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von Glauben und bewaffnetem Kampf
Auf der Flucht. Mehr als zwei Millionen Menschen verließen nach dem Völkermord Ruanda. Das Flüchtlingslager Kibumba in der DR Kongo, 1994.
Das Leben gewinnt
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Von A wie Afghanistan bis Z wie Zentralafrikanische Republik: Der Fotograf Noël Quidu zeigt in seinem Bildband »Und Gott schuf den Krieg« die unselige Verquickung von Glauben und bewaffnetem Kampf. Von Maik Söhler
Die Verbindung von Krieg und Glauben kann sehr dezent daherkommen, etwa wenn ein Mann in einem Bus voller Milizionäre in Transnistrien unauffällig sein Kreuz küsst, das er an einer Kette um den Hals trägt. Deutlicher zeigt sich diese Verbindung, wenn auf einer Straße im afghanischen Bagram verschleierte Frauen und Mädchen zu sehen sind, während wenige Kilometer entfernt gekämpft wird. Zwei Bilder, zwei Abstufungen. 142 Bilder enthält der Fotoband »Und Gott schuf den Krieg« des französischen Fotografen Noël Quidu, das sind 142 Abstufungen. Alle Bilder wurden in Konfliktgebieten aufgenommen und fangen neben Kriegshandlungen auch ideologische Momente ein, von denen viele religiös aufgeladen sind. Von A wie Afghanistan bis Z wie Zentralafrikanische Republik reicht der Kosmos, den Quidu bereist hat; von 1990 bis fast in die Gegenwart erstreckt sich die Zeitspanne. Manche Länder wie Bosnien sind uns sehr nah, andere wie Pakistan weit entfernt.
Für Quidu macht das keinen Unterschied. Er ist seit Jahrzehnten für die Nachrichtenagentur Gamma als Bildreporter in Kriegs- und Krisengebieten unterwegs und hat bereits dreimal den »World Press Award« erhalten, den renommiertesten Preis, den die internationale Pressefotografie vergibt. »Ich will Bilder schaffen, die gerade noch erträglich sind und somit öffentlich gezeigt werden können«, schreibt Quidu im Vorwort.
Es ist kein normales Vorwort, das nur Orte beschreibt, Personen charakterisiert und Situationen in ihrem Kontext erläutert. Der Fotograf erläutert darin auch die Motive, die ihn in den vergangenen 30 Jahren angetrieben haben: »Die Geschichte mit all ihren blutrünstigen Auswüchsen darf sich nicht wiederholen. Meine Fotografien bezeugen auf bestürzende Weise die Würdelosigkeit des Menschen.« Und er formuliert seine größte Hoffnung: »Das Leben ist stärker als der Tod.«
Dieser Hoffnung folgen seine Bilder. Egal ob in Aleppo, Kairo oder Bagdad, in Mogadischu, Monrovia oder Kigali, in Kabul oder Bagram, in Belgrad oder Sarajewo – Quidu ist nahe an den Menschen, von denen einige zu Tätern und andere zu Opfern werden. Gesten des Triumphs und des Siegesrauschs sind gelegentlich zu sehen, manchmal auch Nachdenklichkeit und Distanz, meist aber Leid, Angst, Trauer und Verzweiflung. Jedes Foto lässt erahnen, wie wohl der Alltag in Extremsituationen aussieht – für Kinder und Erwachsene, für Zivilisten und Krieger.
Cyril Drouhet, Direktor für Reportagen und Fotografie beim Figaro Magazine, hat weitere kenntnisreiche Texte zu einzelnen Krisengebieten beigesteuert. Auch sie tragen dazu bei, dass »Und Gott schuf den Krieg« ein beeindruckendes Buch geworden ist, das vor Krieg und religiösem Fundamentalismus warnt. Doch nicht die Texte bleiben in Erinnerung, wenn man das Buch aus der Hand gelegt hat. Es sind Quidus Fotos, die man so schnell nicht vergisst.
