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Wir sind nicht okay

»Wir sind nicht ok

Die Auswirkungen der Corona-Pandemie treffen Menschen auf der Flucht besonders hart. Zehntausende Flüchtlinge befinden sich in den griechischen Lagern und an Europas Außengrenzen in einer ausweglosen Situation. Von Phillip John Koller und Tobias Oellig

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Foto: Refugee Media Team/Murat Tueremis/laif

Während das Corona-Krisenmanagement in Deutschland, Europa und der Welt auf Hochtouren läuft, geraten geflüchtete Menschen immer mehr aus dem Sichtfeld der Öffentlichkeit. Ihr Alltag an den Grenzen der Europäischen Union ist geprägt von Menschenrechtsverletzungen, Hunger und Gewalt. Hilfsorganisationen appellieren an die europäischen Regierungen, diese Menschen jetzt nicht im Stich zu lassen.

Griechenland, Insel Lesbos, Camp Moria, April 2020

Moria auf der griechischen Insel Lesbos ist das größte Flüchtlingslager Europas. Ursprünglich für 3.000 Menschen ausgelegt, leben dort mittlerweile über 20.000 Menschen. Viele Afghanen, aber auch Syrer und Geflüchtete aus Subsahara-Afrika. Die meisten hausen im sogenannten Dschungel, einer chaotischen Zeltstadt. Sie wächst außerhalb des Camps unkontrolliert und dehnt sich mit jeder Ankunft neuer Flüchtlinge noch weiter in die umliegenden Olivenhaine aus. Schon vor der Corona-Pandemie waren die Bedingungen für Asylsuchende im »Dschungel« unerträglich.

Die hygienischen Bedingungen machen das Lager anfällig, sagen nun Ärzte und Hilfsorganisationen. In einigen Teilen von Moria gebe es nur einen Wasseranschluss für bis zu 1.300 Menschen. Und immer wieder sei er defekt. Für Hunderte steht nur eine Toilette zur Verfügung, fünf, sechs Personen schlafen mitunter auf drei Quadratmetern. Bei der Essensausgabe, am Wasserhahn, vor den Toiletten, überall heißt es: Schlange stehen. Ständig. Stundenlang. Dicht gedrängt.

Die griechischen Behörden haben auf die drohende CoronaAusbreitung im Lager reagiert, sie schränkten die Bewegungsfreiheit ein und verhängten strikte Hygienemaßnahmen. Wie aber sollen die eingehalten werden? »Einen Corona-Ausbruch kann man in den beengten Lagern kaum aufhalten. Wir dürfen nicht zulassen, dass Frauen, Männer und Kinder in diesen menschenunwürdigen Bedingungen allein gelassen werden. Sie müssen sofort evakuiert werden«, sagt Franziska Vilmar, Expertin für Asylpolitik bei Amnesty International.

Viele der Geflüchteten zählen zu den Covid-19-Hochrisikogruppen. Schweres Asthma und andere Atemwegserkrankungen, Herzfehler und Diabetes sind weit verbreitet. Die erbärmlichen Lebensbedingungen verursachen außerdem Durchfall und Hauterkrankungen. Chronischer Stress und Angst schwächen das Immunsystem. »Noch gibt es keine Infektionsfälle in Moria«, berichtet Apostolos Veizis von Ärzte ohne Grenzen in Griechenland. »Eine Ausbreitung des Virus im Camp wäre verheerend. Auf Lesbos gibt es in der Klinik gerade mal fünf Plätze auf der Intensivstation mit Beatmungsmöglichkeiten«, sagt der Mediziner. »Aber auch die Lockdown-Maßnahmen im Camp bedeuten für die Menschen: weniger Versorgung, weniger Bewegungsfreiheit, mehr Angst und Stress.« Sexuelle Übergriffe häuften sich ebenso wie Gewalt in Familien und Schlägereien zwischen Geflüchteten. Vor wenigen Tagen sei ein 16-jähriger Afghane erstochen worden, berichtet Veizis.

