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Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und FrauenSierra Leone

Staat gegen Vergewaltigungen

In Sierra Leone gehört sexuelle Gewalt zum Alltag vieler Mädchen und Frauen. Neue Gesetze sollen die Situation verbessern. Von Frank Odenthal

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Es geschah, als ihr Vater beerdigt wurde. Bettys* Mutter hatte sie bei einer Tante gelassen, weil die damals Achtjährige nicht zur Beisetzung mitkommen sollte. Ein Freund der Familie, ein 40- jähriger Mann, überredete Betty, mitzukommen. Es war ein ungewöhnlich langer Spaziergang, erinnert sich Betty später, bis zum Nachbardorf und noch weiter. Dort befahl er dem Mädchen, sich auszuziehen, und vergewaltigte sie. Anschließend schickte er sie zu einer nahen Wasserstelle, wo sie sich waschen sollte. Als sie zurückkam, fiel er erneut über sie her. Das Ganze wiederholte sich drei Mal. Schließlich ließ er von ihr ab. Betty wurde kurz darauf von Bewohnern des benachbarten Dorfes stark blutend und mit schweren inneren Verletzungen gefunden, zu ihrer Familie und dann in ein Krankenhaus gebracht, wo man ihr Leben retten konnte. Das war 2018, der Täter wurde kurz darauf inhaftiert.

Leider kein Einzelfall in Sierra Leone. Sexuelle Gewalt hat in dem Land an der Westküste Afrikas stark zugenommen. 2018 meldeten die Erstaufnahmestationen für Opfer sexueller Gewalt 3.138 Fälle und damit 70 Prozent mehr als noch fünf Jahre zuvor. Pro Tag wenden sich etwa zehn Personen, die Opfer sexueller oder geschlechtsspezifischer Gewalt wurden, an sogenannte Rainbo-Center. Die meisten sind Frauen.

Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen. Schuld daran ist ein Phänomen, das als »victim blaming« bekannt ist: Den betroffenen Frauen wird vorgehalten, durch ihr Verhalten oder ihren Kleidungsstil eine Vergewaltigung provoziert zu haben – und somit eine Mitschuld zu tragen. Die Opfer werden zusätzlich zu dem Unrecht, dass ihnen geschah, auch noch stigmatisiert. In rund der Hälfte der Fälle sind sie minderjährig, die Täter oftmals Bekannte oder Familienangehörige.

Oft sind sich die Mädchen oder Frauen gar nicht bewusst, einer Straftat zum Opfer gefallen zu sein. Denn häufig wird ihnen von ihrer Umgebung suggeriert, es sei ganz normal, wenn sich der Onkel oder der Vater gelegentlich übergriffig verhalte. Umso höher ist die Hürde für Kinder und Jugendliche, sexuellen Missbrauch und Vergewaltigungen den Behörden zu melden.

Der verheerende Bürgerkrieg

»Die Misshandlungen werden brutaler«, stellt Daniel Kettor fest, der Leiter der Rainbo-Center. Selbst Säuglinge sind vor sexuellen Übergriffen nicht sicher. Das jüngste Missbrauchsopfer, mit denen die Mitarbeiter der Erstaufnahmestation in Freetown konfrontiert wurden, war ein drei Monate altes Baby. Das Kind erlag wenige Stunden nach der Einweisung seinen Verletzungen. Erlebnisse, die auch die Helfer nicht unberührt lassen. »Es war der schlimmste Tag meines Lebens«, erinnert sich Kettor.

Das Problem der massenhaften Vergewaltigungen ist so dringlich, dass sich Staatspräsident Julius Maada Bio gezwungen sah, im Februar 2019 den nationalen Notstand auszurufen – den weltweit ersten seiner Art. Für viele Menschen war es ein Weckruf, als Bio diesen ungewöhnlichen Weg wählte, um auf die Missstände im Land aufmerksam zu machen. Der Präsident demonstrierte damit, dass der Staat das Problem erkannt hatte und nicht gewillt war, weiterhin wegzuschauen und die Zustände totzuschweigen. So dürften die derzeit weiter steigenden Zahlen gemeldeter Vergewaltigungsfälle auch darauf zurückzuführen sein, dass viele junge Frauen erst jetzt den Mut aufbringen, sich an die Behörden zu wenden.

