Amnesty Journal März/April 2021

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Egoismus, der krank macht E

s ist ein dramatischer Appell, den das Pflegepersonal aus Manaus in die Welt schickte. »Sauerstoff, gebt uns Sauerstoff«, ruft eine Krankenschwester in der brasilianischen Metropole in ihre Handykamera. Seit die Infektionszahlen wegen einer neuen Mutation des Corona-Virus in die Höhe schießen, spielen sich in der Stadt im Amazonasgebiet, in der zwei Millionen Menschen leben, apokalyptische Szenen ab. Hunderte Patienten können nicht mehr versorgt werden. Es gibt fast keine freien Krankenhaus- und Intensivbetten mehr. Das Gesundheitssystem ist kollabiert. Weltweit steigen weiter die Fallzahlen, weit über hundert Millionen Menschen haben sich bereits angesteckt. Doch seitdem die ersten Impfstoffe zugelassen wurden, ist ein Ende der Pandemie in Sicht. In Europa, Nordamerika und anderen Teilen der Welt soll bald ein großer Teil der Bevölkerung eine Impfung erhalten. In wenigen Monaten könnte sich die Lage entspannen. Gänzlich anders verhält sich die Situation in einigen Staaten Südamerikas und Afrikas. Die schwächsten Staaten drohen vergessen zu werden. Dort werden Impfstoffe in diesem Jahr nur eingeschränkt oder gar nicht verfügbar sein, obwohl in vielen dieser Staaten die Zahl der Corona-Infektionen weiter hoch ist. Es ist zudem von einer hohen Dunkelziffer auszugehen, denn nur wenige Länder des globalen Südens sind in der Lage, flächendeckend Tests durchzuführen. Für Eritrea, Kamerun oder die Demokratische Republik Kongo liegen keine gesicherten Zahlen über Infektionen vor. In Konfliktgebieten wie in Teilen Äthiopiens existiert keine oder nur noch eine rudimentäre Gesundheitsversorgung. Wenig erfasst ist die Situation von Millionen von Flüchtlingen, die oft unter unmenschlichen Bedingungen leben müssen.

Eine Frage des Geldes Amnesty International und andere Nichtregierungsorganisationen wie Frontline, Global Justice Now und Oxfam haben sich im Bündnis People’s Vaccine Alliance zusammengeschlossen und warnen vor nationalen Alleingängen bei der Impfstrategie: Die Pandemie sei nicht zu Ende, wenn alle Menschen in Europa immunisiert seien, sondern erst, wenn das Virus weltweit besiegt sei. »Das Horten von Impfstoffen untergräbt die globalen An-

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strengungen, die sicherstellen sollen, dass alle Menschen überall vor Covid-19 geschützt werden«, sagt Maria Scharlau, Völkerrechtsexpertin bei Amnesty International. »Reiche Staaten haben gemäß des UN-Sozialpakts eine klare menschenrechtliche Verpflichtung, ärmere Länder dabei zu unterstützen, ihre Bevölkerung zu impfen.« Die gerechte und möglichst simultane Verteilung der Impfstoffe ist eine der zentralen Herausforderungen der Pandemie. Und sie ist auch eine Frage des Geldes, weil eine ausreichende Versorgung für viele Länder nur schwer zu finanzieren ist. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat deshalb zusammen mit der Globalen Impf-Allianz (Gavi) im April die Impfstoffplattform Covax gegründet, die mittlerweile von mehr als 190 Staaten unterstützt wird. Die Idee ist simpel: Staatliche und private Geldgeber zahlen in einen Fonds ein, der dank seiner gebündelten Marktmacht bessere Konditionen in den Verhandlungen mit den Herstellern erzielen kann. Die erworbenen Impfstoffe sollen anschließend an die teilnehmenden Länder geliefert werden, damit sie mindestens ein Fünftel ihrer Bevölkerung impfen können. Erklärtes Ziel von Covax ist es, dass bis Ende 2021 in allen Staaten weltweit das medizinische Personal und besonders vulnerable Bevölkerungsgruppen geimpft sind. Dafür soll das Kinderhilfswerk Unicef, das bereits zahlreiche Impfkampagnen etwa gegen Masern und Polio organisiert hat, im Auftrag von Covax bis Ende 2021 zwei Milliarden Impfdosen und eine Milliarde Spritzen einkaufen und in arme Länder ausliefern. Der Haken ist allerdings, dass Covax nur Impfstoff kaufen kann, der auch verfügbar ist. Seth Berkley, der Vorsitzende von Gavi, fordert die Produktion von weiteren fünf Milliarden Dosen in diesem Jahr, um »sicherzustellen, dass wir die Impfstoffe gerecht an jene verteilen können, die sie brauchen«. Covax allein könne eine zeitnahe und gerechte weltweite Verfügbarkeit von Impfstoffen nicht garantieren. Eine wesentliche Ursache für die mangelnde

AMNESTY JOURNAL | 02/2021

Zeichnung: Lea Berndorfer

Die Pandemie verschärft die weltweiten Ungleichheiten in bislang ungekanntem Ausmaß. Die schwächsten Staaten drohen beim Impfen vergessen zu werden. Von Anton Landgraf


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