld und Verantwortung stellen. Erin Jade Lange: Firewall. Aus dem Englischen von Sandra Knuffinke und Jessika Komina. Magellan Verlag, Bamberg 2020, 351 Seiten, 16 Euro, ab 14 Jahren
Bücher: Wera Reusch, Hannah El-Hitami, Marlene Zöhrer BÜCHER
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Mal in Polen, mal im Iran
Der Sound Südafrikas
Iran und Polen – zwei Revolutionen nimmt die Zeitanalyse »Der nackte König« des Schweizer Regisseurs Andreas Hoessli in den Fokus. »König der Könige« ließ sich Schah Reza Pahlavi nennen. Hoessli hat sich den iranischen Kaiser genau angesehen und nicht allzu viel Substanz vorgefunden. Autoritäre Machtstrukturen wurden ein Jahr nach dem Sturz des Schahs 1979 auch in Polen infrage gestellt: Hoessli, damals als Stipendiat vor Ort, lernt den Reporter Ryszard Kapuściński kennen, der seinerseits von der Revolte im Iran berichtete. Die Aufzeichnungen des Journalisten bilden den Ausgangspunkt dieses eigenwilligen Dokumentarfilms. Seine Erinnerungen aufarbeitend, nimmt Hoessli die Zuschauer mit auf eine höchst bizarre zeitgeschichtliche Reise zu zwei Ereignissen, in denen eine aufgewühlte Bevölkerung ihre Diktatur loswerden wollte – und zumindest in einem Fall gleich eine neue errichtete. Der Regisseur präsentiert seltene Szenen von Werftbesetzungen und der Gründung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność in Polen wie auch von der Ankunft des Schah-Nachfolgers Ruhollah Chomeini im Iran. Seine Zeitzeugen sind verfolgte Schriftsteller und Werftarbeiter, aber auch Geheimdienstmitarbeiter und Politiker, wie etwa Masoumeh Ebtekar, eine Stellvertreterin des derzeitigen Staatschefs. Statements und Gesprächspartner dürften nicht jedem gefallen; die Originalaufnahmen aus dem jeweiligen Geschehen haben es allerdings in sich.
Ganz harmlos beginnt »Udondolo«, das Debütalbum von Urban Village. Ein hingetupfter Rhythmus, der zum sanften Hüftenwiegen einlädt, eine vorsichtige Flöte, die an ein einsam quietschendes Scharnier erinnert. Dann die Stimme: Fast einschläfernd erzählt sie von der Seele des Sängers, die beschwert ist, von der Mutter, die er liebend gern wiedersehen würde, und von dem Weg, der viele scharfe Wendungen nimmt. »Izivunguvungu« heißt der Song, übersetzt ungefähr: »All diese Nöte«, und er erzählt trotz – oder gerade wegen – seiner so leisen wie unkonkreten Poesie und schwer zu fassenden Symbolik dann doch sehr viel über Südafrika. Aber auch in der Musik spiegelt sich das Land, in dem Urban Village aufgewachsen sind. Die vier Mitglieder der Band aus Soweto wurden geboren, als es die Apartheid schon nicht mehr gab oder sie in den letzten Zügen lag. In den beständig zwischen globalisierten Pop-Ideen und traditionellen Harmonien tanzenden Stücken von Gitarrist Lerato Lichaba und seinen Mitmusikern werden die Folgen der Burenherrschaft und der Prozess des »Nation Building« nicht nur verhandelt, sondern spürbar. Denn auch wenn ihre Melange aus Folk und Jazz, Rock, Funk und den Zulu-Traditionen Mbaqanga, Marabi oder Maskandi scheinbar leichten Herzens und eingängig daherkommt, brechen die Konfliktlinien, die Südafrika bis heute durchziehen, doch immer wieder auf. Aber gerade, weil sie ein Abbild des Landes in all seiner Widersprüchlichkeit sind, propagieren sie umso effektvoller Versöhnung und die panafrikanische Vision.