Der Ausnahmezustand ist Alltag. Hinzu kommen Anfeindungen: Selbsternannte Bürgerwehren stecken Flüchtlingseinrichtungen in Brand, blockieren Krankentransporte, attackieren Flüchtlinge, Journalisten und Helfer. Nicht immer greift die Po-

lizei ein. An manchen Tagen ist Lesbos zu einem rechtsfreien Raum geworden. Mehrere Hilfsorganisationen haben bereits ihre Arbeit auf der Insel eingestellt und ihr Personal abgezogen. Ärzte ohne Grenzen musste wegen der Sicherheitslage zwei Tage lang eine Kinderklinik und eine Klinik für Opfer von Folter und sexualisierter Gewalt schließen.

Nach Jahren des Abwartens hat die Bundesregierung im Zuge der Corona-Krise entschieden, 47 unbegleitete minder jährige Flüchtlinge aus griechischen Lagern aufzunehmen. Sie werden nach einer Zeit in Quarantäne innerhalb Deutschlands verteilt.

Moria bleibt das Symbol einer gescheiterten europäischen Asylpolitik. Für Zehntausende Menschen, die dort in Dreck, Kälte und Gefahr ausharren müssen, ist Moria vor allem eins: Ein Ort, der sie Tag für Tag ihrer Würde beraubt. Und an dem sie in Angst vor dem Virus verharren müssen.

Türkei, Pazarkule, Februar bis April 2020

Als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan Ende Februar das Signal zur Grenzöffnung gibt, strömen Tausende in der Türkei festsitzende Flüchtlinge und Migranten voller Hoffnung zur griechischen Grenze. Dort löst sich ihr Traum von Europa auf im Nebel der Tränengasgranaten, die ihnen griechische Polizisten und EU-Grenzschützer entgegenfeuern. Statt Asyl erwartet die Flüchtenden griechische Polizeigewalt.

Von hinten treiben türkische Polizisten sie weiter in Richtung EU. Mindestens zwei Männer sterben nach Angaben von Amnesty International, weil griechische Grenzbeamte mutmaßlich scharf schießen. Jene, die es über die Grenze schaffen, kommen in Abschiebehaft. Griechenland setzt vorübergehend das Asylrecht aus – eine völkerrechtswidrige Entscheidung.

Rund 2.000 Schutzsuchende geben nicht auf. Sie harren im Niemandsland aus, während sich das Virus in Europa weiter ausbreitet. Ihre letzte Hoffnung stirbt, als die EU wegen der Corona-Epidemie das humanitäre Aufnahmeprogramm für syrische Flüchtlinge stoppt und auch die Türkei ihre Grenzen zu Griechenland wieder schließt.

Reza, ein junger Iraner, berichtet deutschen Medien von den Lebensbedingungen der geflüchteten Menschen am Grenzüber

»Ich war im Iran im Gefängnis, aber dort war es besser als in Pazarkule.«

Reza, Flüchtling

gang: »Es war eine Katastrophe – für uns alle. Die ersten Tage gab es Essen, aber danach nicht mehr. Wir durften nicht mehr rausgehen, um uns selbst zu versorgen. Es gab keine Arzneimittel, nichts … So etwas habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen. Ich war in Iran im Gefängnis, aber selbst dort war es besser als in Pazarkule.«

Ende März räumen türkische Soldaten die Lagerstätten am Grenzübergang. Sie zwingen die verbliebenen Menschen in Busse und transportieren sie in weit entfernte Containersiedlungen im Hinterland. Das geschehe nur, um die Ausbreitung von Corona einzudämmen, erklärt das türkische Innenministerium. Innenminister Süleyman Soylu sagt dem türkischen Fernsehsender NTV, 5.800 Migranten seien in »Repatriierungszentren in neun unterschiedlichen Provinzen« gebracht worden. Dort stünden sie zwei Wochen unter Quarantäne.

