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Repression auch in Corona-ZeitenTürkei I

Der Präsident lässt säubern

Foto: Emirkan Corut/Middle East Images/laif

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Repression auch in Corona-Zeiten: In der Türkei können Kritiker der Regierung weder mit Milde noch mit Hafterleichterungen rechnen. Von Wolf Wittenfeld

Ende März stellt ein verzweifelter LKW-Fahrer ein kleines Video auf YouTube, in dem er sich etwas Luft macht. Wegen der Einschränkungen des Verkehrs als Reaktion auf die Corona-Pandemie könne er mit seinem LKW kein Geld mehr verdienen und wisse nun nicht mehr, wie er seine Familie ernähren und seine Rechnungen bezahlen solle. Wörtlich sagt er: »Nicht das Virus tötet mich, euer System tötet mich.«

Nun kann man sicher darüber streiten, wie weit die von der Politik beschlossenen Einschränkungen zur Eindämmung der Pandemie gehen sollen, viele Menschen in der Türkei waren Ende März der Meinung, es sollte eine generelle Ausgangssperre geben. Wie man zu dieser Frage steht, spielt jedoch keine Rolle, wenn man sich ansieht, was dem Mann nach der Veröffentlichung seines Videos passierte.

In den Morgenstunden des nächsten Tages klingelten Polizisten bei ihm, durchsuchten sein Haus und nahmen ihn mit auf die Wache. Dort wurde er nach einigen Stunden dem Staatsanwalt vorgeführt. Nach einer Befragung durfte er die Wache zwar wieder verlassen, erhielt aber die Auflage, im Land zu bleiben.

So wie dem LKW-Fahrer geht es im Lande des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan derzeit vielen, die ihre Meinung auch in der Öffentlichkeit sagen. Allein in der zweiten Märzhälfte wurden 459 Ermittlungsverfahren wegen »manipulativer Beiträge in sozialen Medien« eingeleitet. Selbst wenn es darunter tatsächlich einige Falschmeldungen gegeben haben sollte, in der Mehrheit handelte es sich schlicht um Meinungsäußerungen von Menschen, die mangelnde Transparenz und die Untätigkeit der Regierung in der Krise kritisierten oder die offiziell verkündeten Infektionszahlen infrage stellten.

Es war der Journalist Murat Sabuncu, der den Fall des LKWFahrers auf der vielgelesenen Website T24 weiter verbreitete. Er weiß genau, wovon er spricht, wenn er die Einschränkungen der Meinungsfreiheit in der Türkei anprangert. Bis Oktober 2016 arbeitete Sabuncu als Chefredakteur der oppositionellen Zeitung Cumhuriyet – als Nachfolger des wohl bekanntesten türkischen Journalisten Can Dündar, der nach einem Attentat im Frühsommer 2016 nach Deutschland ins Exil gegangen war.

Sabuncu trat sein Amt in schwierigen Zeiten an. Ende Okto - ber 2016 wurden er und weitere Cumhuriyet-Mitarbeiter verhaftet. Sie sollen, so der Vorwurf, wahlweise die kurdische »Terrororganisation PKK« oder die »FETÖ-Terrororganisation« unterstützt haben; mit »FETÖ« ist die islamische Gülen-Bewegung gemeint, die für den Putschversuch im Juli 2016 verantwortlich gewesen sein soll. Die Anklage ist völlig willkürlich, widersprüchlich und stützt sich vor allem auf einige aus dem Zusammenhang gerissene Artikel, die in der Zeitung erschienen waren.

Dennoch wurden zwölf der 17 Angeklagten im April 2018 verurteilt, nachdem die meisten mehr als ein Jahr lang in Unter-

suchungshaft gesessen hatten. Gegen zwei Angeklagte, darunter Dündar, wurde das Verfahren ausgesetzt, weil sie im Ausland sind. Sabuncu gehörte zu den Angeklagten, gegen die das Gericht eine Haftstrafe von mehr als sieben Jahren verhängte. Da er vor dem höchsten türkischen Gericht, dem Yargitay, Berufung eingelegt hat und dieses Verfahren noch andauert, muss Sabuncu vorerst nicht ins Gefängnis.

Anders als sechs Cumhuriyet-Mitarbeiter, die zu weniger als fünf Jahren Haft verurteilt worden waren. Ihre Haftstrafe wurde rechtskräftig, und sie mussten im April 2019 ihren Gang ins Gefängnis antreten.

Lasst die politischen Gefangenen frei

Ende März 2020 forderten 24 türkische und internationale Organisationen, darunter Amnesty International, die sofortige Freilassung aller gefangenen Journalisten und Menschenrechtsverteidiger. Wegen der Corona-Pandemie, die die Türkei mit voller Wucht trifft, seien die Zustände in den Gefängnissen lebensbedrohlich. Ende 2019 saßen in den türkischen Haftanstalten 208.457 rechtskräftig verurteilte Gefangene und 55.574 Untersuchungshäftlinge. Viele Zellen sind überbelegt, Abstandsregeln illusorisch und die hygienischen Verhältnisse katastrophal.

