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kämpfen weiter
Sie geben nicht auf
Vor sechs Jahren entführte die Islamistenmiliz Boko Haram in Nigeria 276 Mädchen. Unser Autor schrieb ein Buch über die Aktivisten von »Bring back our Girls« und ihren Kampf um Freilassung. Von Stefan Klein
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Nigeria hat eigentlich alles. Nigeria hat Erdöl, es hat großes landwirtschaftliches Potenzial, es hat eine aufregende literarische Szene, es hat eine blühende Filmindustrie. Aber Nigeria hat auch eine hochkorrupte politische Klasse, die den Staat ausplündert und nichts dagegen unternimmt, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung in großer Armut lebt und mit weniger als zwei US-Dollar am Tag auskommen muss.
Besonders tragisch ist die Lage der jungen Menschen im Land. Zwei Drittel der Bevölkerung sind unter 25 Jahre alt, jedes Jahr strömen sechs Millionen von ihnen auf den Arbeitsmarkt, doch dieser vermag nur einen winzigen Bruchteil davon zu absorbieren. Die große Mehrheit hat nicht mehr zu erwarten als eine prekäre Existenz als Gelegenheitsarbeiter oder fliegende Händler an großen Straßenkreuzungen.
Angesichts dieser sozialen Missstände wundert es wenig, dass eine islamistische Terrororganisation wie Boko Haram im Land Fuß fassen konnte, vor allem im muslimischen Nordosten. Boko Haram heißt wörtlich übersetzt »Westliche Bildung ist verboten« und das sind nicht nur Worte, es ist Programm und Markenkern. Mit großer Grausamkeit geht die Bewegung gegen alle Institutionen vor, die westliche Bildung vermitteln. Sie brennt Schulen nieder, tötet Lehrer und Schüler und entführt Schülerinnen – so wie die 276 Mädchen aus dem Ort Chibok, die im April 2014 von Boko Haram verschleppt wurden.
In meinem Buch »Boko Haram: Terror und Trauma. Die entführten Mädchen von Chibok erzählen« habe ich die Geschichte dieser Entführung am Beispiel von drei Schwestern nachgezeichnet. Angefangen in der Nacht, als Kämpfer von Boko Haram die Schule überfielen, bis zu ihrer jahrelangen Gefangenschaft in einer unzugänglichen, lebensfeindlichen Dornenstrauchsavanne, während der sie gedemütigt, beleidigt, geschlagen und zu sklavenähnlichen Arbeiten herangezogen wurden.
Gleich zu Beginn ihrer Leidenszeit mussten sie zwangsweise zum Islam konvertieren. Es gibt im muslimischen Norden Nigerias kleine christliche Minderheiten, auch die Mehrzahl der entführten Mädchen aus Chibok zählt dazu. Boko Haram zwang ihnen jedoch einen fremden Glauben auf. Die Mädchen bekamen islamische Namen und mussten den Hidschab tragen, den Ganzkörperschleier frommer Muslimas. Zweimal am Tag bekamen sie Koranunterricht von zwei Lehrern, die jeweils eine Rute aus frisch geschnittenen Zweigen in den Händen hielten und davon auch reichlich Gebrauch machten. Fünfmal am Tag muss - ten sie das islamische Gebet verrichten.
Dann kam der Tag, als man anfing, sie zu bedrängen, Kämpfer zu heiraten. Oder vielmehr, sich ihnen für Sex zur Verfügung zu stellen. Einige Mädchen wurden derart unter Druck gesetzt, dass sie sich in ihrer Not nicht anders zu helfen wussten als sich mit einem dieser Männer zusammenzutun. Vielleicht auch deshalb, weil sie sich davon eine Verbesserung ihrer Lage versprachen. Besseres und regelmäßigeres Essen zum Beispiel.
Denn es gab Zeiten, da konnte Boko Haram die Versorgung der Mädchen nicht sicherstellen. Bald schon waren manche Mädchen so geschwächt, dass ihre Menstruation ausblieb. Einige dachten, sie würden verhungern. Außerdem mangelte es an Wasser. Bis auf wenige Regentage im Jahr gab es nie genug Wasser. Nicht zum Trinken oder Kochen, nicht für die Hygiene.
