9 minute read
Abtreibung in den USA: Zeitenwechsel
Zeitenwechsel
Schwangerschaftsabbrüche sind in konservativ regierten US-Bundesstaaten nicht mehr erlaubt. Das zwingt betroffene Frauen, in weniger restriktive Staaten zu reisen. Hoffnung macht Aktivist*innen, dass gemäßigte Konservative sich vermehrt gegen ein absolutes Verbot stellen. Aus Oakland Arndt Peltner
Advertisement
Für Frauenrechte auf der Straße: Eine Amnesty-Aktivistin protestiert vor dem Supreme Court in Washington D.C. gegen die Abschaffung des Rechts auf Abtreibung.
Ich habe seit 20 Jahren damit gerechnet. Aber als Donald Trump gewählt wurde, war mir klar: Das war ’s. Ich habe meinem Mann damals gesagt, das Grundsatzurteil ›Roe gegen Wade‹ ist durch, denn das war seit Langem der Plan.« Das sagt Tarah Demant, die derzeit bei Amnesty International in den USA für nationale Programme zuständig ist.
Auch Bergen Cooper von Fòs Feminista, einer internationalen Allianz für das Grundrecht auf Abtreibung, war nicht überrascht, als der Oberste Gerichtshof im Juni 2022 »Roe gegen Wade« als allgemeines Grundrecht in allen 50 Bundesstaaten ersatzlos strich. »Ich habe es zwar kommen sehen, dennoch hat mich die Entscheidung persönlich verletzt. Wir, die wir schon lange für das Abtreibungsrecht kämpfen, konnten in den vergangenen 40 Jahren ganz deutlich verfolgen, wie Gesetzgeber in verschiedenen Bundesstaaten an diesem Grundsatzurteil rüttelten.«
Fast 50 Jahre galt Abtreibung als Teil der Privatsphäre
Gefällt hatte der Supreme Court das Urteil am 22. Januar 1973. Hintergrund war der Fall von Norma McCorvey, die in den Gerichtsunterlagen nur als Jane Roe geführt wurde. Sie war 1969 zum dritten Mal schwanger geworden und wollte die Schwangerschaft beenden. Doch in Texas, wo sie lebte, war eine Abtreibung nur bei Gefahr für das Leben der Mutter möglich. McCorvey schaltete zwei Anwältinnen ein, die Klage gegen den Bezirksstaatsanwalt Henry Wade einreichten. Nachdem »Jane Roe« vor dem Distriktgericht für das nördliche Texas gewonnen hatte, ging die Staatsanwaltschaft in die Revision, und der Fall landete schließlich beim Supreme Court. Mit sieben zu zwei Stimmen entschieden die Richter, dass der 14. Verfassungszusatz das Recht auf Privatsphäre garantiere und dass hierunter auch der – zeitlich begrenzte – Schwangerschaftsabbruch einer Frau falle. Interessanterweise votierten damals fünf Richter, die von republikanischen Präsidenten ein gesetzt worden waren, für das Recht auf Abtreibung.
Fast 50 Jahre lang war »Roe gegen Wade« gültig, wurde jedoch von Teilen der Bevölkerung nie akzeptiert. Ende der 1970er Jahre gewannen evangelikale Gruppen wie die American Family Association Einfluss auf die republikanische Partei. Die christlichen Fundamentalis t*in nen verlangten, das Recht auf Schwangerschaftsabbruch müsse ersatzlos und ohne Ausnahmen gestrichen werden. »Seit 1973 wurden unzählige Gesetze in den verschiedenen Bundesstaaten verabschiedet, die das Recht auf Abtreibung einschränkten«, erklärt Amnesty-Expertin Demant. Gerade für ärmere Frauen in ländlichen Gegenden und für Mädchen wurde der Zugang begrenzt. »Schon vor dem Ende von Roe wurde das Recht auf Abtreibung nicht überall in den USA gleich ausgelegt.« Frauen, deren Krankenversicherung aus Bundesmitteln finanziert wird, da run ter Veteraninnen, Native Americans und Alaska Natives, aber auch Schwangere, die über die staatliche Basiskrankenversicherung Medicaid versichert sind, bekamen Abtreibungen nicht erstattet. Medicaid übernimmt die Kosten einer Abtreibung zum Beispiel nur im Fall von Inzest, Vergewaltigung oder Gefahr für das Leben der Frau. Allerdings haben 16 demokratisch regierte Bundesstaaten diese Vorgaben seit Langem ausgehebelt und finanzieren den betroffenen Frauen einen Abbruch auch ohne diese Gründe.