»Der nackte König – 18 Fragmente über Revolution«. CH/D/PL 2019. Regie: Andreas Hoessli. Als Stream auf http://shop.koenig.wfilm.de
Urban Village: »Udondolo« (No Format!/Indigo)
Korrektur eines Bildes Unversehens wird der zwölfjährige Afghane Afshin Oberhaupt der Familie. Sein Vater muss das Land aus Sicherheitsgründen verlassen, er steht als Ex-Soldat auf der Todesliste der Taliban. Afshin muss zusehen, wie er mit dem Abdichten des Hausdachs, dem vertrockneten Baum und nicht zuletzt mit seinem kleinen Bruder zurechtkommt – und legt ungeahnte Kräfte an den Tag. Abas ist Busfahrer in Kabul, verschuldet wie drogensüchtig. Anschläge bestimmen den chaotischen Alltag, der Bus bekommt jeden Tag neue Einschusslöcher, und dennoch findet Abas glückliche Minuten bei klarem Verstand. Die Lebensbedingungen im afghanischen Dauerkriegszustand nimmt Regisseur Aboozar Amini unter die Lupe. Amini, der als Teenager aus Afghanistan floh und in den Niederlanden studiert hat, reiht für seinen Debütfilm paradigmatische Situationen und traumhafte Sequenzen eines politischen Desasters aneinander. Kabul befinde sich an einem Punkt, wo Drogen für viele die einzige Flucht vor dem endlosen Morden bieten. Seit die USA und ihre Verbündeten 2001 in Afghanistan einmarschiert sind, hätten NGO-gesponserte Filme ein stereotypes Bild von Afghanistan geschaffen, das es zu korrigieren gelte, sagt Amini. Darum zeige er das »starke Verlangen der Menschen in Afghanistan nach Leben, trotz aller Gewalt und Bombenanschläge«. »Kabul, City in The Wind«. NL 2018. Regie: Aboozar Amini. Kinostart: 18. Februar 2020
Die Musikgeschichte Anatoliens Wer ein Album von Altın Gün erwirbt, kauft mehr als nur ein paar Lieder. Der bekommt auch gleich noch die halbe anatolische Musikgeschichte mitgeliefert. Das ist auch auf »Yol«, dem neuen Album der Band aus Amsterdam nicht anders. Hinter den meist flotten, zum Tanzen einladenden, bisweilen auch melancholischen Stücken verbirgt sich das ganze Gewicht einer Tradition, die selbst in der Türkei vergessen zu werden droht. Die beiden ersten Altın-Gün-Alben waren große Erfolge. »Gece« (2019) war gar für den Grammy nominiert, allerdings in der verstaubten Schublade »World Music«, in die Altın Gün sowieso schwer abzulegen sind mit ihrer Idee, traditionelle Harmonien und Klangfarben mit westlichen Pop-Rhythmen zu unterlegen. Mit »Yol« verabschiedet sich das Sextett nun endgültig von der »Weltmusik« und gibt den Synthesizern, die die 1980er-Jahre heraufbeschwören, mehr Raum als der bislang dominierenden Langhalslaute Saz. So ist dem fast schon kindlich fröhlichen »Bulunur mu« die bleischwere Wehmut des Originals von Neşet Ertaş nur mehr entfernt anzuhören. Ähnlich ergeht es anderen legendären Sängern, Komponisten und Dichtern wie Çekiç Ali oder Âşık Veysel und überlieferten Volksliedern. Damit ist auch »Yol« wieder ein Tanz in die Moderne, eingeleitet mit einer respektvollen Verbeugung vor der Vergangenheit. Altın Gün: »Yol« (Glitterbeat/Indigo)
Film: Jürgen Kiontke | Musik: Thomas Winkler 78
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Foto: Cargo Records
Arabische Milch und jüdische Orangen
Innerlich zerrissen. Rasha Nahas macht extravagante Musik über eine ruhelose Region.
