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Arbeitnehmerrechte verteidigenSüdkorea
Zweierlei Maß
Südkorea gilt als demokratisches Musterland. Aber wer für Arbeitnehmerrechte auf die Straße geht, riskiert hohe Haftstrafen. Von Felix Lill
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Fragt man Jang Ok-gi, wie er das Leben in der Demokratie findet, fällt die Antwort ernüchternd aus: »Wir erleben doch täglich die Ausläufer der Diktatur.« Jang ist 58 Jahre alt und hat das alte Südkorea noch als Heranwachsender miterlebt. Damals wurde das Land vom Militär Park Chung-hee regiert, freie Wahlen gab es nicht, und die Demokratisierung sollte erst ab 1987 beginnen, acht Jahre nach dem Tod des Diktators. Dennoch stellt Jang fest: »Eine wirkliche Demokratie haben wir bis heute nicht erreicht. Warum hätte ich sonst fünfmal ins Gefängnis gehen müssen?«
Als junger Arbeiter in einem Stahlwerk hatte er 1993 einen nicht genehmigten Streik für einen Tariflohn angezettelt und musste dafür mehrere Monate hinter Gitter. 2006 wurde Jang, der mittlerweile als LKW-Fahrer für Schüttgut arbeitete, erneut festgenommen und saß drei Monate im Gefängnis. Im darauffolgenden Jahr wurde er ein weiteres Mal verurteilt, wenngleich die Polizei ihn erst 2008 fassen konnte, weil er sich in Studentenräumen einer Seouler Universität versteckt hielt. Seine Haftzeit belief sich anschließend auf 15 Monate. In den Jahren 2015 und 2018 wurde der notorische Störenfried erneut wegen Teilnahme an Protestaktionen inhaftiert.
Spätestens seit Jang Ok-gi im April 2019 gegen eine Kaution von 100 Millionen Won (ca. 77.800 Euro) freigelassen wurde, gehört er zu den schillerndsten Gewerkschaftsaktivisten seines Landes. Kaum jemand war häufiger hinter Gittern, wohl niemand ist so uneinsichtig geblieben wie er. »Ich bin bereit für den nächsten Gang in den Knast«, sagt Jang und scheint das nur zum Teil für einen Scherz zu halten. Seit 2016 ist er Vorsitzender der Koreanischen Föderation der Bauarbeitergewerkschaften (KFCITU) und auf Kampf eingestellt: »Wir haben noch immer sehr viel vor uns. Dafür werden wir noch oft auf die Straße gehen müsssen.«
Weltweit machte Südkorea in den vergangenen Jahren als demokratischer Musterstaat immer wieder Schlagzeilen. Immerhin wurde hier 2016 dank öffentlicher Demonstrationen die in eine Korruptionsaffäre verwickelte Präsidentin Park Geun-hye zu Fall gebracht. 2017 kam der de facto-Chef von
Samsung, Lee Jae-yong, wegen Bestechung ins Gefängnis. Doch gleichzeitig werden in kaum einem anderen demokratischen Land häufiger Gewerkschafter inhaftiert.
Allein 2015 und 2016 kamen laut Angaben des Allgemeinen Gewerkschaftsbunds (KCTU) 56 Gewerkschafter für »Vergehen gegen die öffentliche Ordnung« in Haft, weil sie sich für Arbeitnehmerrechte eingesetzt hatten. Südkoreas Verfassung garantiert zwar ausdrücklich das Recht auf Versammlungsfreiheit. Doch selbst genehmigte Demonstrationen enden nicht selten mit Festnahmen. Und während Konzernchefs in der Regel schnell wieder freigelassen oder begnadigt werden, müssen Gewerkschafter ihre langen Strafen verbüßen.
Bei Samsung, der größten Konzerngruppe des Landes, gab es bereits mehrfach Beispiele für eine bevorzugte Behandlung. So wurde der 2017 verhaftete Lee Jae-yong trotz einer fünfjährigen Gefängnisstrafe bereits nach einem Jahr wieder freigelassen. 2010 war bereits sein Vater, der damalige Samsung-Chef Lee Kun-hee, nach eineinhalb Jahren begnadigt worden, obwohl er wegen Steuerhinterziehung in dreistelliger Millionenhöhe eigentlich drei Jahre im Gefängnis hätte verbringen sollen.