Mit am schlimmsten waren die Bombenangriffe der nigerianischen Luftwaffe. Die Armee hatte nicht viel zustande gebracht im Krieg gegen Boko Haram, und verlegte sich deshalb darauf, Rebellennester aus der Luft zu bombardieren. Zivile Opfer wurden bewusst in Kauf genommen, denn genau dort befanden sich auch die geraubten Frauen und Mädchen und die zwangs - rekrutierten Jungen.
Für die Mädchen aus Chibok waren die Bombardierungen ein stetig wiederkehrender Horror, gegen den sie sich nicht
In Nigeria setzen die Mächtigen darauf, dass schreckliche Ereignisse bald vergessen werden.
Das Grauen überlebt. Hannatu Stephen, Christiana Ali und Ruth Ishaku, ehemalige Gefangene von Boko Haram. Fotos: Adam Ferguson/The New York Times/Redux/laif
schützen konnten. Sie lernten schnell, dass es keinen Sinn hatte, wegzulaufen. Es blieb ihnen nur, sich auf den Boden zu werfen, Gebete zu sprechen und zu hoffen. Mindestens zehn von ihnen wurden durch Bomben getötet.
Das Buch erzählt aber auch die Geschichte von BBOG: Die Abkürzung steht für »Bring back our girls« und ist der Name einer Gruppe von Aktivisten, die sich in der Hauptstadt Abuja zusammengetan haben, um eine Befreiung der Verschleppten zu erreichen. Unter dem Hashtag #bringbackourgirls nahmen weltweit zahlreiche Menschen in den sozialen Medien Anteil am Schicksal der Mädchen.
Ihre Befreiung wäre eigentlich Sache der Regierung und der Armee gewesen, und in einem funktionierenden Staat hätte es wohl auch entsprechende Bemühungen gegeben. In Nigeria setzen die Mächtigen jedoch darauf, dass schreckliche Ereignisse nach einer ersten Welle der Empörung in Vergessenheit geraten. So wäre es wahrscheinlich auch im Fall der Chibok-Mädchen gelaufen. Doch genau das wollten die BBOG-Aktivisten verhindern, und durch immer neue Aktionen sorgten sie dafür, dass die Tragödie im öffentlichen Bewusstsein blieb. Ob mit Pressekonferenzen, Protestbriefen, Symposien, Seminaren, Aktions - wochen, öffentlichen Gebeten, Mahnwachen oder Appellen an diplomatische Vertretungen – BBOG hörte nicht auf, für die Mädchen zu kämpfen.
Die Regierung ließ nichts unversucht, um die Aktivisten zum Schweigen zu bringen. Sie hetzte ihnen einen Schlägertrupp auf den Hals, engagierte eine PR-Agentur, die Verleumdungen über BBOG verbreiten sollte, und versuchte sogar, mit Bestechung einzelne Mitglieder aus der Gruppe herauszukaufen. Genützt hat es nichts.
BBOG erwies sich als unerhört hartnäckig, ließ sich nicht einschüchtern, bewies enormes Durchhaltevermögen. Mit Erfolg: 2016 und 2017 kamen insgesamt 103 Mädchen frei, teilweise im Austausch gegen inhaftierte Terroristen. Und BBOG lässt auch heute, fast sechs Jahre nach der Entführung, immer noch nicht locker, denn längst sind nicht alle Mädchen frei.
Mehr als hundert werden noch vermisst, doch es gilt als zweifelhaft, ob es auch für sie eine Rückkehr geben wird. Einige von ihnen dürften inzwischen tot sein, durch Bomben, durch Krankheit, durch das entbehrungsreiche Leben im Busch. Bei anderen steht zu befürchten, dass sie unter dem Druck jahrelanger Manipulation und Indoktrination die Seiten gewechselt und sich Boko Haram angeschlossen haben. Die Terroristen haben Videos veröffentlicht, die darauf hindeuten.