Die palästinensische Sängerin und Songwriterin Rasha Nahas ist in Israel aufgewachsen. Auf ihrem Debütalbum nähert sie sich dem Nahostkonflikt auf poetische Weise. Von Thomas Winkler
Z
wei Jungs spielen in Ruinen mit einer Pistole, ein bärtiger Mann ist an einen Olivenbaum gefesselt, zwei Frauen umkreisen sich tanzend im Sonnenlicht, und Benjamin Netanjahu sitzt auf einem Sofa und trinkt mit einer jungen Frau tiefschwarzen Kaffee. Ein Fiebertraum ist der Videoclip zu »Desert« von Rasha Nahas, aber noch nicht einmal so anspielungsreich und voller verschlungener Symbole wie das Lied selbst. Nahas ist 1996 in Haifa zur Welt gekommen und dort aufgewachsen als sogenannte »48erin«. So werden jene Palästinenser genannt, deren Familien nach den Kämpfen 1948, die die Israelis Unabhängigkeitskrieg nennen und die Palästinenser »Die Katastrophe«, in dem neu entstandenen Land geblieben sind und deshalb heute einen israelischen Pass besitzen. Die Auseinandersetzung um das Land liegt auf dem Alltag in Israel, auf dem Leben, auf den Seelen der Menschen und auf den Liedern von Rasha Nahas. Die Texte ihres Debütalbums, das ebenfalls den Titel »Desert« trägt, sind durchzogen von diesem Konflikt. Von der Vergangenheit, die, so beschreibt es Nahas singend in »The Clown«, auf den Hügel klettert und ihren Namen ruft, von arabischer Milch und jüdischen Orangen, über die bittere Tränen vergossen werden, von diesem Krieg, der auf ihre Brust kriecht und flüstert: »Nimm mich mit.« Also hat sie ihn mitgenommen nach Berlin, wo sie seit 2017 lebt. Das war nicht der Plan. Sie hatte gehofft, sie könnte all das hinter sich lassen, sie könnte sich, so erzählt sie beim Gespräch
MUSIK
in ihrer Wohnung im Prenzlauer Berg, »neu definieren – außerhalb des Kontextes des Nahostkonflikts«. Aber der Plan misslang, die 24-Jährige musste feststellen, dass man in einer Stadt wie Berlin, in der Menschen aus aller Welt zusammenkommen, um zu feiern und zusammen kreativ zu sein, zwar die Nacht zum Tage machen kann und Gleichgesinnte findet, mit denen man Musik machen kann, aber man sich dann doch mitgenommen hat. Dass man sich immer mitnimmt. »Es fällt mir sehr schwer, die Grenze zwischen dem Politischen und dem Persönlichen zu ziehen«, sagt Nahas mit ihrer sanften Sprechstimme, die so beruhigend klingt wie das Versprechen, es würde alles immer gut. Wenn Nahas singt, verändert sich ihre Stimme, wird voller, kräftig, zornig und durchschreitet – mitunter in einem einzigen Song – ein Gefühlsspektrum von Melancholie über Wut bis zu leiser Hoffnung. Diese emotionale Achterbahnfahrt ist unterlegt mit Gitarren, die an der Lärmgrenze kratzen, dann aber wieder eingefangen werden von sanften Streichern und poetischem Klavier. In seiner Theatralik erinnert Nahas’ Debüt ebenso an den Film »Cabaret« wie an eine Rockband wie Queen. Im Gespräch fallen denn auch die Namen Freddie Mercury und Kurt Weill. In der musikalischen Extravaganz, im abrupten Auf und Ab der Stimmungen spiegelt sich – mindestens so sehr wie in ihren Texten – die innere Zerrissenheit der Künstlerin, die wiederum vor allem ein Ausdruck ihrer Identität als 48erin ist. Eine Identität, die nur in seltenen Momenten zur Ruhe kommt. Einer dieser Momente ist die wunderschöne Coverversion von Leonard Cohens »Lover«. Eine Palästinenserin mit israelischem Pass singt den Song eines Juden, der im französischsprachigen Teil Kanadas geboren wurde. Das klingt dann doch wie ein schöner Traum. Rasha Nahas: »Desert« (Rmad Records/Cargo)
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BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt, oder man lässt sie verschwinden. AMNESTY INTERNATIONAL veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes.
Foto: privat
ACHTUNG! Wegen der Verbreitung des CoronaVirus ist die weltweite Briefzustellung momentan eingeschränkt. Deshalb bitten wir Sie, Ihre Appellschreiben per E-Mail oder Fax bzw. an die Botschaft des jeweiligen Ziellandes zu schicken.