Noël Quidu/Cyril Drouhet: Und Gott schuf den Krieg. Bildband, dreisprachig (Französisch/Englisch/Deutsch). Edition Lammerhuber, Baden 2019. 272 Seiten, 142 Fotos, 59 Euro
Leiden in Moria Es muss schon einiges im Argen liegen, wenn aus den vielen Orten, die die Brutalität und das Scheitern der europäischen Flüchtlingspolitik dokumentieren, einer herausragt: Moria, ein von der EU-Bürokratie »Hotspot« genanntes Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos. Das Lager ist permanent überfüllt, die medizinische Versorgung, die hygienischen Bedingungen und die Ernährungslage sind miserabel. Folteropfer und traumatisierte Flüchtlinge werden nicht angemessen behandelt, Kinder und unbegleitete Minderjährige erhalten keine ausreichende Schulbildung und Betreuung. Kein Wunder, dass Jean Ziegler, der viele Jahre in hochrangigen Funktionen für die UNO gearbeitet hat, Moria als »Schande Europas« bezeichnet und sein neues Buch auch so betitelt. Ziegler war zuletzt 2019 in Moria, er hat mit griechischen Offiziellen gesprochen, mit UN- und EU-Vertretern, mit Hilfsorganisationen und Flüchtlingen. Er skizziert eine Politik, der Jahr für Jahr Tausende Menschen zum Opfer fallen – im Mittelmeer und an anderen Außengrenzen der EU. Insbesondere auf die wenig bekannte EU-Institution EASO (Europäisches Unterstützungsbüro für Asylfragen) richtet sich seine Kritik. »Wir müssen die sofortige und endgültige Schließung aller Hotspots durchsetzen, wo immer sie sich befinden«, lautet sein menschenrechtlich begründetes Fazit.
Jean Ziegler: Die Schande Europas. Aus dem Französischen von Hainer Kober. C. Bertelsmann, München 2020. 144 Seiten, 15 Euro
Die Geheimnisse Liechtensteins Wo endet das Whistleblowing und wo beginnen Betrug und Verrat? Es ist in der Realität nicht immer leicht, das eine vom anderen zu unterscheiden, weil die Preisgabe von unbequemen Informationen manchmal nicht ohne Verrat zu haben ist. Wie schön, dass es sich die Literatur bei diesem Thema leichter machen kann. Benjamin Quaderer, ein österreichischer Schriftsteller, der in Liechtenstein aufgewachsen ist, legt mit »Für immer die Alpen« einen Roman vor, der geschickt die verschiedenen Ebenen mischt, die es zwischen Whistleblowing, Aufklärung, Wahrheit, Betrug, Lüge und Diebstahl so geben kann. Das Steuerhinterziehungs- und Finanzspekulationsparadies Liechtenstein gerät mit seinem Bürger Johann Kaiser aneinander, der Dokumente und Kundendaten außerhalb des Fürstentums in Umlauf bringt, nachdem er von privaten Gläubigern verfolgt und gefoltert wurde. Quaderer beleuchtet den Finanzplatz Liechtenstein, der nicht nur als »Heimat für Schwarzgelder aus aller Welt« dargestellt wird, sondern in dem »Politik, Justiz, Banken und Polizei eng zusammenarbeiten (...) und über Jahre hinweg ein System entstand (...), dessen Endzweck in der Beihilfe zur Geldwäsche« besteht. Und genau dort agiert Johann Kaiser, der weitaus windiger daherkommt als Julian Assange, Edward Snowden und Chelsea Manning zusammen. »Für immer die Alpen« ist ein unterhaltsamer Roman, der leider auch Längen hat.
Benjamin Quaderer: Für immer die Alpen. Luchterhand, München 2020. 592 Seiten, 22 Euro
Viele Links von rechts Beinahe unbemerkt haben sich rechte, rechtspopulistische und rechtsextreme Akteure zu einem großen Netzwerk verbunden, das auf die deutsche Politik und die Öffentlichkeit Einfluss zu nehmen versucht. Inwieweit das gelingt und wie sich die Inhalte des Netzwerks auf Facebook, Instagram, Twitter, Youtube und anderen Plattformen verbreiten, haben die beiden Kommunikationswissenschaftler Patrick Stegemann und Sören Musyal in einer aufwändigen Recherche untersucht. »Die rechte Mobilmachung. Wie radikale Netzaktivisten die Demokratie angreifen«, heißt ihr Buch, das aufdeckt, was »Identitäre« mit Troll-Armeen, »Influencer« mit der AfD und alle zusammen mit Computerspielwelten zu tun haben.
Die Akteure und Knotenpunkte präzise zu beschreiben und zu analysieren, ist eine große Leistung der Autoren. Eine andere, womöglich noch bedeutendere besteht darin, offenzulegen, wie Online-Plattformen und rechte Netzwerke von einer gemeinsamen Logik leben: »Viralität ist Populismus«, resümieren Stegemann und Musyal. In Online-Plattformen verbreiten sich personalisierte, auf Angst zielende Nachrichten oft schnell, werden »viral«. Und wenn die populistische Rechte eines gut kann, dann ist es, personalisierte oder gruppenbezogene Angstbotschaften zu verbreiten. »Die rechte Mobilmachung« ist das richtige Buch, um Angriffe im öffentlichen Raum zu erkennen und sie aufgeklärt abwehren zu können.