Die Regierung hat deshalb im April ein Gesetz verabschiedet, das die Freilassung von knapp einem Drittel aller Gefangenen vorsieht. Doch sollen nicht nur Mörder, Vergewaltiger und Sexualstraftäter im Gefängnis bleiben müssen, sondern auch alle Gefangenen, die nach dem Antiterrorgesetz angeklagt oder verurteilt wurden. Anders gesagt: Die meisten politischen Gefangenen, wie Oppositionelle und Journalisten, werden wegen Corona nicht freikommen.

In dem Aufruf zur Freilassung der politischen Gefangenen heißt es, die Antiterrorgesetzgebung sei »vage«. Sie werde häufig benutzt, um Journalisten, oppositionelle Aktivisten, Anwälte, Menschenrechtler und andere, die abweichende Meinungen äußern, wegen »Terrorpropaganda« oder Unterstützung einer »Terrororganisation« anzuklagen. In vielen Prozessen sei dokumentiert worden, dass es dabei »oft lediglich darum ging, eine abweichende Meinung zu äußern, und es keinerlei Beweise für gewaltsame Handlungen oder Mitarbeit in einer illegalen Organisation gab«.

Dies gilt auch für die Prozesse gegen Amnesty-Mitarbeiter und Vertreter anderer Menschenrechtsorganisationen, die nach einem Seminar auf der Prinzeninsel Büyükada im Sommer 2016 angeklagt wurden (siehe Seite 28) oder die Menschenrechtsanwältin Eren Keskin (siehe Seite 27), die zwar derzeit nicht in Haft sind, aber weiter lange Gefängnisstrafen befürchten müssen. ne des Präsidenten; alle Bemühungen um ihre Freilassung scheiterten bislang aus genau diesem Grund.

Altan gehörte nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 zu den ersten prominenten Journalisten, die im Zuge der Ermittlungen festgenommen wurden. Er soll einen Tag vor dem Putsch in einem der Gülen-Bewegung nahestehenden Fernsehsender »unterschwellige Botschaften« übermittelt haben. Die Talkshow, in der Altan sich am besagten Tag geäußert hatte, gab keine konkreten Anhaltspunkte für die Anklage her, dies konnte die Staatsanwaltschaft jedoch nicht erschüttern, denn die Botschaften, die er übermittelt haben soll, seien ja »unterschwellig« gewesen. Am 16. Februar 2018 wurde er wegen des Vorwurfs, »die verfassungsmäßige Ordnung umstürzen zu wollen«, zu lebenslänglicher erschwerter Haft verurteilt.

Der Grund für dieses Urteil ist politisch, nicht juristisch. Altan war jahrelang Kolumnist für diverse Zeitungen des Landes. Gleichzeitig schrieb er Romane, in denen er sich spöttisch und kritisch mit den Herrschenden in der Türkei auseinandersetzte. Im Jahr 2007 wurde er das Aushängeschild der neuen Zeitung Taraf, die sich gegen das türkische Militär wandte, das jahrzehntelang das eigentliche Machtzentrum der Türkei war. Angeblich wurde die Zeitung von Gülen unterstützt. Doch war das solange kein Problem, wie auch Erdoğan mit Gülen eng zusammenarbeitete. Erst als es 2014 zum Bruch zwischen Erdoğan und der einflussreichen Bewegung kam, gerieten auch Journalisten, die angeblich im Dienste Gülens standen, unter Beschuss. Die Regierung unterstellt Altan seither, Gülen-Anhänger zu sein. Und weil er ein unerschrockener Journalist ist, der auch noch pointiert schreibt, ist er im Regierungslager besonders verhasst. Mal kurz in Freiheit. Ahmet Altan mit seiner Tochter Sanem im November 2019. Foto: Bulent Kilic/AFP/Getty Images

Justizfarce in doppelter Form

In zwei anderen, dramatischen Fällen sieht es schlechter aus. So sitzt einer der bekanntesten Journalisten und Schriftsteller, Ahmet Altan, seit nunmehr dreieinhalb Jahren in Untersuchungshaft. Der bekannte Kulturmäzen und Menschenrechtsaktivist Osman Kavala wurde im Oktober 2017 inhaftiert und hat nur ein Jahr Untersuchungshaft weniger aufzuweisen.

Beide Verfahren sind eine Justizfarce und offensichtlich politisch motiviert. Beide Männer gelten als persönliche Gefange

Ahmet Altan und Osman Kavala gelten als persönliche Gefangene des Präsidenten.

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