IRAN ARASH SADEGHI UND GOLROKH EBRAHIMI IRAEE Die Eheleute Golrokh Ebrahimi Iraee und Arash Sadeghi setzten sich vor ihrer Festnahme im September 2014 für die Menschenrechte ein, unter anderem für politische Gefangene und Meinungsfreiheit sowie gegen die Todesstrafe. In unfairen Verfahren wurden sie zu langen Haftstrafen verurteilt. Nach zwischenzeitlichen Freilassungen gegen Kaution sind beide nun wieder inhaftiert. Im Gefängnis wurden sie gefoltert und misshandelt. Golrokh Ebrahimi Iraee unterwarf man mit verbundenen Augen langen Verhören und drohte ihr mit Hinrichtung, weil sie »den Islam beleidigt« habe. Arash Sadeghi gab an, zwischen September 2014 und März 2015 im Gewahrsam sowohl mit offener Hand als auch mit der Faust gegen den Kopf geschlagen sowie getreten und gewürgt worden zu sein. Seit einem 71-tägigen Hungerstreik leidet Arash Sadeghi an zahlreichen Er-
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krankungen. Weil ihm die Behörden die Verlegung in medizinische Einrichtungen außerhalb des Gefängnisses immer wieder verweigerten, verschlechterte sich sein Zustand. Als er im Mai 2018 endlich im Krankenhaus untersucht wurde, stellten die Ärzt_innen einen Knochentumor fest. Im September 2020 wurde eine Bestrahlung der Tumorregion angeraten. Das erfolgte aber nicht. Auch die Forderung der UN-Sonderberichterstatterin für Menschenrechte im September 2020, ihm wegen der Corona-Ansteckungsgefahr Hafturlaub zu gewähren, wurde abgelehnt. Amnesty International betrachtet die Verweigerung der Krebsbehandlung und die dadurch verursachten Leiden als Folter. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an die Oberste Justizautorität des Iran und bitten Sie darum, Arash Sadeghi und Golrokh Ebrahimi Iraee sofort und bedingungslos freizulassen, da sie gewaltlose politische Gefangene sind, die allein wegen ihrer freien Meinungsäußerung und ihrer Aktivitäten für Menschenrechte inhaftiert sind. Bis zu ihrer Freilassung muss außerdem sichergestellt
werden, dass sie vor Folter oder Misshandlung geschützt werden und regelmäßigen Zugang zu Rechtsbeiständen, Familienangehörigen und medizinischer Behandlung erhalten. Bitten Sie die Oberste Justizautorität außerdem, die Foltervorwürfe zu untersuchen und die Verantwortlichen in einem fairen Verfahren zur Rechenschaft zu ziehen. Schreiben Sie in gutem Persisch, Englisch oder auf Deutsch an: Oberste Justizautorität Head of the Judiciary Mr. Ebrahim Raisi c/o Permanent Mission of Iran to the UN Chemin du Petit-Saconnex 28 1209 Geneva, SCHWEIZ (Anrede: Sehr geehrter Herr Raisi / Dear Sir) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €)
Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Islamischen Republik Iran S. E. Herrn Mahmoud Farazandeh Podbielskiallee 65–67, 14195 Berlin Fax: 030 - 84 35 35 35 E-Mail: info@iranbotschaft.de (Standardbrief: 0,80 €)
AMNESTY JOURNAL | 02/2021
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CHINA GAO ZHISHENG Gao Zhisheng ist ein in China bekannter Menschenrechtsanwalt. Er hat Menschenrechtsverteidiger_innen vor Gericht vertreten und politisch brisante Fälle übernommen. Ende 2005 entzog ihm die Justizbehörde in Peking die Zulassung als Rechtsanwalt. Dies geschah unmittelbar, nachdem Gao Zhisheng sich in mehreren offenen Briefen kritisch über die Regierung geäußert hatte. Am 13. August 2017 wurde Gao Zhisheng von seiner Familie als vermisst gemeldet. Da sich die Behörden weigern,
seinen Aufenthaltsort bekannt zu geben, gilt er als Opfer des Verschwindenlassens und ist in Gefahr, gefoltert oder misshandelt zu werden. Seine Familie weiß nichts über seinen Gesundheitszustand oder die Gründe für seine Inhaftierung. Gao Zhisheng befand sich bereits in der Vergangenheit als gewaltloser politischer Gefangener in Haft und war Opfer des Verschwindenlassens. Damals wurde er eigenen Angaben zufolge gefoltert. Trotzdem setzte sich Gao Zhisheng bis zum Zeitpunkt seines erneuten Verschwindens weiterhin für die Menschenrechte ein und übte nach wie vor Kritik an der Kommunistischen Partei Chinas. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den chinesischen Minister für öffentliche Sicherheit und fordern Sie ihn auf, den Aufenthaltsort von Gao Zhisheng bekanntzugeben und dafür zu sorgen, dass er umgehend und bedingungslos freigelassen wird. Bitten Sie ihn, sicherzustellen, dass Gao Zhisheng in der Haft nicht gefoltert oder misshandelt wird.