Je mehr die Evangelikalen an Einfluss in der republikanischen Partei gewannen, desto wichtiger wurde das Thema Abtreibung in der US-Politik. In allen Wahlkämpfen mussten Kandidatinnen wie Kandidaten die Frage nach ihrer Einstellung zum Schwangerschaftsabbruch beantworten. Republikaner*innen, die anfangs noch das Grundsatzurteil »Roe gegen Wade« unterstützt hatten, sahen sich nun als Teil einer »Pro Life«-Partei, die den Kampf um das ungeborene Leben an vorderste Stelle rückte. Abtreibung wurde zu einem hochpolitischen Thema. Und das, obwohl sich in Umfragen immer wieder gut 70 Prozent der Bevölkerung für die Möglichkeit eines legalen Abbruchs aussprechen. »Auf lokaler und bundesstaatlicher Ebene wurden Leute in Positionen gewählt, die die Grenzen der Wahlbezirke neu zogen. Das führte zu Wahlergebnissen mit konservativen Mehrheiten, die nicht die eigentlichen politischen Verhältnisse in den Bundesstaaten widerspiegelten«, erläutert Tarah Demant von Amnesty. Oftmals wurde in der Folge auch der Zugang zu Verhütungsmitteln eingeschränkt.
Diskussion über Reiseverbote für Schwangere
Nach dem Urteil des Supreme Court im Juni 2022 setzten 13 Bundesstaaten umgehend sogenannte Trigger Laws in Kraft. Diese Gesetze waren bereits vorab verabschiedet worden für den Fall, dass »Roe gegen Wade« abgeschafft würde, und verboten Abtreibungen. Der Oberste Gerichtshof hatte mit seinem Urteil Abtreibungen nämlich nicht generell ver -
Tarah Demant, Amnesty USA
boten, sondern vielmehr den einzelnen Bundesstaaten die Entscheidung überlassen. Nun gibt es also in den USA einen Flickenteppich in Sachen Abtreibung: Der Großteil der republikanisch regierten Bundesstaaten verbietet Schwangerschaftsabbrüche, zum Teil sogar bei Inzest oder Vergewaltigung. Demokratisch regierte Staaten bereiten sich hingegen darauf vor, dass betroffene Frauen aus einem Bundesstaat mit Abtreibungsverbot zu ihnen kommen werden. Kalifornien und New York haben bereits öffentliche Mittel für Reise- und Behandlungskosten bereitgestellt.
Abtreibungsgegner*innen sehen sich durch das Urteil bestätigt und werden nun ein generelles Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen in den gesamten USA fordern, befürchtet Tarah Demant von Amnesty. In einzelnen Bundesstaaten wird sogar über Reiseverbote für schwangere Frauen diskutiert. Außerdem blickt Demant mit Sorge auf weitere Urteile des Obersten Gerichtshofs, die im kommenden Jahr erwartet werden: »Die Fälle, die auf der Agenda stehen, lassen das Schlimmste befürchten. Es handelt sich um Klagen gegen gleichgeschlechtliche Ehen oder den Zugang zu Verhütungsmitteln. Auch der Fall ›Lawrence gegen Texas‹, in dem es um das Verbot von Analverkehr geht, soll verhandelt werden.« Immer mehr konservative Bundesstaaten führen zudem Gesetze ein, die sich gegen die Rechte der LGBTI+-Community richten – stets mit der Begründung, dass diese nicht ausdrücklich in der Verfassung erwähnt seien.