Dagegen wurde der KCTU-Vorsitzende Han Sang-gyun 2016 zu drei Jahren Haft verurteilt, nachdem es auf einer von ihm organisierten Massenkundgebung für Arbeitnehmerrechte zu Ausschreitungen gekommen war. Nach zwei Jahren wurde er wieder freigelassen. Sein Kollege Jang Ok-gi von der Bauarbeitergewerkschaft ging zuletzt ins Gefängnis wegen eines Protestmarschs im November 2017, bei dem höhere Renten für nicht angestellte Bauarbeiter gefordert wurden. Dabei war es zu einem Polizeieinsatz gekommen, als Tausende Demonstrierende während der Hauptverkehrszeit eine Brücke blockierten. Als Organisator der Demonstration wurde Jang dafür verantwortlich gemacht und zu 18 Monaten Haft verurteilt. Verbüßen musste er zwölf Monate.
Die Liste der Fälle, in denen die Bestrafung in einem krassen Missverhältnis zum Vergehen steht, ließe sich fortführen. Der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Versammlungsfreiheit, Maina Kiai, erklärte nach einem Besuch Südkoreas 2016, die Gefängnisstrafen für die Störung der öffentlichen Ordnung würden als Mittel eingesetzt, um öffentliche Proteste zu kriminalisieren. Besonders betroffen seien Demonstranten, die sich in Gewerkschaften engagieren.
Die Unterdrückung von Gewerkschaften durch die Unternehmen und die Justiz hat in Südkorea eine lange Tradition. Das liegt auch am kommunistischen Bruderstaat im Norden. Seit dem Koreakrieg von 1950 bis 1953, einem Stellvertreterkrieg zwischen den USA und der Sowjetunion, sahen sich viele Bürgerinnen und Bürger im streng marktwirtschaftlich organisierten Süden von Nordkorea bedroht. Konservative Politiker und Unternehmer instrumentalisierten dieses Gefühl und verunglimpften den Einsatz für Arbeitnehmerrechte als kommunistiFoto: Kim Hong-Ji/Reuters
Erfolge sind selten. Das könnte sich bald ändern.
sche Gefahr. So tönte der 1987 verstorbene Gründer von Samsung Lee Byung-chul zu Lebzeiten, er werde Gewerkschaften »nur über seine Leiche« dulden.
Vor allem in der mächtigen Samsung-Gruppe, deren rund 70 Betriebe etwa ein Fünftel des südkoreanischen Bruttosozialprodukts erwirtschaften, ist diese Einstellung weit verbreitet. Mehrfach wurde bekannt, dass das Management der Betriebe schwarze Listen führt, auf denen gewerkschaftlich aktive Mit - arbeiter verzeichnet sind. Beschäftigte, die kurz nach der Jahrtausendwende eine Arbeitervertretung ins Leben riefen, wurden gefeuert und später wegen Protesten inhaftiert.
Weil solche Praktiken aber nicht nur bei Samsung üblich sind, steht Südkorea im Rechtsindex des Internationalen Gewerkschaftsbunds (ITUC) gemeinsam mit China, Kasachstan und Saudi-Arabien auf der zweitschlechtesten Stufe. Eine ITUCUmfrage ergab 2017, dass sich 70 Prozent der Südkoreaner Sorgen machten über schwache und zunehmend schwächer werdende Arbeitnehmerrechte.
Zumal ein Drittel der Arbeitskräfte im Land nicht regulär beschäftigt ist. Prekär Beschäftigte haben weder Anspruch auf Kündigungsschutz noch auf Sozialleistungen, und ihre Löhne sind im Schnitt 45 Prozent niedriger als die der Angestellten. So liegt der Anteil von Menschen, die in relativer Armut leben, bei 17,4 Prozent. Die Altersarmutsquote liegt sogar bei 44 Prozent und ist damit höher als in jedem anderen Industriestaat.
Südkoreas Arbeiter haben daher viele Gründe für Proteste, ihre Erfolge sind jedoch bescheiden, klagt Jang Ok-gi: »Wir fordern seit Jahren, dass unsere Leute eine bessere Absicherung bekommen, dass sie fest angestellt werden, dass die Arbeitgeber für sie in die Pensionskasse einzahlen. Aber stattdessen zeigen sie uns an, wenn wir uns über all diese Mängel beschweren.« Und dann drohe wieder der Gang ins Gefängnis.