Briefentwürfe auf Englisch und Deutsch finden Sie unter www.amnesty.de/briefe. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie sie bitte an: info@amnesty.de
MALAWI SMUS PERSONEN MIT ALBINI In Malawi leben Tausende von Menschen mit Albinismus in permanenter Angst, entführt, verstümmelt oder getötet zu werden. Der Aberglaube, dass ihre Knochen und Körperteile Glück, Wohlstand und Macht bringen, hält sich hartnäckig. Ihre Körperteile können teuer verkauft werden: Nach UN-Angaben werden für einen ganzen Körper 75.000 US-Dollar bezahlt. Zwischen Dezember 2014 und April 2016 wurden in Malawi 18 Personen mit Albinismus getötet. In derselben Zeit wurden mindestens 69 weitere Verbrechen gegen Menschen mit Albinismus gemeldet. Die zunehmende Armut hat in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass die alten Mythen der magischen Kräfte von Menschen mit Albinismus wieder aufleben. So wurden zwischen
BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN
Außerdem muss er bis zu seiner Freilassung regelmäßig uneingeschränkten Kontakt zu seiner Familie, einem Rechtsbeistand seiner Wahl sowie angemessener medizinischer Versorgung erhalten. Schreiben Sie in gutem Chinesisch, Englisch oder auf Deutsch an: Zhao Kezhi, Minister of Public Security 14 Dongchanganjie, Dongchengqu Beijing Shi 100741 VOLKSREPUBLIK CHINA E-Mail: gabzfwz@mps.gov.cn (Anrede: Dear Minister / Sehr geehrter Herr Minister) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €)
Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Volksrepublik China S. E. Herrn Ken Wu Märkisches Ufer 54, 10179 Berlin Fax: 030 - 27 58 82 21 E-Mail: de@mofcom.gov.cn oder presse. botschaftchina@gmail.com (Standardbrief: 0,80 €)
AMNESTY INTERNATIONAL Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0, Fax: 030 - 42 02 48 - 488 E-Mail: info@amnesty.de, www.amnesty.de
September und November 2020 erneut sechs Angriffe auf Personen mit Albinismus verzeichnet – darunter Tötungen, versuchte Entführungen und Grabschändungen. Die malawische Regierung prangerte die Angriffe im März 2015 öffentlich an. Trotz erster symbolischer Bemühungen muss die Regierung aber mehr zum Schutz von Personen mit Albinismus unternehmen. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Präsidenten von Malawi und fordern Sie ihn auf, besondere Schutzmaßnahmen zu ergreifen, um zu verhindern, dass Menschen mit Albinismus angegriffen, entführt oder getötet werden. Die Behörden müssen zudem alle Angriffe untersuchen und die Verantwortlichen in fairen Verfahren vor Gericht stellen. Bitten Sie den Präsidenten außerdem, Programme zu unterstützen, die ein Bewusstsein für Menschenrechte
schaffen, damit die Diskriminierung und soziale Ausgrenzung von Personen mit Albinismus ein Ende hat. Schreiben Sie in gutem Englisch oder auf Deutsch an: Dr. Lazarus McCarthy Chakwera President of the Republic of Malawi Office of the President and Cabinet Private Bag 338, Capital Hill, Lilongwe 3 MALAWI E-Mail: pc@malawi.gov.mw (Anrede: Your Excellency / Exzellenz) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €)
Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Malawi S. E. Herrn Michael Barth Kamphambe Nkhoma Westfälische Straße 86, 10709 Berlin Fax: 030 - 84 31 54 30 E-Mail: berlin@malawi-embassy.de (Standardbrief: 0,80 €)
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AKTIV FÜR AMNESTY
In Japan können Verdächtige für lange Zeit ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand festgehalten und verhört werden. Manche sprechen von »Geiseljustiz«, die zu erzwungenen Geständnissen führe. Auch Emi Suzuki von Amnesty International Japan kritisiert diese Regelung des Strafrechts.
Foto: privat
»NICHT OHNE MEINEN ANWALT« IST ANDERSWO Emi Suzuki, 55, geboren in Nagoya, ist die Sprecherin von Amnesty International in Tokio. Sie arbeitet seit 2013 für Amnesty Japan.