Was sind die Ursachen für die Gewalt gegen Frauen und vor allem Mädchen in Sierra Leone? Wer die Menschen auf die besonderen Probleme ihres Landes anspricht, bekommt schnell Geschichten vom verheerenden Bürgerkrieg zu hören, der zwischen 1991 und 2002 tobte. Bei dem Konflikt zwischen Regierungstruppen und der Rebellengruppe Revolutionary United Front, die von Warlords aus dem benachbarten Liberia unterstützt wurde, ging es vor allem um die Kontrolle der Diamantenfelder im Südosten des Landes. Bis heute gehört Sierra Leone zu den größten Produzenten von Naturdiamanten weltweit. Bis zu 300.000 Menschen wurden während des Bürgerkriegs getötet. Von den rund sieben Millionen Einwohnern des Landes mussten 2,6 Millionen ihre Heimat verlassen. Zu den Gräueltaten gegen die Zivilbevölkerung gehörte neben dem Abhacken von Gliedmaßen und der Zwangsrekrutierung von Kindersoldaten auch die systematische Vergewaltigung von Frauen und Mädchen, die als Kriegswaffe eingesetzt wurde. In Verbindung mit den patriarchalen Strukturen, die Frauen nur eine untergeordnete Rolle in der Gesellschaft zugestehen, entstand in Sierra Leone ein Zustand, den Experten heute als »Epidemie der Vergewaltigungen« beschreiben.

Spontaner Jubel bei Abgeordneten

Solomon Sogbandi hat den Bürgerkrieg am eigenen Leib zu spüren bekommen. Er hat erlebt, wie eine Gesellschaft in die Barbarei kippen kann, wenn die Menschen das Vertrauen in den Staat und die Achtung vor den Gesetzen verlieren. Heute leitet Sog

Häufig wird Mädchen suggeriert, es sei normal, wenn sich der Onkel übergriffig verhalte.

Menschenrechtseinsatz mit Erfolg. Solomon Sogbandi von Amnesty International.

bandi das Büro von Amnesty International in Sierra Leone. »Die Brutalität des Bürgerkrieges hat Spuren in den Köpfen der Menschen hinterlassen«, sagt er, »vor allem bei der Generation, die in jenen Jahren aufwuchs.« Es sei eine Generation, der kein moralischer Kompass vermittelt wurde. Heute, als junge Erwachsene, würden sie aber den Ton im Land angeben.

Eigentlich hat Sierra Leone gute Voraussetzungen für Wohlstand und eine positive wirtschaftliche Entwicklung. Das Land ist reich an Bodenschätzen, neben Diamanten gibt es auch Gold, Eisenerz und Bauxit. Die Böden sind überaus fruchtbar. Und in der Tagrin Bay vor den Toren Freetowns befindet sich der größte Naturhafen Afrikas.

Doch die ersten Zeichen eines wirtschaftlichen Aufschwungs nach dem Bürgerkrieg wurden von der Ebolakrise in den Jahren 2014 und 2015 zunichte gemacht, die nicht nur das Gesundheitssystem, sondern den gesamten Staatshaushalt an den Rand des Kollapses brachte. So belegt Sierra Leone derzeit im Entwicklungsindex der Vereinten Nationen Rang 181 von 189 erfassten Staaten. Die Weltgesundheitsorganisation WHO stuft die Lebenserwartung von durchschnittlich 51 Jahren als besonders niedrig ein. Unicef bezeichnet die Kindersterblichkeitsrate in dem Land als die höchste der Welt.

Inzwischen ist der Notstand wieder aufgehoben worden. Stattdessen verschärfte die regierende Sierra Leone People’s Party (SLPP) im September 2019 ein Gesetz gegen sexuelle Gewalt (»Sexual Offences Act«) aus dem Jahr 2012. Bei der Verabschiedung des neuen Gesetzes im Parlament brach spontaner Jubel bei Abgeordneten und Zuschauern aus. Es sieht bei Vergewaltigungen von Minderjährigen obligatorisch die Höchststrafe vor, die von fünfzehn Jahren Haft auf lebenslänglich erhöht wurde. Das Gesetz reformierte auch die Strafprozessordnung. Nun gibt es Gerichte, die sich ausschließlich mit Fällen sexueller Gewalt befassen. Und auch einen verpflichtenden Strafkatalog für Sexualdelikte, der verhindern soll, dass es zu außergerichtlichen Einigungen kommt. Vor allem in abgelegenen Landesteilen waren Täter zuvor gegen eine Zahlung geringer Geldbeträge freigekommen.