Aber BBOG wird weiterkämpfen, ermutigt durch die Zurückgekehrten. Sie haben inzwischen ihre Traumata verarbeitet und sind auf gutem Wege, sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern.
Stefan Klein: Boko Haram: Terror und Trauma. Die entführten Mädchen von Chibok erzählen. Verlag Antje Kunstmann, München 2019, 240 Seiten, 20 Euro
Denker fragen: Anna Goppel
Haben wir ein Recht darauf, uns um die Gesundheitslage im eigenen Land zu kümmern, bevor wir uns Menschen auf der
Flucht widmen? Ich sehe nicht, dass Corona uns überhaupt vor die Entscheidung stellt. Selbstverständlich haben wir ein Recht, uns um unsere Gesundheit zu kümmern. Gleichwohl haben wir die Pflicht, Flüchtlingen zu helfen und Schutz zu bieten – auch jetzt.
Haben wir jetzt vielleicht sogar eine besondere Pflicht? Wir sind generell verpflichtet, Menschen auf der Flucht zu helfen. Aber derzeit ist deren Situation durch Corona noch problematischer. Selbst das Händewaschen, was bei uns zu den grundlegenden Dingen gehört, um sich zu schützen, ist häufig nicht möglich. Deshalb haben wir derzeit noch dringlicher als ohnehin schon die Pflicht, den Menschen zu helfen und sie aufzunehmen.
Warum ist es aus philosophischer Sicht problematisch,
wenn Staaten frei entscheiden, wen sie aufnehmen? Die Kriterien, nach denen Staaten entscheiden, decken sich nicht notwendig mit dem, was moralisch geboten ist. Es besteht die Gefahr, dass Staaten eine Auswahl treffen, die für sie nützlich ist aber nicht denjenigen hilft, denen aus moralischer Perspektive geholfen werden soll, nämlich denjenigen, die besonders hilfsbedürftig sind.
Deutschland und auch andere Länder haben begonnen, unbegleitete Kinder aufzunehmen. Das wäre eine besonders
hilfsbedürftige Gruppe. Das ist eine sehr positive Entscheidung, die viele Staaten treffen sollten. Es gilt trotzdem zu betonen, dass Kinder nicht die einzigen sind, die dringend Hilfe brauchen.
Was müsste insgesamt passieren, damit Migrationspolitik
gerecht wird? Da sind zwei Punkte besonders wichtig: einmal die Bereitschaft, schutzbedürftige Menschen aufzunehmen, und darüber hinaus das Bemühen, sichere Fluchtwege zu gewähren. Ich bin außerdem der Meinung, dass eine gerechte Migrationspolitik freie Migration ermöglichen müsste. Menschen sollten wichtige Lebensentscheidungen frei treffen könnten, selbst entscheiden können, wo sie mit wem in welcher Beschäftigung leben wollen.
Interview: Lea De Gregorio
Anna Goppel ist Professorin für praktische Philosophie mit Schwerpunkt für politische Philosophie an der Universität Bern. Sie ist Mitherausgeberin des Buchs »Migration und Ethik« (mentis).
Das steckt drin: Erdöl
Erdöl wird überwiegend in Konfliktgebieten und Regionen gefördert, in denen Menschenrechtsverletzungen Alltag sind. Der größte Erdöllieferant ist Saudi-Arabien mit knapp 16 Prozent Exportanteil am weltweiten Handel. Es folgen Russland mit rund 11 und der Irak mit rund 8 Prozent. Allein aus dem Nahen Osten stammen mehr als 39 Prozent des Öls. Der mit Abstand wichtigste Lieferant für Deutschland ist Russland. Mit rund 29,2 Millionen Tonnen bezog Deutschland 2018 gut ein Drittel seines Öls von dort.
Auch Terrororganisationen finanzieren sich aus dem Ölgeschäft , so etwa der »Islamische Staat«, der Fördergebiete im Irak und Syrien zeitweise unter seine Kontrolle gebracht hatte.