Interview: Felix Lill
Der ehemalige Profiboxer Iwao Hakamada, der 48 Jahre lang in der Todeszelle saß, hofft derzeit auf einen neuen Prozess. Was sagt dieser Fall über das japanische Strafrecht aus? Vor allem sagt der Fall aus, dass Beschuldigte oft keinen fairen Prozess erhalten. Hakamada wurde nach der Ermordung von vier Personen im Sommer 1966 am Tatort gefunden, die Ermittler vermuteten in ihm den Mörder. Obwohl diverse Indizien gegen diesen Verdacht sprachen, wurde Hakamada einige Wochen nach seiner Festnahme schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt. Er hatte im Verhör zwar gestanden, dieses Geständnis aber vor Gericht wieder zurückgezogen.
ser Situation nicht die Nerven und gestehen, nur um rauszukommen. Deshalb liegt die Verurteilungsrate bei Kriminalfällen in Japan bei 99,9 Prozent.
Warum? Er gab an, zu dem Geständnis gezwungen worden zu sein. 2014 gewährte ein Bezirksgericht eine Wiederaufnahme des Verfahrens. Das Urteil wurde vier Jahre später von einem höheren Gericht kassiert. Im Dezember 2020 hob das Oberste Gericht wiederum diese Entscheidung auf, und nun warten wir, dass Hakamadas Fall neu aufgerollt wird.
Verdächtige sind allerdings nicht dazu verpflichtet, auf Fragen im Verhör zu antworten. Das stimmt. Aber es herrscht hoher Druck. Befürworter des Systems sagen, die Staatsanwaltschaft werde ohnehin nur in Fällen aktiv, in denen sie sich ihrer Sache sicher sei. Außerdem wissen viele Menschen in Japan nicht, dass sie im Verhör schweigen dürfen. Ich bin ein großer Fan der US-amerikanischen TV-Serie »Prime Suspect.« Da sagen die Verdächtigen immer schnell: »Nicht ohne meinen Anwalt!« Dieser Satz ist im japanischen Alltag leider nicht geläufig.
Carlos Ghosn, der ehemalige Chef des Autokonzerns Nissan, der nach Haft und Freilassung auf Kaution Ende 2019 aus Japan floh, argumentierte ebenfalls, er habe keinen fairen Prozess erhalten. Die Polizei kann einen Verdächtigen 23 Tage lang festhalten, ohne dass dieser Zugang zu einem Rechtsbeistand einfordern kann. Nach Ablauf der 23 Tage kann die Frist relativ einfach verlängert werden. Man kann den Sicherheitsbehörden also über einen langen Zeitraum hinweg ausgeliefert sein. Das galt für Iwao Hakamada wie für Carlos Ghosn. Viele behalten in die-
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Seit 2016 müssen Verhöre per Video aufgenommen werden. Das ist ein Fortschritt. Aber leider gilt dies nur für Fälle, für die Schöffengerichte zuständig sind. Es wird in der Regel nicht bei schweren Verbrechen angewendet, für die zum Beispiel die Todesstrafe verhängt werden kann. Das wichtige Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand haben Verdächtige bis heute nicht.
Was ist Ihre Erwartung im Fall Iwao Hakamada? Wir wissen noch nicht sicher, ob und wann es einen neuen Prozess gibt. Aber sollte es ihn geben, gehe ich davon aus, dass das Gericht Hakamada für nicht schuldig erklärt. Schon die Tatsache, dass ein Fall überhaupt neu aufgerollt werden soll, ist eine Seltenheit.
AMNESTY JOURNAL | 02/2021
ANTISEMITISMUS BEKÄMPFEN trationen gegen die Corona-Maßnahmen, bei denen sich Judenhasser_innen und Shoah-Relativierer_innen offen zeigen. »Antisemitismus ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen«, sagte Juri Goldstein. Er betonte, dass Antisemitismus in Deutschland in den vergangenen fünf Jahren zugenommen habe und sichtbarer geworden sei. Das werde am Anschlag von Halle deutlich, aber auch an antisemitischen Äußerungen auf Anti-Israel-Demonstrationen wie am Al-Quds-Tag. Als Gegenstrategie empfahl er: »Die Vorurteile der Wirklichkeit gegenüberstellen.« Umer Rashid Malik betonte den Wert von Begegnung im Kampf gegen Judenhass und erzählte, wie ihn ein Synagogenbesuch während seiner Schulzeit geprägt habe. Es gebe zwar unter Muslim_innen Antisemitismus, dieser sei mit dem Islam jedoch nicht vereinbar. Rüdiger Bender wies auf die Kontinuität von Antisemitismus in der Geschichte hin sowie auf die Verantwortung jedes Einzelnen: »Antisemitismus betrifft uns alle«, sagte er.