Doch Tarah Demant will sich trotz allem nicht geschlagen geben: »Ich bin entschlossen zu kämpfen. Genau das ist unser Job.« Hoffnung bereitet ihr das Ergebnis eines Referendums im konservativen Kansas Anfang August: 59 Prozent der Wählerinnen und Wähler stimmten gegen ein striktes Abtreibungsverbot in ihrem Bundesstaat. Und inzwischen stellen sich auch vermehrt gemäßigte Republikaner*innen gegen die drastischen Forderungen ihrer Partei. ◆
DENKERIN FRAGEN: ANTJE MONSHAUSEN
Ist es okay, in Länder zu reisen, in denen die Menschenrechte missachtet werden?
Wir müssen uns bewusst machen, dass Herrscher autokratischer Länder von Reisegästen profitieren – sei es direkt, weil sie selbst im Besitz touristischer Einrichtungen sind, sei es durch Visagebühren, Steuern oder dadurch, dass der Tourismus ein positives Image in die Welt sendet. Tourismus ist ein wirtschaftlicher und politischer Stabilisator. Andererseits bietet eine Reise aber auch die Möglichkeit, die Aufmerksamkeit auf ein Land zu lenken, sich ein Bild von der Lage vor Ort zu machen oder in Kontakt mit Menschen zu kommen, die unter der Situation dort leiden. Im Tourismus liegt also auch das Potenzial, etwas zum Besseren zu wenden.
Welche Verantwortung haben die Reisenden selbst?
Es kommt darauf an, wie bewusst und sensibel man unterwegs ist, ob man sich zum Komplizen eines Regimes macht oder die Reise vielleicht sogar positive Impulse setzt. Grundsätzlich finde ich: Für wen Sonne, Sand und Meer die wichtigsten Urlaubskriterien sind, der findet auch Länder, in denen die Menschenrechte geachtet werden. Wer in Länder mit problematischer Menschenrechtslage reist, sollte sich hingegen gut vorbereiten.
Kann ich sicherstellen, dass das Personal, das mir einen schönen Aufenthalt bereitet, nicht ausgebeutet wird?
Problematische Arbeitsbedingungen sind im Tourismus allgegenwärtig. Das reicht von massenhaft unbezahlten Überstunden über schwere körperliche Arbeit und vorenthaltene Ruhephasen bis hin zu schlechter Unterbringung des Personals. Zudem arbeiten im Tourismus viele Migrant*innen. Menschenhandel und damit auch moderne Sklaverei sind ein reales Risiko. Als Tourist*in sollte man aufmerksam sein und Missstände seinem Reiseveranstalter melden.
In Tansania sollen 70.000 Massai von ihrem Weideland vertrieben werden, um Safaritourismus und Trophäenjagd Platz zu machen. Bei deutschen
Reiseanbietern ist derzeit Saudi-Arabien angesagt – trotz der Missachtung von Frauenrechten oder mangelnder
Meinungsfreiheit. Lassen sich die
Unternehmen in die Pflicht nehmen?
Grundsätzlich haben alle deutschen Reiseveranstalter eine Verantwortung im Sinne der UN-Leitlinien für Wirtschaft und Menschenrechte. Das deutsche Lieferketten-Sorgfaltspflichtengesetz fordert ab 2023 von Unternehmen, Menschenrechtsstrategien zu entwickeln, ihre Lieferkette zu überprüfen und bei Missständen für Abhilfe zu sorgen. Es gilt aber nur für große Unternehmen. Von 3.000 deutschen Reiseveranstaltern ist weniger als eine Handvoll überhaupt erfasst – wir bewegen uns hier im Promillebereich!