Quellen: International Trade Centre, Bundesamt für Statistik, Amnesty International Foto: shutterstock/Happy Stock Photo
Im Zusammenhang mit der Ölförderung kommt es immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen. Derzeit muss sich der Mineralölkonzern Shell wegen Verbrechen in Nigeria vor Gericht verantworten. Die Vorwürfe reichen von Mitverantwortung für außergerichtliche Hinrichtungen von Bürgerrechtlern bis hin zu systematischer Umweltverschmutzung.
Bei der Ölförderung kommt es zur weitreichenden Zerstörung von Lebensgrundlagen und Ökosystemen . Die größten Ölkatastrophen ereigne- ten sich bislang 1991 am Persischen Golf, 2010 im Golf von Mexiko und in Westsibirien. In Kanada wird Erdöl besonders umweltschädlich aus Teersanden gewonnen. Dabei werden krebserregende und hochgiftige Substanzen freigesetzt. Die betroffenen indigenen Bevölkerungsgruppen protestieren gegen den fatalen Eingriff in ihre Lebensräume.
Amnesty International veröffentlicht jedes Jahr im April aktuelle Trends im weltweiten Kampf gegen die Todesstrafe.
ALLER LÄNDER WELTWEIT
HABEN DIE TODESSTRAFE INZWISCHEN VÖLLIG MEHR ALS DIE HÄLFTE
ABGESCHAFFT DIE LÄNDER MIT DEN MEISTEN EXEKUTIONEN
CHINA Tausende IRAN 251+ IRAK 100+ ÄGYPTEN 32+ SAUDIARABIEN 184
Quelle: Amnesty International 2020
Besser machen: Mode
Die Corona-Krise trifft die Bekleidungsindustrie in Asien, Ost - europa und Lateinamerika mit Wucht, Fabrikschließungen drohen. Dabei sind die Arbeitsbedingungen der Näherinnen ohnehin prekär, Armutslöhne die Regel. Es fehlen Standards beim Gesundheits- und Arbeitsschutz, geregelte Arbeitszeiten und Pausen sowie Schutzmaßnahmen gegen sexuelle Übergriffe. Gegen Proteste gehen Fabrikbesitzer teils drakonisch vor – mit schwarzen Listen unbequemer Arbeiter, Anzeigen oder Verhaftungen.
Dabei lässt sich die Situation von Beschäftigten der Textilbranche auf verschiedenen Ebenen verbessern: D Die Importländer können die Textilunternehmen auf Mindeststandards für ihre Zulieferer verpflichten. Die Bundesregierung hat zwar ein Lieferkettengesetz in Aussicht gestellt, es wegen der Corona-Krise aber vorerst auf Eis gelegt.
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Die Produktionsländer müssten die Standards der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) durchsetzen. Sie umfassen unter anderem Vereinigungsfreiheit, Recht auf kollektive Verhandlungen, Mindestalter, existenzsichernden Lohn, Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz, Arbeitszeitregelungen sowie das Verbot von Zwangsarbeit und Diskriminierung. Die Kunden können bewusster einkaufen sowie auf Billigkleidung und die stets neueste Kollektion (Fast Fashion) verzichten. Stattdessen sollten sie beim Einkauf auf Siegel achten, die eine faire Produktion der Kleidung garantieren (siehe auch: https://saubere-kleidung.de).
Weitere Informationen: Kampagne für saubere Kleidung, Femnet, Inkota
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WWW.AMNESTY.DE/GEWERKSCHAFT
WERDE AKTIV FÜR GEWERKSCHAFTER_INNEN!
Wer sich wie Li Qiaochu in China oder Rubén González in Venezuela für faire Löhne und gerechte Arbeitsbedingungen einsetzt, lebt gefährlich. Dabei ist das Recht, Gewerkschaften zu bilden und ihnen beizutreten, in internationalen Menschenrechtsabkommen festgeschrieben. Werde aktiv für mutige Menschen, die sich für Arbeitnehmer_innen einsetzen und dafür verfolgt, bedroht und inhaftiert werden!