Erfolg für Amnesty

Auf eine weitere wichtige Neuerung macht Alexandra Rigby aufmerksam. Die Engländerin leitet das Aberdeen Women’s Center im Nordwesten Freetowns, ein Frauenkrankenhaus mit Geburtsstation, das ebenfalls Vergewaltigungsopfer betreut. »Das neue Gesetz sieht vor, dass nicht mehr nur die fünf Rainbo-Center des Landes als Erstaufnahmestation für misshandelte Frauen anerkannt werden, sondern jedes öffentliche Krankenhaus in Sierra Leone«, sagt Rigby. Somit vervielfache sich die Zahl der Anlaufstellen für Frauen auf mehrere hundert. Vor allem für ländliche Regionen sei das ein Fortschritt. Außerdem dürfen die Krankenhäuser nun medizinische Gutachten erstellen – bei einem späteren Prozess gegen die Täter kann das von Bedeutung sein.

Auch wenn das neue Gesetz euphorisch gefeiert wurde: Noch ist es ein weiter Weg für das kleine Land an Afrikas Atlantikküste. Das zeigt die Debatte um den »pregnant school girls ban«, das Verbot für schwangere Mädchen, eine Schule zu besuchen. Dass schwangere Mädchen nicht nur körperliche Strapazen und Stigmatisierungen erdulden müssen, sondern auch noch mit Bildungsentzug bestraft werden, ist eine weitere Form von »victim blaming«. »Ein Schulverbot stellt einen groben Verstoß gegen das Men

Hilft, wo immer es möglich ist. Alexandra Rigby vom Aberdeen Women’s Center.

schenrecht auf Bildung und Teilhabe der jungen Mädchen dar«, stellt Solomon Sogbandi von Amnesty International fest. Das Verbot geht auf die Ebolakrise zurück. Damals wurden alle Schulen geschlossen, um das Virus einzudämmen. Die medizinischen Überwachungen ausländischer Experten erfassten erstmals auch die Zahl der Schwangerschaften bei Minderjährigen. Daraufhin schloss der damalige Bildungsminister Minkailu Bah schwangere Mädchen kurzerhand vom Unterricht aus. Sie übten einen schlechten Einfluss auf ihre Klassenkameradinnen aus, meinte der Minister zur Begründung.

Der derzeitige Bildungsminister Alpha Osman Timbo sah das anders und erlaubte den betroffenen Mädchen zwischenzeitlich die Teilnahme an den Abschlussprüfungen. »Doch wie sollen sie die Prüfungen bestehen, wenn sie nicht am Unterricht teilnehmen dürfen?«, fragt Sogbandi.

Im Dezember vergangenen Jahres entschied dann ein Regionalgericht der Wirtschaftsgemeinschaft der westafrikanischen Staaten (ECOWAS), das Schulverbot sei diskriminierend und müsse umgehend aufgehoben werden. Und siehe da: Ende März kippte der Bildungsminister das Verbot mit sofortiger Wirkung.

Ein Erfolg auch für Amnesty International und sein Büro in Freetown. Einige Nichtregierungsorganisationen hatten vor dem ECOWAS-Regionalgericht geklagt, Amnesty gab vor Gericht eine Sachverständigen-Stellungnahme gegen das Verbot ab. »Die Stigmatisierung von schwangeren Mädchen, vor allem wenn eine Vergewaltigung vorausging, muss aufhören«, verlangt Solomon Sogbandi. Die Regierung solle die Mädchen lieber fördern, anstatt sie zu bestrafen. »Es muss sich etwas in den Köpfen ändern, was die Wertschätzung von Frauen und Mädchen betrifft«, sagt er. Das fange in den Familien an und müsse sich in den Schulen fortsetzen. Jungen und Mädchen müssten außerdem über Verhütungsmöglichkeiten aufgeklärt werden, um ungewollten Schwangerschaften vor allem bei Teenagern entgegenzuwirken. Familienplanung könne ein Baustein für ein selbstbestimmtes Leben sein, sagt Sogbandi. Und natürlich gehöre dazu auch, angstfrei am öffentlichen Leben teilnehmen zu können und sich im privaten Umfeld vor sexueller Gewalt geschützt zu fühlen.

Betty lebt heute in einem Waisenhaus in Freetown. Ihre körperlichen Verletzungen sind verheilt, sie hat sich auch psychisch stabilisiert. Eine Rückkehr in ihr Dorf ist jedoch zu gefährlich – das Risiko, Racheakten von Angehörigen des Täters ausgesetzt zu sein, ist zu hoch. Betty kam regelmäßig ins Aberdeen Women’s Center zur Nachsorge. Alexandra Rigby, die Leiterin, erinnert sich, dass sie bei jedem Besuch selbstbewuss - ter auftrat und zuletzt den Eindruck eines optimistischen, fröhlichen Mädchens machte. »Ein Happy End«, sagt Rigby, »trotz allem«.

* Name von der Redaktion geändert

Viele Täter sind gegen die Zahlung geringer

Geldbeträge freigekommen.

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