Doch die gewerkschaftsfeindlichen Zeiten könnten sich ändern. Ende 2019 verurteilte ein Bezirksgericht in Seoul sieben Samsung-Manager, weil sie ihre Mitarbeiter jahrelang systematisch daran gehindert hatten, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Einige von ihnen hatten Angestellte nicht nur dazu gedrängt, ihr gewerkschaftliches Engagement zu beenden, sondern hatten auch Informationen über sie gesammelt, um diese gegen sie verwenden zu können. Selbst mit Sicherheitskräften wurde gegen Mitarbeiter vorgegangen.
Der Politikprofessor Park Sang-in von der renommierten Seoul National University sieht Anzeichen für einen Wandel. »Südkoreas Justizsystem hat bisher bei Regelverstößen von Unternehmen nur milde Strafen verhängt.« Mit dieser relativ sanften Behandlung könnte nach diesem Urteil Schluss sein. Auch die Gewerkschaften könnten dann endlich aufatmen und die Rechte in Anspruch nehmen, die ihnen laut Verfassung längst zustehen.
Anführerin, Kämpferin
Bei der Revolution im Sudan waren Frauen in vorderster Reihe dabei. Alaa Salah setzt sich dafür ein, dass sie auch in der Regierung ihren Platz finden. Von Hannah El-Hitami
Als die ersten Demonstrationen im Sudan Ende 2018 begannen, war Alaa Salah eine normale Architekturstudentin in Khartum. Als im April 2019 der langjährige Diktator Omar al-Baschir zurücktrat, war sie zur Ikone der Revolution geworden. Grund war ein Foto, das um die Welt ging: Es zeigt Alaa Salah, die mit großen goldenen Ohrringen und weißem Gewand auf dem Dach eines Autos steht und die Massen vor ihr anfeuert. Sie rezitiert mit lauter Stimme ein Gedicht. »Wir werden nicht schweigen im Angesicht des Tyrannen«, heißt es darin, Tausende Stimmen antworten mit »Thawra!« – arabisch für Revolution.
Das Bild verkörpert die starke Präsenz von Frauen in der sudanesischen Revolution. Als »Kandake« wurde Salah bezeichnet, so hießen nubische Königinnen im vorchristlichen Reich Kusch, das dort lag, wo heute der Sudan ist. »Kandake« waren Anführerinnen und Kämpferinnen.
Auch in Salahs Erinnerungen an die Revolutionstage spielen Frauen die Hauptrolle. Immerhin war ihre Rolle in Sudans Gesellschaft bis dahin von Gesetzen geprägt, die sie aus dem öffentlichen Raum verdrängten und ihre Freiheit beschnitten. »Als es auf einer der Demos gefährlich wurde, riefen die Männer: ›Alle Frauen sollen nach hinten gehen!‹«, erzählt Salah bei einem Besuch in Berlin im Februar. »Wir aber sagten: Nein, die Frauen stehen ganz vorne! Wenn etwas passiert, dann passiert es uns allen. Wir sind schließlich gemeinsam losgegangen.« Die 23-jährige Studentin redet schnell, als wolle sie alle Erfahrungen und Erinnerungen der Revolution in kürzester Zeit an so viele Menschen wie möglich weitergeben. »Es gibt nichts Wichtigeres als Frauenrechte«, glaubt Salah. Sie gehörten zu den grundlegendsten Faktoren für einen Wandel, auch wenn sie immer nach hinten geschoben würden – so
wie auch jetzt im Sudan. Zwar hat sich die Lage der Frauen seit der Revolution verbessert. Im November wurde das sogenannte Gesetz zur öffentlichen Ordnung abgeschafft, das Verhalten und Bekleidung von Frauen in der Öffentlichkeit strikt regelte, bei Verstößen drohten Peitschenhiebe. Aber in der Übergangsregierung von Premierminister Abdallah Hamdok gibt es nur vier Ministerinnen – das entspricht nur einem Fünftel des Kabinetts. Als über die Regierung verhandelt wurde, forderten Frauenrechtsorganisationen, dass 50 Prozent der Positionen von Frauen besetzt werden, jedoch ohne Erfolg.