Patrick Stegemann/Sören Musyal: Die rechte Mobilmachung. Ullstein, Berlin 2020. 304 Seiten, 17,99 Euro
Im Schutz der Einsamkeit »Es ist dunkel. So dunkel, dass ich mich selbst nicht mal sehen kann. Ich bin irgendwo mitten im Wald.« Vincents Geschichte beginnt, als eigentlich alles zu spät scheint. Weiße Schrift auf schwarzem Papier, die Dunkelheit buchstäblich vor Augen, taucht man in Vincents Welt ein. Eine Welt, die bestimmt ist von Angst: Angst vor den mobbenden und prügelnden Mitschülern und der bevorstehenden Klassenfahrt. Aber auch Angst, die Eltern zu enttäuschen, ihnen Sorgen zu bereiten. Auch darum vertraut er sich ihnen nicht an, sondern erfindet immer neue Ausreden und sucht nach eigenen Lösungswegen. Sein Survival-Handbuch gibt ihm Halt, ebenso die imaginierten Tiere, die nicht von seiner Seite weichen.
Für den elfjährigen Ich-Erzähler Vincent, der sich eigentlich nur nach Normalität sehnt, geht es tatsächlich ums Überleben: Als die Situation auf der Klassenfahrt eskaliert, flieht er verletzt in den Wald. Die Dunkelheit der Nacht ist sein Schutzschild, die neue Mitschülerin, die von allen nur »Die Jacke« genannt wird, seine Vertrauensperson und sein Lichtblick. Nicht mehr und nicht weniger. Denn die niederländische Autorin Enne Koens beschönigt nicht, erfindet kein unglaubwürdiges Happy End. Was Vincent erzählt, ist konsequent und glaubhaft, es rührt an, wirkt lange nach und lässt doch Raum für humorvolle Schilderungen.
Enne Koens (Text), Maartje Kuiper (Illustrationen): Ich bin Vincent und ich habe keine Angst. Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann. Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2019. 192 Seiten, 15 Euro. Ab 9 Jahren
Fluss der Armut »Housing for all« lautet das Motto von fünf Flößern aus Bangladesch. Sie transportieren Bambus auf dem Wasserweg. Aus dem Holz werden die Hütten der Ärmsten im Land gebaut. Hitze, Regen und Stromschnellen gehören zum Alltag der Männer. Eine gefährliche Arbeit – und manch einer geht über Bord. Der Dokumentarfilm »Bamboo Stories« von Shaheen Dill-Riaz handelt von Armut und ihren Ausformungen. Der Regisseur ist Spezialist für harte und gefährliche Arbeitsverhältnisse ohne Unfallversicherung, Dienstzeiten und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Seit er mit »Eisenfresser« bengalischen Stahlarbeitern ein Denkmal setzte, die Schiffwracks mit bloßen Händen zerlegen, gilt er als Filmer der Ausgebeuteten. Seine Methode ist die »teilnehmende Beobachtung«: Die kleine Crew war tagelang mit den Bambusflößern unterwegs. Sie verlor einen Teil der Ausrüstung an den Fluss, bekam es mit korrupten Beamten und Piraten zu tun. Hochengagiertes Kino, das Lebensrealität unter schweren Bedingungen abbildet. Dill-Riaz reiste auch zu den Familien der Flussarbeiter, die in größter Armut leben. »Die Frauen werden oft mit den familiären Problemen allein gelassen«, sagt der Regisseur. »Als Mutter ist eine Frau wahrscheinlich emotional dichter an den Kindern dran und kann nicht einfach weggehen wie ein Mann.« Doch ist der Mann auf dem Floß gefangen. So ist dieser brillante Film über die Flößer auch ein Film über deren Frauen.