Am 28. Mai 1961 veröffentlichte der britische Rechtsanwalt Peter Benenson in der Zeitung »Observer« einen Artikel mit dem Titel »The Forgotten Prisoners – Appeal for Amnesty«. Darin machte er auf das Schicksal politischer Gefangener weltweit aufmerksam. Und er rief dazu auf, sich in Briefen an die jeweilige Regierung für die Freiheit dieser Menschen einzusetzen. Das war die Geburtsstunde von Amnesty International. Heute, 60 Jahre später, ist Amnesty die weltweit größte Menschenrechtsorganisation! Ob finanziell oder ehrenamtlich – ohne die Unterstützung von Menschen wie Ihnen und Euch wäre dieser Weg nicht möglich gewesen. Was treibt Sie an? Warum unterstützen Sie Amnesty und die Menschenrechte? Schreiben Sie uns! Anlässlich des 60. Geburtstags von Amnesty sammeln wir für unterschiedliche Amnesty-Kanäle und -Publikationen Zitate von unseren Unterstützer_innen. E-Mail: 60Jahre@amnesty.de
Foto: Michael Reichel / dpa / pa
Die Amnesty-Hochschulgruppe Erfurt veranstaltete Ende Januar eine Podiumsdiskussion zum Thema Antisemitismus. Wegen der Pandemie fand sie online statt. »Wir wählen immer ein Thema, mit dem wir uns ein Semester lang beschäftigen«, sagte Agnieszka Jobst von der Hochschulgruppe. »Und dieses Semester war es das Thema Antisemitismus.« Zur Podiumsdiskussion eingeladen waren Juri Goldstein von der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen, Umer Rashid Malik von der Ahmadiyya-Moschee Leipzig und Rüdiger Bender vom »Erinnerungsort Topf & Söhne« in Erfurt. Das Unternehmen J. A. Topf & Söhne stellte im Zweiten Weltkrieg Verbrennungsöfen für Konzentrationslager her. Seit 2011 gibt es im ehemaligen Verwaltungsgebäude der Firma eine Dauerausstellung über die grausamen Verbrechen des Nationalsozialismus und die Firmengeschichte. Wichtige Fragen lauteten, wie sich Antisemitismus heute äußert, wie er sich bekämpfen lässt und welche Ursachen er hat. Dabei ging es auch um die Demons-
AMNESTY FEIERT GEBURTSTAG
Gedenken an die Massenvernichtung. Erinnerungsort Topf & Söhne in Erfurt.
IMPRESSUM Amnesty International Deutschland e.V. Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 E-Mail: info@amnesty.de Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin E-Mail: journal@amnesty.de Adressänderungen bitte an: info@amnesty.de Redaktion: Maik Söhler (V.i.S.d.P.), Jessica Böhner, Lea De Gregorio, Anton Landgraf, Tobias Oellig, Pascal Schlößer, Uta von Schrenk
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Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit Albrecht, Nina Apin, Markus N. Beeko, Hannah El-Hitami, Malte Göbel, Siri Gögelmann, Oliver Grajewski, Heike Haarhoff, Jürgen Kiontke, Andreas Koob, Sabine Küper-Büsch, Bartholomäus von Laffert, Felix Lill, Philip Malzahn, Jan-Christian Petersen, Tigran Petrosyan, Wera Reusch, Bettina Rühl, Andrzej Rybak, Till Schmidt, Uta von Schrenk, Lilian Tietjen, Keno Verseck, Thomas Winkler, Christine Wollowski, Marlene Zöhrer Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck und Verlag: Hofmann Druck, Nürnberg GmbH & Co. KG
Spendenkonto: Amnesty International Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE23 3702 0500 0008 0901 00 BIC: BFS WDE 33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00) Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und erscheint sechs Mal im Jahr. Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.
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ISSN: 2199-4587
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