Interview: Uta von Schrenk Antje Monshausen leitet die Fachstelle Tourism Watch bei Brot für die Welt, die sich für einen sozial gerechten Tourismus in Ländern des globalen Südens einsetzt.
www.tourism-watch.de
BESSER MACHEN: SHOPPEN BEI AMNESTY
Vieles muss man besser machen, manches kann man aber auch einfach nur nutzen: den Amnesty-Shop zum Beispiel. Alle Partner*innen, deren Produkte der Online-Shop anbietet, müssen die Menschenrechte, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und in den internationalen Menschenrechtsverträgen verankert sind, achten und schützen. Der Shop bietet ausschließlich Produkte aus möglichst nachhaltiger und fairer Produktion, mit ausführlichen Informationen sowie umweltfreundlicher Verpackung und Versandart.
Die Hersteller*innen müssen die Arbeitnehmer*innenrechte gemäß den Standards der Internationalen Arbeits organisation (ILO) garantieren und den
Umweltschutz wahren. Denn Umweltzerstörung und Klimakrise verursachen auch Menschenrechtsverletzungen. Und unser Konsumverhalten beeinflusst aufgrund globaler Produktionsprozesse und Lieferketten nicht nur die wirtschaftliche und soziale Situation von Menschen, sondern auch den Zustand der Umwelt.
Wer also noch keine Geschenkideen für Weihnachten hat, sollte sich mal im Amnesty-Shop umsehen. Jeder Einkauf ist nicht nur ein Statement für die Menschenrechte, sondern unterstützt Amnesty auch im Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen weltweit.
Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), Walk Free und der Internationalen Organisation für Migration zufolge lebten im Jahr 2021 rund 50 Millionen Menschen in Formen moderner Sklaverei. Davon waren knapp 28 Millionen Menschen in Zwangsarbeit und 22 Millionen in Zwangsehen gefangen. Die Zahl der Betroffenen ist in den vergangenen fünf Jahren signifikant gestiegen.
2016
2022
Zwangsehen: 15,4 Mio. Zwangsarbeit: 24,9 Mio.
Gesamt: 40,3 Millionen
Gesamt: 49,6 Millionen
Zwangsehen: 22,0 Mio. Zwangsarbeit: 27,6 Mio.
Quelle: ILO 2022
DER FOTOBEWEIS: LANDRAUB AM AMAZONAS
Foto: Victor Moriyama/The New York Times/Redux/laif Die brasilianische Regierung soll den Lebensraum der Yanomami schützen, einer indigenen Gemeinschaft im Amazonasgebiet. Rund 40.000 Yanomami leben dort auf über 97.000 Quadratkilometern. Dennoch arbeiten in dem Gebiet Schätzungen zufolge rund 30.000 Bergleute illegal. In den vergangenen Jahren ist ihre Zahl sprunghaft gestiegen. Die Konsequenzen für die Yanomami sind drastisch: Ihr Lebensraum wird durch Entwaldung und Verseuchung der Gewässer zerstört. Eine Studie der NGO Hutukara belegt Folgen wie Unterernährung und Malaria-Erkrankungen durch die Verbreitung von Moskitos in den Tagebaugebieten. Das Foto zeigt eine illegale Lande bahn für Flugzeuge, die Bergleute versorgen. Journalist*innen konnten mit Satellitenbildern mehr als 1.200 nicht registrierte Landebahnen im brasilianischen Amazonasgebiet nachweisen, 61 davon im Gebiet der Yanomami.
FREIHEIT FÜR HAYRIGUL NIYAZ!
Über eine Million Uigur*innen haben die chinesischen Behörden in der Region Xinjiang willkürlich inhaftiert. Zu ihnen gehört auch die 35-jährige Hayrigul Niyaz. Sie hat keinen Zugang zu einem Rechtsbeistand ihrer Wahl oder Kontakt zu ihrer Familie. Beteilige dich an unserer Online-Aktion an die chinesische Botschaft, fordere, dass Hayrigul sowie alle anderen Personen, die unrechtmäßig in Xinjiang inhaftiert sind, freigelassen werden.