Libyen, April 2020

Am 6. April um acht Uhr 30 morgens erhält das Alarmphone den ersten Notruf. Im Mittelmeer, zwischen Libyen und Malta ist ein Holzboot in Seenot geraten. An Bord: 68 Menschen, die vor dem anhaltenden libyschen Bürgerkrieg fliehen. Nachmittags um halb Vier erreicht ein zweiter Alarmruf die ehrenamtlich organisierte Notrufzentrale. Ein weiteres Boot mit 82 Menschen an Bord bittet um Hilfe. »Wir haben sofort die maltesischen und italienischen Behörden informiert, berichtet Hagen Kopp, einer der AlarmphoneKoordinatoren für das zentrale Mittelmeer. Aber dort erklärte sich niemand bereit, die Rettungsaktion zu leiten.«

Während der Corona-Krise ist die ohnehin schlechte Lage auf dem Mittelmeer zwischen Libyen und Europa noch katastrophaler geworden. Private Seenotrettungsorganisationen stehen vor logistischen Schwierigkeiten. Quarantänebestimmungen hindern Schiffe daran, nach erfolgten Rettungen erneut auszulaufen. Bereits Ende März hat das Bundesinnenministerium mit Verweis auf die »aktuell schwierige Lage« alle privaten Seenotrettungsorganisa - tionen aufgefordert, von weiteren Rettungs - aktionen Abstand zu nehmen. Unter Berufung auf den Gesundheitsnotstand schließt Italien Anfang April alle Häfen für die Aufnahme aus Seenot geretteter Menschen.

Amnesty-Asylexpertin Franziska Vilmar kritisiert die Schließung der Häfen vehement: »Die Corona-Pandemie darf von den europäi- Foto: Nicola Zolin/Redux/laif

schen Regierungen nicht dafür benutzt werden, um die Rettung geflüchteter Menschen aus Seenot zu verweigern. Alle EU-Länder sind gefragt, gerade auch in diesen Zeiten, eine Lösung zu suchen, diese Menschen schnell in Sicherheit zu bringen.«

Um die Bergung der beiden Schiffe, deren Hilferufe bei Alarmphone eingegangen sind, kümmert sich am 6. April allein die deutsche Hilfsorganisation Sea-Eye. Ihr Boot mit dem Namen Alan Kurdi ist zu diesem Zeitpunkt das einzige verbliebene Rettungsschiff im Mittelmeereinsatz.

Internationale Hilfsorganisationen versuchen derweil in der libyschen Hauptstadt Tripolis verzweifelt, für ein Mindestmaß an gesundheitlicher Versorgung der Geflüchteten zu sorgen. Es ist eine schier unmögliche Aufgabe, denn die Sicherheitslage ist extrem angespannt. Seit Ende März haben die Kampfhandlungen zwischen den Bürgerkriegsparteien rund um Tripolis wieder zugenommen. »Es gibt ständig Gefechte und willkürliche Angriffe. Medizinische Einrichtungen und Pflegepersonal werden nicht geschützt. In der ersten Aprilwoche wurde das Al-Khadera-Krankenhaus zwei Tage lang beschossen«, sagt Hassiba Hadj-Sahraoui, die für Ärzte ohne Grenzen im Leitungsteam arbeitet, das die Hilfseinsätze in Tripolis koordiniert.

Die Kombination aus Bürgerkrieg und Corona-Krise sei für die Geflüchteten im Land eine Katastrophe, warnt Hadj-Sahraoui. Staatliche Internierungslager in Tripolis, in denen zahlreiche Geflüchtete untergebracht sind, gerieten immer wieder unter Beschuss. In den vergangenen Wochen seien mehrere Lager geschlossen worden. »Die Menschen wurden sich selbst überlassen«, berichtet sie. Während die Hilfsorganisationen Geflüchtete in den Lagern notdürftig medizinisch versorgen konnten, sei unklar, wo die Menschen jetzt unterkommen und wie sie im Krankheitsfall behandelt werden können. Zu öffentlichen Krankenhäusern hätten Geflüchtete kaum Zugang.