»Bamboo Stories«. BGD/D 2019. Regie: Shaheen Dill-Riaz. DVD (Sabcat Media)
Ernüchternder Alltag Bürgerkriegsregion, Schauplatz schlimmster Verbrechen, wichtigste Fundstelle von Rohstoffen für die Digitalindustrie: Das sind die Verhältnisse im Osten der Demokratischen Republik Kongo, wo die Menschen täglich der Gefahr von Mord und Vergewaltigung ausgesetzt sind. Anne-Laure, Peter und Raúl sind genau deswegen dort, und Regisseur Stephan Hilpert begleitet die westlichen Entwicklungshelfer und Wissenschaftler in seinem Dokumentarfilm »Congo Calling« bei ihren Aktivitäten: Sie bringen Geld mit, das jedoch schneller weg ist, als sie schauen können. Idealismus hat die drei einst angetrieben – Ernüchterung, Zynismus und sogar Überheblichkeit bestimmen heute ihre Haltung. Während Raúl Interviews mit Rebellen zu Studien verarbeitet – die O-Töne deuten grausamste Verhältnisse an – führt Anne-Laure politische Kämpfe. Ihren Job in einer Kinderschutzorganisation hat sie gekündigt und organisiert nun mit ihrem Partner Fred regimekritische Musikfestivals. Der Film thematisiert auch den Tod des Musikers und Menschenrechtsaktivisten Djoo Paluku, der 2017 von einem Polizisten erschossen wurde. Peter ist mit Mitte 60 am Ende seines Berufslebens als Menschenrechtsverteidiger und kämpft mit Existenzproblemen. Ein Film mit einem sehr persönlichen Zugang. Der fragt, ohne zu antworten: Was treibt der globale Norden in Ländern wie dem Kongo? Welchen Sinn machen Hilfen? Ein Meisterwerk. Bitte mehr davon!
»Congo Calling«. D 2019. Regie: Stephan Hilpert. DVD (jip)
Wüstenrock voller Hoffnung Seit rund einem Jahrzehnt leben die Musiker der TuaregBand Tamikrest um den Gitarristen und Sänger Ousmane Ag Mossa nicht mehr in ihrer Heimatstadt Kidal im Norden Malis. Dort gründeten sie einst ihre Band, aber dort wurde es ihnen irgendwann zu gefährlich. Inzwischen leben sie, wenn sie nicht gerade irgendwo in der Welt unterwegs sind, auf der anderen Seite der Grenze in Tamanrasset. Die Oasenstadt im Süden Algeriens ist für ihre vulkanische Gebirgslandschaft berühmt. Die raue Schönheit der bizarren Felsen passt zum hypnotischen Stil der Band: Beides wirkt wie nicht ganz von dieser Welt. »Tamotait« ist ihr fünftes Album, und der Titel bedeutet so viel wie »Hoffnung auf einen Wandel zum Besseren«. Dahinter steht die Hoffnung, dass sich die Lage im Norden Malis weiter beruhigt und die Musiker zurückkehren können. Dahinter steht aber auch der Traum vom eigenen Heimatland, den viele Tuareg bis heute hegen. Seit ihrem Debüt vor mehr als zehn Jahren sind Tamikrest ihren Themen treu geblieben. In Songs wie »Amzagh« und »As Sastnan Hidjan« sinnieren sie über die Zukunft ihres Volkes, das, über mehrere Länder der Sahara verstreut, zum Spielball lokaler Mächte geworden ist. Auch ihren Stil haben sie kaum verändert. Doch ist bei dem Song »Timtarin« mit der marokkanisch-französischen Songwriterin Hindi Zahra erstmals eine Gastsängerin dabei, und auf »Tabsit« flechten sie traditionelle japanische Instrumente wie die Shamisen und die Tonkori ein. Behutsam öffnen Tamikrest ihren Wüstenrock für Neues.
Tamikrest: Tamotait (Glitterbeat)
Samba aus dem Exil In Brasilien ist Seu Jorge ein Superstar, der es von der Straße nach ganz oben geschafft hat. Er wird dafür gefeiert, dass er den sozialkritischen Samba-Pop der 1970er Jahre fast im Alleingang erneuert hat. In Deutschland kennt man ihn vor allem als Schauspieler, durch seine Rollen in »City of God« und »Die Tiefseetaucher«. Seine portugiesischen Akustik-Versionen von David-Bowie-Klassikern machten ihn weltbekannt. Vor sieben Jahren zog er nach Los Angeles, von dort aus verfolgt er die politische Entwicklung in seinem Heimatland mit grimmigen Kommentaren. Rogê hat als Samba-König der Nachtclubs von Rio auch schon mehrere erfolgreiche Alben veröffentlicht. Im vergangenen Jahr ermunterte Seu Jorge seinen Freund, ihm mit seiner Familie nach Kalifornien zu folgen, um dem repressiven politischen Klima in Brasilien zu entfliehen. In Interviews äußerten beide deutliche Kritik am extrem rechten Präsidenten Jair Bolsonaro, der die Kulturszene in seinem Land gängelt. Ihr erstes gemeinsames Album ist eine Liebeserklärung an das andere Brasilien und den Samba von einst, ein melancholischer Abgesang. Auch wenn es nicht vordergründig politisch ist, so sendet es doch eine Botschaft: Die besten brasilianischen Alben entstehen im Ausland, im Quasi-Exil, wie einst zu Zeiten der Militärdiktatur.
Seu Jorge & Rogê: Night Dreamer Direct-To-DiscSessions (Night Dreamer / Bertus)