Salah will das ändern, darum engagiert sie sich bei Mansam. Diese Allianz der zivilgesellschaftlichen und politischen Frauengruppen Sudans kämpft für politische und gesellschaftliche Rechte von Frauen. »Wenn Frauenrechte durchgesetzt werden, hat das einen positiven Einfluss auf die Gesellschaft«, glaubt Salah. Sie hat sich in ihre Rolle als Botschafterin des Wandels im Sudan eingefunden. Im Oktober sprach sie sogar als Vertreterin der sudanesischen Zivilgesellschaft vor dem UN-Sicherheitsrat.
Dort betonte sie, wie wichtig es sei, die Verantwortlichen des alten Regimes zur Rechenschaft zu ziehen. Gegen Al-Baschir, der das Land nach einem Militärputsch 30 Jahre lang repressiv regierte, wurde schon 2009 ein internationaler Haftbefehl verhängt. Ihm werden Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit während des Krieges in Darfur vorgeworfen. Nun kommt noch die Gewalt gegen Demonstrierende hinzu. Dafür müsse er vor den Internationalen Strafgerichtshof gestellt werden, fordert Salah. Ob das passieren wird oder er vor ein nationales Gericht gestellt wird, diskutiert die neue Führung im Sudan derzeit. Bis dahin bleibt der Ex-Diktator in Khartum inhaftiert.
Mörder von Ján Kuciak verurteilt
Der ehemalige Soldat Miroslav Marček ist im April wegen des Mordes an dem Journalisten Ján Kuciak und seiner Verlobten Martina Kušnírová zu 23 Jahren Haft verurteilt worden. Das junge Paar war im Februar 2018 im westslowakischen Dorf Veľká Mača erschossen worden. Kuciak hatte Verbindungen zwischen Politik und organisierter Kriminalität aufgedeckt. Der Mord löste landesweite Proteste aus und führte zum Sturz der Regierung. Miroslav Marček hatte seine Tat gestanden. Außer ihm sind drei weitere Verdächtige angeklagt, darunter ein slowakischer Geschäftsmann, der den Mord in Auftrag gegeben haben soll. (»Im Osten Europas regiert die Angst«, Amnesty Journal 12/2018)
Verschärfte Überwachung wegen Corona
Im Zuge der Corona-Epidemie hat China die Überwachung seiner Bürger ausgeweitet. Technologien, die für das sogenannte Sozialkreditsystem eingeführt wurden und die soziale Ordnung herstellen sollen, werden nun auch zur Eindämmung des Virus genutzt – etwa Gesichtserkennungssoftware. Außerdem soll eine Gesundheitsapp, die bereits in weiten Teilen des Landes zum Einsatz kommt, die Wahrscheinlichkeit einer Infektion berechnen. Der Nutzer gibt seinen Gesundheitszustand, seinen Wohnort und seine Aufenthaltsorte ein und bekommt eine Skala von grün bis rot angezeigt. Anhand der App-Auswertung wird entschieden, ob sich die Person frei bewegen kann oder ob sie sich in häusliche Quarantäne oder medizinische Isolation begeben muss. Welche weiteren Daten außerdem in die Auswertung einfließen und wie genau die App Bewegungen des Nutzers nachvollziehen kann, ist unklar. An einigen Orten muss die Gesundheitsapp verpflichtend vorgezeigt werden – etwa bei Fahrten im Nahverkehr. Aus menschenrechtlicher Sicht ist die Totalüberwachung in China schon lange kritikwürdig. (»Der dressierte Mensch«, Amnesty Journal, 03/2019)
Auch Infrarot-Detektorbrillen kommen zum Einsatz. Selfie-Shooting in Hangzhou, China.
Stockende Friedensverhandlungen in Afghanistan
Die USA und die Taliban haben Ende Februar ein Abkommen unterzeichnet. Es sieht einen schrittweisen Abzug der US-Truppen und ihrer Verbündeten aus Afghanistan vor. Im Gegenzug versprachen die Taliban, Friedensgespräche mit der afghanischen Regierung zu führen und die Zusammenarbeit mit islamistischen Terrorgruppen zu beenden. Die Aufnahme der innerafghanischen Friedensgespräche verzögert sich jedoch immer weiter. Viele Frauen befürchten, dass die Freiheiten, die sie sich seit dem Sturz der Taliban 2001 erkämpft haben, auf dem Spiel stehen, wenn die Taliban wieder an Macht gewinnen. Außerdem kritisieren sie, dass keine Beteiligung von Frauen an den Friedensgesprächen vor - gesehen ist. (»Rückkehr in Schulden und Scham«, Amnesty Journal 04/2019)