Um die Ausbreitung der Corona-Pandemie einzudämmen, hält die libysche Regierung seit dem 16. März alle Grenzen geschlossen, einschließlich der See- und Flughäfen. Im Land wurde zwischenzeitlich eine Ausgangssperre verhängt. UN und NGOs seien gezwungen, ihre Nothilfemaßnahmen vor Ort zu reduzieren, berichtet Hadj-Sahraoui. Viele Mitarbeiter seien ausgeflogen worden. Ein Nachschub an Hilfsgütern sei derzeit nicht sichergestellt.

Letzte Hoffnung: Flucht über das Meer

Im Zuge der Grenzschließungen setzt das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR alle Evakuierungsmaßnahmen für Menschen auf der Flucht aus. Schutzsuchende haben keine legalen Möglichkeiten mehr, das Land zu verlassen, in dem sie sich gerade aufhalten. Die Fahrt über das Mittelmeer ist für sie deshalb die letzte Chance. Anfang April versuchen innerhalb einer Woche mehr als 1.000 Menschen von Libyen aus Europa zu erreichen.

Manche Boote schaffen es bis an die Küste Lampedusas, wo die Menschen in Quarantäne gesteckt werden. Manche werden von der libyschen Küstenwache aufgebracht, die Menschen zurück nach Libyen gezwungen und dort festgehalten. Andere Boote wiederum treiben tagelang auf dem offenen Meer. Dicht zusammengedrängt sitzen die Menschen, den Strömungen und den Wellen, dem Wind, der Sonne und der nächtlichen Kälte ausgeliefert, schutzlos driftend zwischen Bürgerkriegswirren auf der einen und geschlossenen europäischen Häfen auf der anderen Seite.

Während die europäischen Regierungen wieder einmal streiten und die Verantwortung für die Rettung und Aufnahme von Geflüchteten hin und her schieben, erreicht der nächste Hilferuf das Alarmphone. Eine junge Frau, auf einem Schlauchboot in Seenot. »Hallo? Kann jemand uns helfen?«, ruft sie in die Leitung. »Entschuldigung. Wir sind nicht okay, uns geht es nicht gut. Ich bin schwanger. Das Kind ist sehr krank. Das Kind ist krank. Wir haben kein Essen, kein Wasser. Es gibt nichts. Ich bin schwanger. Sie, sie ist sieben Jahre alt. Sie sagten, sie würden kommen, aber wir können sie nicht sehen. Zwei Menschen sind jetzt gestorben hier, (unverständlich). Uns geht es nicht gut, uns geht es nicht gut.« Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen:

www.amnesty.de/app LIBYEN: HINTERGRUND

Bereits vor der Corona-Pandemie war die Situation für Geflüchtete in Libyen katastrophal. Seit Wiederaufflammen des Bürgerkriegs im Frühjahr 2014 versinkt das Land im Chaos. Es gibt keine Staatsgewalt, die den Schutz der Menschenrechte garantiert. Geflüchtete beschreiben die grauenhaften Lebensbedingungen in Libyen als Hölle auf Erden. Alltägliche Gewalt und die Angst vor Folter, Vergewaltigung, Menschenhandel und Zwangsarbeit bestimmen ihr Leben. Selbst das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR sieht sich nicht mehr imstande, die Sicherheit der Geflüchteten im Land zu gewährleisten. Kaum Schutz bieten die staatlichen Internierungslager, wo Geflüchtete unter menschenverachtenden Bedingungen untergebracht werden. Für viele die letzte Rettung. Das Schiff Alan Kurdi im Dezember 2019 auf dem Mittelmeer. Foto: Sally Hayden/SOPA Images via ZUMA Wire/pa

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